Hochbegabte Kinder können alles: Das ist ein
Klischee. Tatsache ist: Werden sie nicht gefördert, können einige gar zu
schlechten Schülern werden. Im Kanton will man dies nicht überall wahrhaben.
Ein Interview mit der Begabtenförderin Verena Hofer.
Das Schulsystem benachteiligt Hochbegabte - mit teils happigen Folgen, Solothurner Zeitung, 21.2. von Lucien Flury
Verena Hofer warnt gleich: Das Gespräch könnte
länger dauern. Denn die Hochbegabtenförderung ist das Spezialgebiet der
ausgebildeten Primarlehrerin und studierten Pädagogin. Sie hat sich nicht nur
wissenschaftlich mit dem Thema befasst. Sie arbeitet auch als Begabtenförderin
und ist Kontaktperson der Regionalgruppe von Eltern Hochbegabter Kinder (EHK).
Auch von dort weiss Hofer, dass das Potenzial hochbegabter Kinder in den
Schulen nicht immer erkannt wird. Mit teils gravierenden Folgen: von seelischen
Leiden bis hin zu sich verschlechternden Schulleistungen. «Ideal wäre es, wenn
jedes Kind das Seine und nicht alle das Gleiche bekämen», zitiert sie
Pestalozzi.
Verena Hofer, eine provokative Frage: Hochbegabten
fällt eh schon alles leicht. Weshalb sollte man sie noch zusätzlich fördern?
Verena Hofer: Sind sie unterfordert, können
hochbegabte Kinder in der Schule ebenso leiden wie überforderte Kinder. Das
geht so weit, dass Knaben in der Regel verhaltensauffällig werden oder Mädchen
depressiv. Sie möchten dann nicht mehr in die Schule gehen, haben Bauchweh am
Sonntagabend.
Die meisten Leute denken bei Hochbegabten an den
Vierjährigen, der am Klavier sitzt. Aber was bedeutet hochbegabt eigentlich?
Hochbegabt wird so definiert, dass diese Kinder den
Gleichaltrigen in einem oder mehreren Gebieten sehr weit voraus sind. In der
Schule hat man den IQ als Kriterium genommen. Ab IQ 130 gilt ein Kind als
hochbegabt. Das sind 2 Prozent der Schülerinnen und Schüler.
Sind Hochbegabte in allen Fächern gut?
Nein, nicht unbedingt. Die Begabungen können
unterschiedlich ausgeprägt sein. Deshalb ist die Definition über den IQ
problematisch. Wenn ein Kind eine mathematische Hochbegabung hat, vielleicht
140, aber sprachlich ist es bei 89, dann zieht es seinen IQ runter und die
Schule kann sagen, dass das Kind keinen Anspruch auf ein Förderangebot hat. Das
kann dann zu grösseren schulischen Problemen führen für diese einseitig
Hochbegabten. Denn wenn sie etwas nicht interessiert, dann machen sie dort null
bis gar nichts. Das ist ein grosser Unterschied zu normal begabten Kindern.
Diese kann man motivieren.
Hochbegabte sind schwieriger zu motivieren?
Eindeutig, wenn ihnen etwas nicht zusagt. Dort, wo
sie interessiert sind, beissen sie von selbst an, zeigen Beharrungsvermögen und
eine grosse Aufnahmefähigkeit. Was sie weniger interessiert, können sie dank
ihrer Intelligenz lange trotzdem problemlos bewältigen. Wenn sie dann aber zu
lernen beginnen müssen, stehen sie an.
Warum?
Sie haben Schwierigkeiten, weil sie keine
Lernstrategie entwickelt haben. Weshalb soll ein hochbegabter Schüler sich
hinsetzen und Englisch lernen, wenn es reicht, dass er die Wörter im Zug von
Bettlach nach Solothurn anschaut und damit im Test bei den Besten ist? Warum
soll er freiwillig mehr machen?
Eltern beklagen, dass die Förderung von
Hochbegabten heute stiefmütterlich behandelt wird. Warum ist dies so?
