5. Februar 2018

Staat soll Chancen ausgleichen

Sie gehen nie in den Wald, bekommen keine Geschichten erzählt: Rund jedes dritte Kind werde von den Eltern zu wenig gefördert, sagt Bernhard Hauser, Dozent an der PH St. Gallen. Für die Chancengleichheit müsse der Staat bei der Erziehung eingreifen.
Hauser: "Die Schule kann nicht alles ausbaden, was Eltern im Vorschulalter versäumt haben". Bild: Benjamin Manser.
Unterschiedlich weit entwickelte Kinder: "Die Schule allein schafft das nicht". St. Galler Tagblatt, 4.2. von Janina Gehrig


Bernhard Hauser, Sie haben ein Spiel mitgebracht. Was für eines?
Auf das Spiel «Mehr ist mehr» sind wir besonders stolz. Wir haben es selbst entwickelt. Es eignet sich sehr gut für grosse Kindergärtler. Jedes Kind hält ein paar Karten in der Hand, auf denen drei Punktmengen mit verschiedenen Farben drauf sind. Das Kind, das von einer bestimmten Farbe mehr Punkte auf der Karte hat, darf diese legen. So lernen die Kinder, Mengen zu vergleichen.

Sie sind für eine inhaltliche Ver­schulung des Kindergartens.
Ja. Ich halte eine spielintegrierte Mathe- und Sprachförderung im Kindergarten für notwendig – aus didaktischer Sicht ist das keine Verschulung. Wir konnten zeigen, dass Kinder, die mehrmals wöchentlich dieses Spiel spielten, im ­mathematischen Bereich besser abschnitten, als jene, die herkömmlichen Unterricht genossen hatten. Wir legen den Kindergärtnerinnen nur jene Spiele nahe, die den Kindern auch Spass machen. Das ist zentral für den Lernerfolg.

Laut dem St.Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker besteht schon vor Kindergarteneintritt ein Problem, weil Kinder nicht sozialisiert sind, sehr unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen. Er möchte die Eltern in die Pflicht nehmen. Was raten Sie?
Einerseits hat Kölliker recht: Die Schule kann nicht alles ausbaden, was Eltern im Vorschulalter versäumt haben. Die Eltern in die Verantwortung zu nehmen, ist richtig. Das Problem unsozialisierter Kinder halte ich aber für dramatisiert. Schon vor 40 Jahren gab es Kinder, die keine Gspänli gefunden haben, die impulsiv waren oder beim Eintritt in den Kindergarten noch Windeln trugen. Das hat nicht wesentlich zugenommen. Was sich aber verändert hat, ist die Wahrnehmung der Lehrpersonen und Schulleiter.

Nämlich, dass die Unterschiede zwischen den Kindern immer ­grösser werden?
Ja. Vergessen geht dabei, dass die Schere nach oben hin viel grösser geworden ist. Der Anteil der Kinder, die hochsozial und sehr selbstständig sind, die schon als Vierjährige lesen und schreiben können, ist deutlich grösser geworden. Jene Kinder, die kaum etwas mitbringen, fallen deshalb stärker auf. Keine Studie aber würde belegen, dass die Kinder heute weniger kompetent wären als vor zehn Jahren.

Mittelstandfamilien fördern ihre Kinder also zu stark?
Nein. Der Anteil der Eltern, der ihre Kinder sehr gut fördert, nimmt erfreulicherweise zu. Der Schulabschluss der Kinder ist gerade für bildungsnahe Eltern wichtiger geworden. Sie merken, dass die Schulen besser werden darin, auch schwächere Kinder zum Lernen anzuregen, und verstärken darauf ihre Anstrengungen, um ihre Kinder gut zu platzieren.

Das heisst, dass die meisten Eltern ihre Verantwortung also sehr wohl wahrnehmen.
Ja. Man sollte sich heute vermehrt wertschätzend dazu äussern statt über jene herzufallen, die ihre Kinder überfordern oder drillen. Deren Anteil ist sehr klein.

Wo liegt denn das Problem?
Es geht darum, den Kindern zu helfen, die benachteiligt werden. Das sind rund 15 bis 30 Prozent. Ein weiteres Drittel der Eltern ist sich der Bedeutung der Förderung zu wenig bewusst.

Wann gilt ein Kind als benachteiligt?
Schon dann, wenn es vor dem 7. Lebensjahr nicht mit Techniken und Inhalten, die in der Schule wichtig sind, in Kontakt gekommen ist. Eltern zu haben, die nicht lesen, gilt als Benachteiligung.

Meinen Sie Analphabeten?
Nein. Ich meine Eltern, die lieber vor dem Fernseher sitzen, statt zu lesen. Kinder beobachten genau, was ihre Eltern machen. Schon Einjährige merken, ob sich die Eltern tatsächlich für etwas inter­essieren – und interessieren sich dann auch dafür. Das hat man lange massiv unterschätzt.

