13. Februar 2018

"Unsicherheit über viele Jahre"

Frau Borer, Sie kämpfen mit Ihrer Initiative vor allem gegen den Lehrplan 21. Was stört Sie daran?
Anita Borer: Das ist nicht richtig. Mit unserer Initiative wollen wir dem Volk mehr Mitsprache ermöglichen. Wir wollen, dass nicht mehr der Bildungsrat den Lehrplan abschliessend bestimmt, sondern der Kantonsrat und mittels Referendum das Volk. Unter den Initianten gibt es natürlich auch Personen, die gegen den Lehrplan 21 sind.
Anita Borer kreuzt mit EDK-Präsidentin Silvia Steiner die Klingen. Bild: Raisa Durandi
Wie viel Demokratie braucht die Schule? Tages Anzeiger, 13.2. von Daniel Scheebeli


Für Sie persönlich ist dieser Lehrplan also in Ordnung?
Borer: Ich bin nicht Lehrerin und kann kein abschliessendes Urteil fällen. Der neue Lehrplan ist aber in verschiedenen Kreisen höchst umstritten. Gerade deshalb müssen die Betroffenen an der Basis über die Einführung dieses Lehrplans mitentscheiden. Vernehmlassungen wurden zwar durchgeführt, aber ohne grosse Anpassungsmöglichkeiten.

Was können Sie als Demokratin gegen eine «Demokratisierung der Volksschule» haben, Frau Steiner?
Silvia Steiner: Die Volksschule ist schon demokratisiert. Der Lehrplan wird nach demokratischen Grundsätzen erarbeitet. Der Bildungsrat, dem auch Lehrerinnen und Lehrer angehören, hat bei der Erarbeitung alle angehört, die mit dem Lehrplan etwas zu tun haben. Der Bildungsrat selber ist auch demokratisch legitimiert. Er wurde vom Kantonsrat gewählt. Ausserdem haben wir für den Lehrplan eine breite Vernehmlassung durchgeführt.

Borer: Dieser Lehrplan wurde von der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) erarbeitet, obwohl die Hoheit über die Volksschulbildung bei jedem einzelnen Kanton liegt. Der bestehende Zürcher Lehrplan wurde mit diesem EDK-Lehrplan auf den Kopf gestellt. Im Kanton Zürich konnten wir darüber zu spät diskutieren. Das sorgte für Unruhe.

Stimmt das, Frau Steiner?
Steiner: Nein. Das Zürcher Volk hat den Behörden mit dem Beitritt zum Harmos-Konkordat den Auftrag erteilt, die Lernziele in der Volksschule mit den Lernzielen der anderen Kantone zu harmonisieren. Genau diesen Auftrag haben wir mit dem Lehrplan 21 erfüllt.

Borer: Gegen die Harmonisierung der Lernziele habe ich nichts. Ich finde es zum Beispiel sinnvoll, wenn die Primarschule in allen Kantonen sechs Jahre dauert. Es ist allerdings kein völlig neuartiger Lehrplan mit Kompetenzen statt Lernzielen verlangt. Die Harmonisierung hätte subtiler geschehen können.

Wie hätte denn die Harmonisierung der Lehrpläne in Ihren Augen konkret erfolgen müssen?
Borer: Man hätte für die einzelnen Fächer Leitplanken vorgeben können und nicht schon einen fertigen Lehrplan mit Hunderten von Seiten und mehreren Tausend Kompetenzzielen, die dem Kanton kaum mehr Spielraum für Anpassungen geben.

Steiner: Die Welt wird nicht neu erfunden mit diesem Lehrplan. Er bildet die Entwicklung ab, die bereits heute in den Schulen passiert. Er nennt die Herausforderungen der modernen Gesellschaft. Der Lehrplan gibt genau jene Leitplanken vor, die sich Frau Borer wünscht. Er legt fest, was die Schülerinnen und Schüler bis zu einem gewissen Zeitpunkt können müssen. Zum Beispiel müssen sich die Kinder am Ende der zweiten Klasse im Zahlenraum bis 100 zurechtfinden. Die Frage, wie die Ziele zu erreichen sind, spielt keine Rolle im Lehrplan. Für die Lehrpersonen bleibt die Wahl der Methode vollkommen frei.

