Sie gehen nie in den Wald, bekommen
keine Geschichten erzählt: Rund jedes dritte Kind werde von den Eltern zu wenig
gefördert, sagt Bernhard Hauser, Dozent an der PH St. Gallen. Für die
Chancengleichheit müsse der Staat bei der Erziehung eingreifen.
Hauser: "Die Schule kann nicht alles ausbaden, was Eltern im Vorschulalter versäumt haben". Bild: Benjamin Manser.
Unterschiedlich weit entwickelte Kinder: "Die Schule allein schafft das nicht". St. Galler Tagblatt, 4.2. von Janina Gehrig
Bernhard Hauser, Sie haben ein Spiel mitgebracht.
Was für eines?
Auf
das Spiel «Mehr ist mehr» sind wir besonders stolz. Wir haben es selbst
entwickelt. Es eignet sich sehr gut für grosse Kindergärtler. Jedes Kind hält
ein paar Karten in der Hand, auf denen drei Punktmengen mit verschiedenen
Farben drauf sind. Das Kind, das von einer bestimmten Farbe mehr Punkte auf der
Karte hat, darf diese legen. So lernen die Kinder, Mengen zu vergleichen.
Sie sind für eine inhaltliche Verschulung des
Kindergartens.
Ja.
Ich halte eine spielintegrierte Mathe- und Sprachförderung im Kindergarten für
notwendig – aus didaktischer Sicht ist das keine Verschulung. Wir konnten
zeigen, dass Kinder, die mehrmals wöchentlich dieses Spiel spielten, im mathematischen
Bereich besser abschnitten, als jene, die herkömmlichen Unterricht genossen
hatten. Wir legen den Kindergärtnerinnen nur jene Spiele nahe, die den Kindern
auch Spass machen. Das ist zentral für den Lernerfolg.
Laut dem St.Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker
besteht schon vor Kindergarteneintritt ein Problem, weil Kinder nicht
sozialisiert sind, sehr unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen. Er möchte die
Eltern in die Pflicht nehmen. Was raten Sie?
Einerseits
hat Kölliker recht: Die Schule kann nicht alles ausbaden, was Eltern im
Vorschulalter versäumt haben. Die Eltern in die Verantwortung zu nehmen, ist
richtig. Das Problem unsozialisierter Kinder halte ich aber für dramatisiert.
Schon vor 40 Jahren gab es Kinder, die keine Gspänli gefunden haben, die
impulsiv waren oder beim Eintritt in den Kindergarten noch Windeln trugen. Das
hat nicht wesentlich zugenommen. Was sich aber verändert hat, ist die
Wahrnehmung der Lehrpersonen und Schulleiter.
Nämlich, dass die Unterschiede zwischen den Kindern
immer grösser werden?
Ja.
Vergessen geht dabei, dass die Schere nach oben hin viel grösser geworden ist.
Der Anteil der Kinder, die hochsozial und sehr selbstständig sind, die schon
als Vierjährige lesen und schreiben können, ist deutlich grösser geworden. Jene
Kinder, die kaum etwas mitbringen, fallen deshalb stärker auf. Keine Studie
aber würde belegen, dass die Kinder heute weniger kompetent wären als vor zehn
Jahren.
Mittelstandfamilien fördern ihre Kinder also zu
stark?
Nein.
Der Anteil der Eltern, der ihre Kinder sehr gut fördert, nimmt
erfreulicherweise zu. Der Schulabschluss der Kinder ist gerade für bildungsnahe
Eltern wichtiger geworden. Sie merken, dass die Schulen besser werden darin,
auch schwächere Kinder zum Lernen anzuregen, und verstärken darauf ihre
Anstrengungen, um ihre Kinder gut zu platzieren.
Das heisst, dass die meisten Eltern ihre
Verantwortung also sehr wohl wahrnehmen.
Ja.
Man sollte sich heute vermehrt wertschätzend dazu äussern statt über jene
herzufallen, die ihre Kinder überfordern oder drillen. Deren Anteil ist sehr
klein.
Wo liegt denn das Problem?
Es
geht darum, den Kindern zu helfen, die benachteiligt werden. Das sind rund 15
bis 30 Prozent. Ein weiteres Drittel der Eltern ist sich der Bedeutung der
Förderung zu wenig bewusst.
Wann gilt ein Kind als benachteiligt?
Schon
dann, wenn es vor dem 7. Lebensjahr nicht mit Techniken und Inhalten, die in
der Schule wichtig sind, in Kontakt gekommen ist. Eltern zu haben, die nicht
lesen, gilt als Benachteiligung.
Meinen Sie Analphabeten?
Nein.
Ich meine Eltern, die lieber vor dem Fernseher sitzen, statt zu lesen. Kinder
beobachten genau, was ihre Eltern machen. Schon Einjährige merken, ob sich die
Eltern tatsächlich für etwas interessieren – und interessieren sich dann auch
dafür. Das hat man lange massiv unterschätzt.
Also muss die Förderung benachteiligter Kinder über
die Eltern laufen.
Ja.