Also muss die Förderung benachteiligter Kinder über die Eltern laufen.
Ja. Wenn Kinder während ihrer ersten Lebensjahre nicht angemessen gefördert werden, können sie den Nachteil kaum mehr aufholen. Erstklässler, die bereits einen Vorsprung haben, bauen diesen nur noch aus, sind lern- und leistungswilliger und trauen sich mehr zu. Es lohnt sich also, etwas zu machen, vor allem bei Risikogruppen. Bei den meisten Kindern wäre es völlig falsch, zu warten, bis sie den Knopf auftun.

Müssten also Spielgruppen obligatorisch werden? Oder Kitas zur Pflicht?
Das ist eine schwierige Diskussion. Dies verpflichtend zu machen, wäre sicher ein Vorteil für bildungsferne Kinder, denn sie profitieren sehr von stärkeren Kindern. Im Sarganserland bieten verschiedene Schulen für fremdsprachige Kinder und Eltern ein Jahr vor Kindergarteneintritt freiwilligen Sprachunterricht an. Das ist eine gute Form.

Sie sagen, bei Risiko-Familien müsse etwas getan werden. Was?
Sinnvoll ist etwa das Projekt Zeppelin von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Hier werden sozial belastete Milieus bereits in der Schwangerschaft erfasst und die Eltern bei der Erziehung regelmässig begleitet. Wir wissen zwar noch nicht, ob die derzeit in einigen Kantonen laufenden Frühförderungsprogramme tatsächlich greifen. Aber ich bin überzeugt: Hier lohnt sich eine Investition – langfristig sogar finanziell. Zu viele dieser Kinder landen sonst in Kleinklassen, Sonderschulen oder driften gar in die Kriminalität ab. Der Staat muss hier eingreifen. Die Schule allein schafft das nicht.

Es ist doch anmassend, Eltern zu sagen: «Sie sind nicht optimal für Ihr Kind.»
Viele Eltern sind dankbar um Anregungen. Natürlich gibt es jene, die Hilfe ablehnen. Mangelhafte Sensibilität der Eltern ist aber eine miserable Voraussetzung.

Von welchen Eltern sprechen Sie?
Das Hauptproblem sind bildungsferne Eltern. Oder solche, die von Armut betroffen sind, so dass sie kaum Zeit haben.

Was ist mit Kindern mit Migrationshintergrund?
Der wird massiv überschätzt. Er spielt keine so grosse Rolle.

Wie sollen Eltern ihr Kind fördern?
Das wichtigste ist, dass sie mit ihrem Kind viel machen. Ich meine nicht Babyschwimmen oder Chinesischkurse. Sie sollen sich während der Essenszeiten mit den Kindern unterhalten, es lustig haben, mit Sprache experimentieren, sich für die Welt interessieren. Wichtig ist auch, dass Kinder mit Gspänli spielen können, andere Familien kennen lernen.

Der bekannte Kinderarzt Remo Largo sagt: Jedes Kind ist einzigartig und entwickelt sich in seinem Tempo. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Diese Metapher ist Unsinn! Die Idee, die Biologie richte alles, ist falsch. Gerade bei bildungsfernen Eltern ist diese Aussage schlicht fahrlässig. Wir müssen ­einen Weg finden, den Eltern zu signalisieren: «Der Hauptgrund, dass ihr Kind bei Schuleintritt so weit oder so wenig weit ist, liegt bei Ihnen.»

Gewisse Kinder brauchen doch einfach mehr Zeit um sich zu ent­wickeln und zu lernen.
Aber auch das Tempo, in dem ein Kind lernt, ist erlernt. Sowie das Durchhaltevermögen und das Mass, wie sehr sich ein Kind in etwas vertiefen kann.

Müssen denn alle Kinder gleich­geschaltet werden?
Natürlich sollen Kinder ihre individuellen Persönlichkeiten entwickeln können. Vergessen geht aber, dass sich Kinder oft an anderen orientieren, am Klassendurchschnitt, den man so gerne schlechtredet. In den bedeutsamen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Mathematik und in anderen Wissensbereichen müssen wir sie deshalb im Sinne der Chancengerechtigkeit auf zumindest ähnlichen Stand bringen und darauf achten, dass Schwächere nicht auf der Strecke bleiben. Dies ist im Lehrplan verankert. Eine Individualisierung, die zu viel Langsamkeit und Lücken zulässt, ist asozial.

Worauf achtet die PHSG bei der Ausbildung der Lehrkräfte?
Dadurch, dass es keine reine Kindergarten-Ausbildung mehr gibt, kommen Lehrpersonen an bildungsnahen Themen, wie auch spielintegrierter Mathe- und Sprachförderung, nicht mehr vorbei.

Sind Sie ein Idealist?
Die Idee der Chancengleichheit ist utopisch, ja. Aber es ist dennoch unsere Aufgabe, Chancenfairness herzustellen. Wir müssen jenen, die mit kleinen Kindern zu tun haben, erklären, welche unglaubliche Bedeutung das Lernen und der Spass am Lernen haben.


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