Gibts keine Unruhe, wie Frau Borer sagt?
Steiner: Am Ende des Lehrplanprozesses ging es darum, eine Stundentafel zu erstellen, welche festlegt, wie viele Lektionen in welchem Fach unterrichtet werden sollen. Da die Bedürfnisse unterschiedlich waren, gab es Diskussionen, und der Lehrerverband hat gedroht, nicht mehr mitzuarbeiten. Ich habe dann ein Gespräch mit den Verantwortlichen geführt, und der Bildungsrat hat alle Betroffenen nochmals aufgefordert, ihre Meinung abzugeben, darunter sämtliche Lehrerverbände. Ich gebe zu, das war ein hartes Ringen. Dafür haben wir heute eine Lösung, die demokratisch zustande gekommen ist und zu der alle stehen.

Borer: Die Stundentafel macht den Lehrplan noch nicht aus. Es besteht ein Bedürfnis, den Lehrplan als Grundlage unserer Schule breit und damit öffentlich zu diskutieren. Wenn das nicht möglich ist, diskutieren wir im Kantonsrat am Ende über einzelne Fächer, die dann im Gesetz zementiert werden. Das finde ich falsch und systemfremd.

Wird die Initiative angenommen, müsste der Lehrplan 21 dem Kantonsrat vorgelegt werden. Was würden Sie tun, Frau Steiner, wenn dieser ihn ablehnen würde?
Steiner: Wir müssten zurück auf Feld eins. Dort standen wir vor etwa neun Jahren. Nach der Rückweisung müssten wir als Erstes analysieren, was dem Kantonsrat am Lehrplan nicht gepasst hat.

Frau Borer, können Sie Frau Steiner etwas helfen, was sie an diesem Lehrplan ändern sollte?
Borer: Sie müsste an den Kritikpunkten ansetzen, die im Kantonsrat geäussert wurden.

Steiner: Ich bräuchte aber einen klaren Auftrag. Ich habe noch nie konkret gehört, was an diesem Lehrplan nicht recht ist. Nennen Sie doch bitte einmal ein Beispiel, was anders sein sollte.

Borer: Die Kritikpunkte sind zahlreich und wurden bereits mehrfach genannt.

Steiner: Ich hätte gerne einmal einen konkreten Verbesserungsvorschlag.

Borer: Kritisiert wird zum Beispiel, dass er auf schwammigen Kompetenzen statt konkreten Lernzielen aufgebaut sei. Auch wird mit diesem Lehrplan unterschwellig die vom Volk abgelehnte Grundstufe eingeführt. Die Lehrer und andere Beteiligte an der Front müssen den Lehrplan umsetzen und dessen Folgen tragen, darum sollten sie bei dessen Erarbeitung mehr mitreden können.

Steiner: Die waren aber in den Prozess eingebunden und befürworten diesen Lehrplan.
Borer: Aber ein Grossteil der Direkt­betroffenen an der Basis nicht.

Wer denn nicht?
Borer: Zum Beispiel die Kinderärzte. Die Verbandsvertreter bilden nicht die ganze Basis der Lehrerschaft ab.

Steiner: Wir haben nicht nur Verbandsvertreter eingeladen, es konnten sich auch Lehrpersonen ohne offizielle Funktion äussern.

Sie als Sprecherin der Initianten müssten den Stimmbürgern sagen können, wie eine Alternative zum Lehrplan 21 aussehen müsste.
Borer: Das entscheide ich nicht allein. Ich hätte gerne wieder Lernziele statt Kompetenzen. Der heutige Lehrplan hat klare, gute Ziele. Die Kompetenzen im Lehrplan 21 sind praxisuntauglich.

Sie würden beim alten Lehrplan bleiben?
Borer: Nicht unbedingt. Aber man hätte den neuen Lehrplan auf dem alten aufbauen können.

Steiner: Die Lernziele wurden einfach anders formuliert, eben als Kompetenzen. Dabei wird nicht nur festgelegt, was im Unterricht durchgenommen wird, sondern was die Kinder und Jugendlichen wissen und können sollen.

Sie kritisieren auch die Kosten, die der Lehrplan verursacht. Ist Ihnen der Lehrplan 21 einfach zu teuer?
Borer: Ja, er ist zu teuer, vor allem für die Gemeinden, die den Grossteil der Kosten tragen müssen.

Steiner: Diese Kritik kann ich nicht verstehen. Es ist doch für die Schule absolut zentral, dass sich Lehrerinnen und Lehrer weiterbilden und dass sie zum Beispiel mit modernen Unterrichtsmitteln arbeiten können. Das passiert auch völlig unabhängig von der Einführung des neuen Lehrplans.

