4. Januar 2018

Österreichische Regierung will Inklusion zurückschrauben

Bildung als Abarbeiten von Zielen beziehungsweise als Sammeln von Kompetenzen zu beschreiben, ist zwar modern, aber aus allgemeinpädagogischer Perspektive kaum argumentierbar. Vielmehr bezeichnet Bildung doch einen Form(ungs)prozess, der Person und Welt wechselseitig in Verbindung setzt. Sein Antrieb ist die Rousseausche Imperfektibilität, also der Anspruch, aus einer personalen Unbestimmtheit durch und in Praxis (verschiedene Formen der Tätigkeit) Gestalt anzunehmen. 
Türkis-blaues Sonderschulwesen: Was für ein Rückschritt! Standard, 2.1. Userkommentar von Robert Schneider


Diese konstitutive "Unfertigkeit" wird aber keinesfalls überwunden, sondern bleibt – wenn auch verändert – immer aufrecht. Sie ist weder zu vermessen, noch moralisch zu bewerten, sondern anthropologisch-pädagogisches Prinzip. Der sich abzeichnende Evaluationismus des Regierungsprogramms im Kapitel Bildung (Seite 59) sei mit einem Satz C. S. Lewis' aus den 1940er Jahren kommentiert: "Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr", umso mehr, wenn es sich um Menschen und ihre Selbstbestimmungsprozesse handelt. 

Schule ist kein Ego-Projekt um Marktanteile 
Doch nun zur inklusionspädagogischen Kritik, im Konkreten auf die Festsetzung, ein "Bewährtes differenziertes Schulsystem [zu] erhalten und aus[zu]bauen". Sowohl das historische Argument spricht gegen ein äußerlich differenziertes Schulsystem, als auch die pädagogische Theorie. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Johann Friedrich Herbart – um wenige Klassiker zu nennen – haben gegen die staatliche Schule insofern argumentiert, dass diese lediglich auf das "äußere Betragen" abziele und – das für Bildung relevante – Innere des Menschen verfehle. Nicht bloß, dass Ernst Christian Trapp für diese Schulen sehr früh die Tendenz der "Mittelköpfe" bemerkte – das heißt, die Illusion, dass Schüler und Schülerinnen einer Klasse und einer Schulform gewissermaßen ein homogenes Ganzes darstellten –, sondern vielmehr noch greift das Schleiermachersche Argument aus dem Jahr 1826 noch heute: "Es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, dass die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur verraten". 

Zudem – das entspringt einer Denkfigur des einflussreichen Philosophen Georg Simmel – stellt ein weiter und vager Raum der Gemeinsamkeit mit reicher Vielfalt und Möglichkeiten pluralistischer Wechselwirkungen ein ungemein "effektiveres" Entwicklungsmoment für Individualität dar, so diese differenziert und unverwechselbar sein sollte. Umgekehrt: leidet die Individualität als Einzig(artig)keit in ihrer Unverwechselbarkeit an einer eng gefassten und klar strukturierten "Gemeinschaft". Mit Simmel darf angenommen werden, dass die Weite und Vielfalt von Gemeinschaft Individualitäten unverkennbarer und selbstbestimmbarer mache. Bildung, so lässt sich das erste Argument aufgreifen, ist (auch) kooperative Tätigkeit und kein Ego-Projekt. 

Menschenrechte sind ein Prozess 
Zudem wird die "Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung" (Seite 62) gefordert, was – da ist das Programm konsequent – zu "Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens" führen solle. Nicht bloß, dass die neue Regierung damit knapp 30 Jahre Integrations- und Inklusionspädagogik und ihre differenzierte Theoriebildung und Praxistransformation zurückdreht, ist sie auch maßlos und grenzüberschreitend. Georg Feusers Bemerkung "Zum Verkommen eines Gesellschaftsprojekts" müsste – mit Blick auf das Programm – nicht bloß bestätigt, sondern als Destruktion gewertet werden. Denn: Was hier als Ziel ausgewiesen wird, widerspricht der in dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen genannten Bewusstseinsbildung (Art. 8) "auf allen Ebenen des Bildungssystems" ebenso, wie der bildungstheoretischen Ausrichtung. 

Ganz im Humboldtschen Sinne wird in Artikel 24 (1a) gefordert, dass die "menschlichen Möglichkeiten (…) und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung" gebracht werden sollen sowie "die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken" sind. Eben dieser (Bildungs-)Auftrag lässt sich – obigem Gedanken in Anlehnung an Simmel folgend – nicht in einer stark konturierten und "engen" Gemeinschaft oder in einem "Sonderraum" realisieren, sondern bedarf der Weite und Vielfalt an möglichen Wechselwirkungen. 

Eine solidarische Gesellschaft, die sich ihrer Vergessenen wieder erinnert, setzt bei der Befreiung Diskriminierter an und anerkennt die Fremdheit jedes anderen Menschen. Und: Sie eröffnet nicht Schauplätze des inszenierten Kampfes um "Land" unter den vulnerablen und bedrohten Menschen. Henry David Thoreau ist zuzustimmen, wenn er Mitte des 19. Jahrhunderts schreibt: "Eine Körperschaft habe kein Gewissen, sagt man, und das stimmt auch; doch eine Körperschaft, die aus gewissenhaften Menschen besteht, ist eben eine Körperschaft mit Gewissen". Die Hoffnung bleibt bestehen, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz in seiner Regierungserklärung den "Hausverstand" ins Treffen geführt, der als angeborener Verstand der inneren Richterin durchaus verwandt ist. (Robert Schneider, 2.1.2018) 

Robert Schneider ist Professor für Erziehungswissenschaft im Bereich Inklusion und Leiter des Fachbereichs Inklusionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg. - 

1 Kommentar:

  1. Endlich mal jemand, der Stellung nimmt für die Inklusion, ist man versucht zu denken! Doch Robert Schneiders Entgegnung aus inklusionspädagogischer Perspektive kommt mit einer derart verschwurbelten Sprache daher, dass man den Text mehrmals lesen muss, um sicher zu sein, was er überhaupt aussagen möchte. Damit reiht er sich würdig ein in eine lange Tradition deutschsprachiger Akademiker, bei denen gilt: je komplizierter, desto gescheiter. Abgesehen davon ist die Auswahl seiner Zitate nicht über alle Zweifel erhaben. Welche Aussagekraft haben Leute aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zum Thema Inklusion? Interessant wäre vielmehr zu erfahren, wie sich "knapp 30 Jahre Integrations- und Inklusionspädagogik und ihre differenzierte Theoriebildung und Praxistransformation" zur heutigen Situation äussern. Davon erfährt man aber nichts - oder begründen diese ihre Positionen auch im 18. und 19. Jahrhundert? Ist es zu billig zu vermuten, dass Herr Schneider einfach um seine Stelle zittert?

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