Wenn Kinder während ihrer ersten Lebensjahre nicht angemessen gefördert werden,
können sie den Nachteil kaum mehr aufholen. Erstklässler, die bereits einen
Vorsprung haben, bauen diesen nur noch aus, sind lern- und leistungswilliger
und trauen sich mehr zu. Es lohnt sich also, etwas zu machen, vor allem bei
Risikogruppen. Bei den meisten Kindern wäre es völlig falsch, zu warten, bis
sie den Knopf auftun.
Müssten also Spielgruppen obligatorisch werden?
Oder Kitas zur Pflicht?
Das
ist eine schwierige Diskussion. Dies verpflichtend zu machen, wäre sicher ein
Vorteil für bildungsferne Kinder, denn sie profitieren sehr von stärkeren
Kindern. Im Sarganserland bieten verschiedene Schulen für fremdsprachige Kinder
und Eltern ein Jahr vor Kindergarteneintritt freiwilligen Sprachunterricht an.
Das ist eine gute Form.
Sie sagen, bei Risiko-Familien müsse etwas getan
werden. Was?
Sinnvoll
ist etwa das Projekt Zeppelin von der Interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik Zürich. Hier werden sozial belastete Milieus bereits in der
Schwangerschaft erfasst und die Eltern bei der Erziehung regelmässig begleitet.
Wir wissen zwar noch nicht, ob die derzeit in einigen Kantonen laufenden
Frühförderungsprogramme tatsächlich greifen. Aber ich bin überzeugt: Hier lohnt
sich eine Investition – langfristig sogar finanziell. Zu viele dieser Kinder
landen sonst in Kleinklassen, Sonderschulen oder driften gar in die
Kriminalität ab. Der Staat muss hier eingreifen. Die Schule allein schafft das
nicht.
Es ist doch anmassend, Eltern zu sagen: «Sie sind
nicht optimal für Ihr Kind.»
Viele
Eltern sind dankbar um Anregungen. Natürlich gibt es jene, die Hilfe ablehnen.
Mangelhafte Sensibilität der Eltern ist aber eine miserable Voraussetzung.
Von welchen Eltern sprechen Sie?
Das
Hauptproblem sind bildungsferne Eltern. Oder solche, die von Armut betroffen
sind, so dass sie kaum Zeit haben.
Was ist mit Kindern mit Migrationshintergrund?
Der
wird massiv überschätzt. Er spielt keine so grosse Rolle.
Wie sollen Eltern ihr Kind fördern?
Das
wichtigste ist, dass sie mit ihrem Kind viel machen. Ich meine nicht
Babyschwimmen oder Chinesischkurse. Sie sollen sich während der Essenszeiten
mit den Kindern unterhalten, es lustig haben, mit Sprache experimentieren, sich
für die Welt interessieren. Wichtig ist auch, dass Kinder mit Gspänli spielen
können, andere Familien kennen lernen.
Der bekannte Kinderarzt Remo Largo sagt: Jedes Kind
ist einzigartig und entwickelt sich in seinem Tempo. Das Gras wächst nicht schneller,
wenn man daran zieht.
Diese
Metapher ist Unsinn! Die Idee, die Biologie richte alles, ist falsch. Gerade
bei bildungsfernen Eltern ist diese Aussage schlicht fahrlässig. Wir müssen einen
Weg finden, den Eltern zu signalisieren: «Der Hauptgrund, dass ihr Kind bei
Schuleintritt so weit oder so wenig weit ist, liegt bei Ihnen.»
Gewisse Kinder brauchen doch einfach mehr Zeit um
sich zu entwickeln und zu lernen.
Aber
auch das Tempo, in dem ein Kind lernt, ist erlernt. Sowie das
Durchhaltevermögen und das Mass, wie sehr sich ein Kind in etwas vertiefen
kann.
Müssen denn alle Kinder gleichgeschaltet werden?
Natürlich
sollen Kinder ihre individuellen Persönlichkeiten entwickeln können. Vergessen
geht aber, dass sich Kinder oft an anderen orientieren, am Klassendurchschnitt,
den man so gerne schlechtredet. In den bedeutsamen Kulturtechniken wie Lesen,
Schreiben, Mathematik und in anderen Wissensbereichen müssen wir sie deshalb im
Sinne der Chancengerechtigkeit auf zumindest ähnlichen Stand bringen und darauf
achten, dass Schwächere nicht auf der Strecke bleiben. Dies ist im Lehrplan
verankert. Eine Individualisierung, die zu viel Langsamkeit und Lücken zulässt,
ist asozial.
Worauf achtet die PHSG bei der Ausbildung der
Lehrkräfte?
Dadurch,
dass es keine reine Kindergarten-Ausbildung mehr gibt, kommen Lehrpersonen an
bildungsnahen Themen, wie auch spielintegrierter Mathe- und Sprachförderung,
nicht mehr vorbei.
Sind Sie ein Idealist?
Die
Idee der Chancengleichheit ist utopisch, ja. Aber es ist dennoch unsere Aufgabe,
Chancenfairness herzustellen. Wir müssen jenen, die mit kleinen Kindern zu tun
haben, erklären, welche unglaubliche Bedeutung das Lernen und der Spass am
Lernen haben.
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