Für die Lernstarken ist weniger Verständnis da als
für die Lernschwächeren. Das liegt in uns: Jemand, der schwächer ist, dem
versucht man zu helfen. Hinzu kommt die immer noch weit verbreitete Meinung,
dass Hochbegabte keine zusätzliche Förderung brauchen. Nicht zuletzt ist das
Wort Eliteförderung in der Schweizer Mentalität ein heikles. Man will hier die
Schwächeren «lüpfen», aber die Besseren will man nicht davon ziehen lassen,
auch wenn man später stolz auf gute Forscher ist.
Es ist ein Konkurrenzkampf zwischen Schwächeren und
Hochbegabten um die Förderstunden?
In der speziellen Förderung gibt es einen
gemeinsamen Lektionenpool für Kinder mit einer Lernbeeinträchtigung oder einem
Lernrückstand, für Verhaltensauffällige und für Kinder mit einer besonderen
Begabung. Die Realität ist so, dass diese Lektionen für die lernschwachen und
für die verhaltensauffälligen Kinder benötigt werden. Nicht aber für die
Hochbegabten. Die Heilpädagogen schauen, dass genügend Stunden für die
lernschwachen Kinder zur Verfügung stehen. Es heisst: Sonst «rotieren» die
Lernschwachen noch mehr Wir haben eh zu wenig Lektionen. Ich selbst war in der
Funktion einer Heilpädagogin tätig. Und ohne ihnen das Geld wegnehmen zu wollen
– Tatsache ist: Das Geld fliesst vor allem zu Kindern mit einem Lernrückstand.
Und die Lehrer?
Es steht und fällt mit den Lehrpersonen. Eine
Lehrerin oder ein Lehrer kann auch ohne Förderstunden einem Kind das Richtige
bieten. Es kommt aber auch vor, dass Lehrer oder Behörden das notwendige Wissen
nicht haben, und das ist leider häufig der Fall. Man muss ein Wissen haben zur
Hochbegabung, um es wahrzunehmen. Da sollten wir viel weiter sein. Und dann
gibt es noch Lehrer, die wollen einfach nicht.
Warum?
Sie sagen: Nicht das auch noch. Sie haben schon
viel um die Ohren. Bei lernschwachen Kindern wissen sie zudem, was zu tun ist.
Bei hochbegabten Kindern ist es schwieriger, Fördermassnahmen zu finden. Die
Kinder können sich in der dritten Klasse vielleicht schon mit Billionen
befassen oder können perspektivisch zeichnen, während andere noch Figürchen
malen. Das ist auch für Lehrpersonen ungewöhnlich, für einige gar erschreckend
oder beängstigend. Der Fächer der Möglichkeiten und Bedürfnisse der Kinder ist
viel grösser. Es kann sein, dass eine Lehrperson ein gut gemeintes
Zusatzangebot macht, aber das Kind zeigt Desinteresse.
Beim Sport oder bei der Musik hat man die Akzeptanz
für Fördermassnahmen und Spezialklassen eher. Warum?
Beim Sport sieht man die Leistung. Bei der Musik
hört man sie. Wenn Kinder aber anders denken oder wahrnehmen, dann sieht man
dies nicht.
Wenn man mit Eltern von Hochbegabten spricht, sagen
sie: Bitte keine Namen nennen. Eigentlich könnten die Eltern ja stolz sein, ein
begabtes Kind zu haben. Es scheint aber eher ein Stigma zu sein.
Ein Vater sagte mal, er erfahre vom Umfeld auch
Neid. Hinzu kommt: Zwei Prozent der Kinder sind hochbegabt. Das entspricht
nicht mehr der Norm. Eltern haben – definitionsgemäss – ein «nicht
normgerechtes» Kind. Deshalb halten sie sich in der Öffentlichkeit zurück.
Sind Eltern auch zurückhaltend, weil Erwartungen
geweckt werden, die die Kinder nicht erfüllen können oder wollen?
Ja, das auch. Die Erwartung zum Beispiel, dass ein
hochbegabtes Kind wunderschön schreibt oder überall top ist. Das ist völlig
falsch. Ein Einstein schlurfte in Schlarpen rum. Genies haben zum Teil keine
Alltagskompetenz, bzw. sind für sie gewisse Dinge einfach unwichtig. Und es
gibt auch hochbegabte Kinder, die ihr Potenzial nicht entfalten können. Ich
kenne ein hochbegabtes Kind, das zum IV-Fall wurde. Es hat den Weg nicht
gefunden.
Wie sähe die ideale Förderung aus?
