Bildung als Abarbeiten von Zielen beziehungsweise als Sammeln von
Kompetenzen zu beschreiben, ist zwar modern, aber aus allgemeinpädagogischer
Perspektive kaum argumentierbar. Vielmehr bezeichnet Bildung doch einen
Form(ungs)prozess, der Person und Welt wechselseitig in Verbindung setzt. Sein
Antrieb ist die Rousseausche Imperfektibilität, also der Anspruch, aus einer
personalen Unbestimmtheit durch und in Praxis (verschiedene Formen der
Tätigkeit) Gestalt anzunehmen.
Türkis-blaues Sonderschulwesen: Was für ein Rückschritt! Standard, 2.1. Userkommentar von Robert Schneider
Diese konstitutive "Unfertigkeit" wird
aber keinesfalls überwunden, sondern bleibt – wenn auch verändert – immer
aufrecht. Sie ist weder zu vermessen, noch moralisch zu bewerten, sondern
anthropologisch-pädagogisches Prinzip. Der sich abzeichnende Evaluationismus
des Regierungsprogramms im Kapitel Bildung (Seite 59) sei mit einem Satz C. S.
Lewis' aus den 1940er Jahren kommentiert: "Wer alles durchschaut, sieht
nichts mehr", umso mehr, wenn es sich um Menschen und ihre
Selbstbestimmungsprozesse handelt.
Schule ist kein Ego-Projekt um Marktanteile
Doch nun zur inklusionspädagogischen Kritik, im Konkreten auf die Festsetzung,
ein "Bewährtes differenziertes Schulsystem [zu] erhalten und
aus[zu]bauen". Sowohl das historische Argument spricht gegen ein äußerlich
differenziertes Schulsystem, als auch die pädagogische Theorie. Friedrich Daniel
Ernst Schleiermacher und Johann Friedrich Herbart – um wenige Klassiker zu
nennen – haben gegen die staatliche Schule insofern argumentiert, dass diese
lediglich auf das "äußere Betragen" abziele und – das für Bildung
relevante – Innere des Menschen verfehle. Nicht bloß, dass Ernst Christian
Trapp für diese Schulen sehr früh die Tendenz der "Mittelköpfe"
bemerkte – das heißt, die Illusion, dass Schüler und Schülerinnen einer Klasse
und einer Schulform gewissermaßen ein homogenes Ganzes darstellten –, sondern
vielmehr noch greift das Schleiermachersche Argument aus dem Jahr 1826 noch
heute: "Es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, dass die
Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf
welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur
verraten".
Zudem – das entspringt einer Denkfigur des einflussreichen
Philosophen Georg Simmel – stellt ein weiter und vager Raum der Gemeinsamkeit
mit reicher Vielfalt und Möglichkeiten pluralistischer Wechselwirkungen ein
ungemein "effektiveres" Entwicklungsmoment für Individualität dar, so
diese differenziert und unverwechselbar sein sollte. Umgekehrt: leidet die
Individualität als Einzig(artig)keit in ihrer Unverwechselbarkeit an einer eng
gefassten und klar strukturierten "Gemeinschaft". Mit Simmel darf
angenommen werden, dass die Weite und Vielfalt von Gemeinschaft
Individualitäten unverkennbarer und selbstbestimmbarer mache. Bildung, so lässt
sich das erste Argument aufgreifen, ist (auch) kooperative Tätigkeit und kein
Ego-Projekt.
Menschenrechte sind ein Prozess
Zudem wird die
"Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung" (Seite 62)
gefordert, was – da ist das Programm konsequent – zu "Erhalt und Stärkung
des Sonderschulwesens" führen solle. Nicht bloß, dass die neue Regierung
damit knapp 30 Jahre Integrations- und Inklusionspädagogik und ihre
differenzierte Theoriebildung und Praxistransformation zurückdreht, ist sie
auch maßlos und grenzüberschreitend. Georg Feusers Bemerkung "Zum
Verkommen eines Gesellschaftsprojekts" müsste – mit Blick auf das Programm
– nicht bloß bestätigt, sondern als Destruktion gewertet werden. Denn: Was hier
als Ziel ausgewiesen wird, widerspricht der in dem Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen genannten Bewusstseinsbildung (Art. 8)
"auf allen Ebenen des Bildungssystems" ebenso, wie der
bildungstheoretischen Ausrichtung.
Ganz im Humboldtschen Sinne wird in Artikel
24 (1a) gefordert, dass die "menschlichen Möglichkeiten (…) und das
Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung" gebracht werden sollen
sowie "die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der
menschlichen Vielfalt zu stärken" sind. Eben dieser (Bildungs-)Auftrag
lässt sich – obigem Gedanken in Anlehnung an Simmel folgend – nicht in einer
stark konturierten und "engen" Gemeinschaft oder in einem
"Sonderraum" realisieren, sondern bedarf der Weite und Vielfalt an
möglichen Wechselwirkungen.
Eine solidarische Gesellschaft, die sich ihrer
Vergessenen wieder erinnert, setzt bei der Befreiung Diskriminierter an und
anerkennt die Fremdheit jedes anderen Menschen. Und: Sie eröffnet nicht
Schauplätze des inszenierten Kampfes um "Land" unter den vulnerablen
und bedrohten Menschen. Henry David Thoreau ist zuzustimmen, wenn er Mitte des
19. Jahrhunderts schreibt: "Eine Körperschaft habe kein Gewissen, sagt
man, und das stimmt auch; doch eine Körperschaft, die aus gewissenhaften
Menschen besteht, ist eben eine Körperschaft mit Gewissen". Die Hoffnung
bleibt bestehen, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz in seiner Regierungserklärung
den "Hausverstand" ins Treffen geführt, der als angeborener Verstand
der inneren Richterin durchaus verwandt ist. (Robert Schneider, 2.1.2018)
Robert Schneider ist Professor für Erziehungswissenschaft im Bereich Inklusion
und Leiter des Fachbereichs Inklusionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule
Salzburg. -
Endlich mal jemand, der Stellung nimmt für die Inklusion, ist man versucht zu denken! Doch Robert Schneiders Entgegnung aus inklusionspädagogischer Perspektive kommt mit einer derart verschwurbelten Sprache daher, dass man den Text mehrmals lesen muss, um sicher zu sein, was er überhaupt aussagen möchte. Damit reiht er sich würdig ein in eine lange Tradition deutschsprachiger Akademiker, bei denen gilt: je komplizierter, desto gescheiter. Abgesehen davon ist die Auswahl seiner Zitate nicht über alle Zweifel erhaben. Welche Aussagekraft haben Leute aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zum Thema Inklusion? Interessant wäre vielmehr zu erfahren, wie sich "knapp 30 Jahre Integrations- und Inklusionspädagogik und ihre differenzierte Theoriebildung und Praxistransformation" zur heutigen Situation äussern. Davon erfährt man aber nichts - oder begründen diese ihre Positionen auch im 18. und 19. Jahrhundert? Ist es zu billig zu vermuten, dass Herr Schneider einfach um seine Stelle zittert?
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