Der
Klassenunterricht hat es heute schwer. Gefragt ist individualisierendes
Arbeiten, gefordert selbstorganisiertes Lernen. Vergessen gehen oft der Wert
des Erzählens und das Üben des Zuhörens. Ein Erinnerungsversuch.
Vom vergessenen Kulturgut des Erzählens und Zuhörens, 2.2. von Carl Bossard
In der Schule
gibt es Grundsätze und Erkenntnisse, die nicht veralten, die zeitlos und darum
veralterungsresistent sind, z.B. dass alle lesen, schreiben und rechnen lernen
und dass es dazu engagierte Lehrerinnen und Lehrer braucht. Zur Paedagogia
perennis, zu dem, was immer gilt und keinem Verfalldatum untersteht, gehören
auch lebendiges Erzählen und achtsames Zuhören.
Erzählen als ursprüngliche Art
der Begegnung
Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten.
Gute Geschichten, betont der Literaturprofessor und Schriftsteller Peter von
Matt. Das gilt auch unsere Schulkinder. Ein klassischer Grundsatz; darum ewig
gültig, den sozialen Medien zum Trotz. Die meisten Kinder lieben Erzählungen
und hören gerne zu. „Kinder brauchen Märchen“ – „Kinder brauchen Bücher“. Die
beiden Bücher des bekannten Kinderpsychologen Bruno Bettelheim öffneten mir im
Lehrerstudium die Augen und zeigten, wie bedeutsam dieses Anliegen ist.
Fabulieren ist das, was Menschen mit Lust und Laune und ganz freiwillig tun.
Sie reden und erzählen, sie simsen und bloggen, sie dichten Verse und schreiben
Geschichten oder gar ganze Romane. Manche reden darum nicht vom Homo sapiens,
sondern vom Homo narrans, vom Menschen, der erzählt, ja sogar vom «storytelling
animal».
Eine Erzählung mit Leben füllen
Wie eine Erzählung lebendig wird, zeigte
unser Sechstklasslehrer – Theatermensch par excellence, Geschichtenschreiber
und Poet in Personalunion. Als wir noch Helden hatten, ja, da war vieles
einfacher, auch das Geschichtenerzählen. Unser Lehrer beherrschte es; er konnte
formulieren, fabulieren, faszinieren. Und dies sehr anschaulich: Noch heute
sehe ich ihn vor mir, den Abenteurer und Journalisten Stanley, wie er im
unbekannten Afrika des 19. Jahrhunderts nach dem verschollenen Forscher
Livingstone suchte.
Wir fieberten mit, wenn der Lehrer von Wilhelm Tell
erzählte, wie er den tyrannischen Vogt Gessler in der Hohlen Gasse erschoss,
und von Schillers politisch-literarischem Thriller schwärmte. Wir hörten
atemlos zu, wenn er Arnold Winkelried auferstehen liess und berichtete, wie der
Nidwaldner Landesheilige bei Sempach sein Leben opferte – und so eine
schlachtentscheidende Lücke in die Reihe der feindlichen Speere riss. Wir sahen
die Helden vor uns. In solchen Momenten war das Vaterland nicht nur ein Gebiet
auf der Schweizer Karte, nein, das Vaterland war auch ein Gefühl. Es war mein
Heimatland. Stolz war der kleine Sechstklässler auf diese grossen Perlen in der
eidgenössischen Mythenkette.
Geschichten ins Wissen der Kinder einordnen
Das
war damals. Heute haben es Helden schwer. Sie haben ausgedient. Erbarmungslos
entmystifiziert und entsorgt. Geblieben aber ist der Wert des Erzählens. Es ist
eine ursprüngliche Art der Begegnung – und damit konstitutives Element guten
Unterrichts. Der Lehrer steht dabei in engem Kontakt zur Klasse. Er muss – wie
die Schauspielerin beim Publikum – „ankommen“. Und Ankommen ist kein Zufall.
Beim Erzählen erzeugt die Lehrerin Sprache und bei den Kindern innere Bilder.
Für Heranwachsende ist das ein eminent wichtiger Wahrnehmungsvorgang.
Hören ist
ein kognitiver Prozess. [1] Er findet nicht nur im Ohr statt. Das Hirn
verarbeitet Sprache. Dabei gilt es, das Gehörte zu verstehen, es zu einem
zusammenhängenden Gefüge zu verknüpfen und dann das Ganze ins Netz des eigenen
Wissens aufzunehmen und einzuordnen. Noch heute weiss ich um die Erforschung
des Kontinents Afrikas – dank der erzählten Episode von Stanley und Livingstone
im damaligen Sachunterricht.