Was verändert dieser Lehrplan effektiv in der Schule?
Steiner: Eigentlich nichts Grundlegendes. Die Schülerinnen und Schüler werden die Umstellung kaum merken. Wir gehen den Weg zur bestmöglichen Förderung jedes einzelnen Kindes schon lange. Die bisherigen Lernziele wurden überführt in diesen Lehrplan, und es gibt neue Akzente wie Medien und Informatik.

Borer: Man kann nicht sagen, dass sich nichts ändert. Die Erarbeitung neuer Lehrmittel und die bei den Gemeinden eingestellten Budgetposten zeigen dies.

Steiner: Selbstverständlich gibt es neue Lehrmittel. Wir schaffen dauernd neue Lehrmittel. Wir müssen sie der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen. Ein heutiges Lehrmittel muss den Lehrerinnen und Lehrern zum Beispiel die Vermittlung des Fachs mit IT-Unterstützung ermöglichen.

Welche Folgen hätte ein Ja zu dieser Initiative?
Borer: Sie würde es ermöglichen, breiter über neue Lehrpläne zu diskutieren. Am Ende hätten Lehrpläne eine bessere demokratische Legitimation.

Ein Ja würde auch eine Debatte zum Lehrplan 21 im Kantonsrat auslösen. Wie werden Sie dann stimmen?
Borer: Ich würde Nein stimmen. Natürlich mit Inputs an den Bildungsrat. 

Steiner: Ich habe noch keinen pädagogischen Input von Frau Borer gehört.

Welche Folgen hätte ein Ja aus Ihrer Sicht, Frau Steiner?
Steiner: Es gäbe eine grosse Unsicherheit für Lehrerinnen und Lehrer, Schulbehörden und Eltern. Der Lehrplan 21 würde zwar eingeführt und wäre weiter gültig, aber niemand wüsste, wie lange. Sollte ein neuer Lehrplan nötig werden, könnte die Unsicherheit über viele Jahre andauern. Ein Ja würde eine Verpolitisierung unserer Schule bedeuten. Das erachte ich als ausgesprochen schädlich.

Borer: Unsicherheit gabs auch bei der Erarbeitung des Lehrplans 21. Unsicherheit gibt es immer, wenn etwas Neues kommt. Eine Verpolitisierung der Schule geschieht eben heute, wenn der Kantonsrat mangels Mitsprache Fächer im Gesetz festschreibt, wie das mit der Handarbeit geschehen ist ...

Steiner: …oder mit Frau Borers Vorstoss, dass der Ustertag im Geschichtsunterricht thematisiert werden sollte.

Borer: Ein Postulat verlangt eine Stellungnahme des Regierungsrats. Damit wird nichts ins Gesetz geschrieben.

Steiner: Aber so könnten die Diskussionen zum Lehrplan im Kantonsrat künftig laufen. Je nach politischem Standpunkt würde das eine oder andere Thema gefordert. Das würde ein Hüst und Hott für die Schulen bedeuten.


1 Kommentar:

  1. Edwin Rupf schreibt folgenden Kommentar:
    „Die Kompetenzen im Lehrplan 21 sind praxisuntauglich“, sagt Anita Borer. Das stimmt vor allem für schwächere Kinder.
    Mit der Kompetenzorientierung im neuen Lehrplan wird ein ganz neues, uns fremdes Unterrichtsverständnis eingeführt: das individualisierte, selbstorganisierte Lernen ohne Anleitung des Lehrers. Die Schülerin, der Schüler muss allein und selbständig seine Kompetenzen abarbeiten. Deshalb die Lernboxen in den modernen Lernlandschaften, wo jedes Kind für sich allein (mit Computer) arbeitet. Da leidet nicht nur der soziale Zusammenhalt in der Klasse – ein wesentliches Ziel unserer Volksschule. Die Leidtragenden sind vor allem die schwächeren Kinder aus bildungsfernen Familien. Gut gebildete oder betuchte Eltern können ihren Sprösslingen nämlich mit Erklärungen zu Hause oder mit dem bezahlten Nachhilfelehrer über mögliche Klippen helfen.
    Wenn wir dazu die Forderungen von Economiesuisse zur digitalen Transformation unserer Schulen denken (s. Tagesanzeiger, 10.2.2018), dann wird klar: die ökonomistischen Forderungen (Kompetenzorientierung und totale Digitalisierung) dienen ausschliesslich der Rekrutierung von stromlinienförmigen Spitzenverdienern. Wollen wir so eine Volksschule? Ein besinnlicher Marschhalt in dieser Entwicklung wäre wünschenswert. Deshalb am 4. März: Ja zur Initiative: Lehrplan vors Volk
    Edwin Rupf, Sekundar- und Sonderschullehrer

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