Das setzt beim Wissen der Lehrperson an, sowie bei
deren Verständnis und Akzeptanz, sodass diejenigen Kinder, die eine
Teilhochbegabung haben, auch erkannt werden. Dann gibt es bereits heute
Massnahmen, die greifen. Zum einen ist dies das Überspringen einer Klasse. Das
andere ist die «Bereicherung» des Unterrichtsstoffes. Diese Kinder brauchen
nicht einfach Zusatzaufgaben, sondern Kraftfutter für ihr Hirn. So kann eine
Tüftelaufgabe das Kind herausfordern. Ich habe eine Förderkiste gemacht. Das
geht mit minimalem, einmaligem Aufwand. Gezielt eingesetzt, hat man ein gutes
Gefäss. In der Kiste sind Aufgaben zum Tüfteln, Knobeln und Ausprobieren. Wer
den Wochenplan erfüllt hat, darf zur Kiste gehen. Davon können alle Kinder
profitieren.
Was sind die Folgen, wenn es keine Fördermassnahmen
gibt?
Im besten Fall hat dies keine Folgen. Im
schlechtesten Fall werden die Kinder verhaltensauffällig, leisten weniger und
werden zu sogenannten Minderleistern. Das kommt vor. Erst wenn dann das
vermeintlich verhaltensauffällige Kind von Psychologen abgeklärt wird, stellt
sich heraus, dass es eine Hochbegabung hat. Wenn es dann bekommt, was es
braucht, sind auch die Verhaltensauffälligkeiten weg.
Im Kanton kann jede Gemeinde selbst bestimmen, ob
und welche Fördermassnahmen sie anbietet.
Der Kanton macht es sich etwas einfach, wenn er
keine Gelder spricht und sagt: Das ist Sache der Gemeinden. Es gibt eine
Studie, die zeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Angeboten und der
Art, wie die Gelder gesprochen werden. Dort, wo kantonale Gelder fliessen, gibt
es für Hochbegabte im Schnitt klar mehr Angebote. Dort, wo die Kantone nicht
bezahlen, gibt es weniger Angebote. Das hat Auswirkungen. Ich kannte ein
hochbegabtes Kind, das in der Schule unterfordert war und apathisch wurde.
Heute geht das Kind in die Steinerschule. Ihm geht es besser. Aber die Familie
muss die Schule selber bezahlen. Das ist ungerecht.
Vor welchen Herausforderungen stehen Eltern
hochbegabter Kinder?
Sie sind zum Teil am Anschlag, etwa wenn das Kind
ständig Fragen stellt. Es gibt hochbegabte Kinder mit einem unglaublich hohen
Wissensdrang, der die Eltern verunsichert. Und gerade für Eltern, die ein
Einzelkind haben und nicht vergleichen können, ist es zuerst schwierig, ihre
Wahrnehmung einordnen zu können. Deshalb ist es wichtig, sich zu informieren.
Woran leiden die Kinder selbst?
Das müsste man die Kinder fragen. Daran, dass sie
sich z.B. als «anders als die Anderen» wahrnehmen. Sie leiden, wenn es ihnen
über längere Zeit in der Schule langweilig ist, etwa bei repetitiven Aufgaben.
Und auch diese Kinder benötigen positive Rückmeldungen. Es wird aber zu oft als
selbstverständlich angesehen, dass sie alles können. Warum soll man dann sagen:
Du bist gut? Was auch schwierig ist: Hochbegabte haben oft einen
Perfektionsanspruch und können an ihren eigenen Ansprüchen scheitern.
Einige Eltern fördern die Kinder schon vor der
Schule. Die Kleinen kennen schon die Buchstaben, wenn sie in die erste Klasse
kommen. Wie fallen da die hochbegabten Kinder auf?
Es gibt ehrgeizige Eltern, die gerne ein begabtes
Kind hätten. Aber ein Kind wird nicht wegen seiner ehrgeizigen Eltern
hochbegabt. Ein Kind hat ein grösseres Begabungspotenzial oder ein kleineres.
Hochbegabte Kinder eignen sich das Wissen selbst an. Sie lernen das Lesen
selbst oder stellen ganz ungewohnte Fragen. Wenn ein Kind ungewohnte Fragen
stellt oder interessante Antworten gibt, kann dies ein Hinweis sein.
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