Zuhören als verstehende Zuwendung
Lehrerinnen und
Lehrer sollten aber nicht nur frei und lebendig, anschaulich und bildhaft erzählen
können, sie müssen auch selber gut zuhören können. Zuhören, hinhö- ren – das
wird für heutige Kinder immer wichtiger. Viele haben zu Hause ja kein
persönliches Vis-à-Vis, das ihnen achtsam zuhört, kein Gegenüber, das sich Zeit
nimmt zum Hinhören. Und der Laptop ist ein gar ungeselliger Geselle!
Trotz
Internet, trotz Handy – oder eben gerade darum – brauchen die Kinder ein
achtsames menschliches Gegenüber. Aufmerksam zuhören ist verstehende Zuwendung.
Beim Zuhören schenkt man dem Gegenüber Gehör – für viele Schulkinder so etwas
wie eine neue Erfahrung.
Besser hinhören, genauer hinhören, zuerst zuhören
Was
Zuhören bewirken kann, zeigte das letztjährige Gedenkjahr zum 600. Geburtstag
von Niklaus von Flüe. Darauf aufmerksam gemacht hat Peter von Matt. Im Zentrum
von Bruder Klaus‘ Denken sei die Überzeugung gestanden: „Darum sönd ir luogen,
dz ir enandren ghorsam syend.“ Das Adjektiv gehorsam geht – sprachgeschichtlich
gesehen – auf „horchen“, „auf etwas hören“ zurück. Gehorsam verstanden als
Gehör. Es sei, so sagte der emeritierte Hochschullehrer, ein Schlüsselsatz von
Bruder Klaus, vielleicht sogar seine ganz eigentliche Botschaft an die
Tagsatzung 1481 von Stans – und an uns Heutige: Besser hinhören, genauer
hinhören, zuerst zuhören. Mit dieser Haltung habe er etwas vorgelebt, das ewig
gültig sei, das nicht veralte – eine Versöhnungskultur. Ein
Aufeinander-Eingehen, das Einander-Verstehen.
Vielleicht hat der Einsiedler aus
dem Ranft damit die schweizerische Synthese vorweggenommen, nämlich den
Zusammenhalt von ganz Unterschiedlichem – und damit das Überwinden von
Bruchstellen und Verschiedenheiten, von unterschiedlichen Mentalitäten und
Realitäten, von Stadt und Land, von gross und klein, von reich und arm. Indem
man aufeinander hört.
Das gilt nicht nur für einen Staat wie die Schweiz, das
gilt auch – und ganz besonders – für einen Mikrokosmos wie die Schule mit ihrer
heutigen Heterogenität. Hinhören.
Das Zuhören muss man lernen
„Mehr zu hören,
als zu reden – solches lehrt uns die Natur: Sie versah uns mit zwei Ohren, doch
mit einer Zunge nur“, sagte Gottfried Keller, der kluge Zürcher Dichter und
politische Denker, in einem Aphorismus.
Doch das Zuhören muss man lernen. Als
Lehrer habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern das Diskutieren intensiv
trainiert. Dabei mussten sie im Diskurs immer zuerst den Gedanken des
Vorredners kurz zusammenfassen. Erst dann war ihr Gegenargument an der Reihe.
So zwang ich die Schülerinnen und Schüler, genau hinzuhören und zu resümieren.
Sie mussten sich aufs Wesentliche konzentrieren und Unwichtiges „überhören“.
Der Aufbau von Zuhören-Können ist eine pädagogische Aufgabe. Zuhören wird so
zum Auftakt echter Begegnungen – auch mit Sachinhalten. Es führt zum Verstehen.
Unser Lehrer konnte nicht nur anschaulich erzählen, er konnte auch gut zuhören.
Er versuchte uns zu verstehen, auch wenn er nicht mit allem einverstanden war.
Ich begriff: Zuhören macht unsere Welt ein bisschen besser, mindestens ein
bisschen menschlicher. Und noch heute sehe ich Livingstone und seinen unbändigen
Forscherdrang vor mir.
[1] Giorgio V. Müller, Zum Hören braucht es mehr als
gute Ohren, in: NZZ, 22.11.17, S. 30.
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