Wie wirken sich
Smartphones und Tablets auf die Entwicklung und die Sprache von kleinen Kindern
aus? Fachleute zeigen alarmierende Entwicklungen auf – und nehmen die Eltern in
die Pflicht.
Digitalisierung im Kinderzimmer, Luzerner Zeitung, 15.1. von Rahel Hug
Die intensive Nutzung
von digitalen Medien kann bei Kindern zu Entwicklungsstörungen führen. Zu
diesem Ergebnis kommt die so genannte Blikk-Medien-Studie, die im Frühjahr 2017
in Deutschland vorgestellt wurde. Von Fütter- und Einschlafstörungen bei Babys
über Sprachentwicklungsstörungen bei Kleinkindern bis zu
Konzentrationsstörungen im Primarschulalter ist die Rede. Die Forscher kamen
beispielsweise zum Schluss, dass 70 Prozent der Kinder im Kita-Alter das
Smartphone ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich benutzen. Für die
vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie waren 5573 Eltern und
deren Kinder zum Umgang mit digitalen Medien befragt worden.
In der Schweiz gibt es
bislang keine vergleichbaren Erhebungen. Doch Monika Minar, Logopädin in Baar,
und Brigitte Eisner-Binkert, stellvertretende Leiterin des Heilpädagogischen
Dienstes Zug, kennen die Problematik aus ihrem Arbeitsalltag. Monika Minar, die
seit 1991 eine eigene Praxis führt, hat in den letzten Jahren alarmierende
Beobachtungen gemacht. Sie erzählt beispielsweise von einem Kind, das in einem
Buch nicht die Seite umblättert, sondern die für Smartphones und Tablets
typische Wischbewegung macht. Oder von einem anderen, das mit dem Finger auf
Memory-Kärtchen tippt – anstatt sie umzudrehen. «Viele Kinder werden mit dem
Smartphone ruhiggestellt», berichtet Minar. Sie ist überzeugt, dass sich die
Nutzung dieser Geräte negativ auf die Sprachentwicklung auswirkt. «Ich stelle
vermehrt fest, dass Kinder sich schlechter ausdrücken können und Kauderwelsch
reden.» Spiele oder Lernprogramme auf Tablets und Smartphones würden oft die
Sprache ausser Acht lassen oder sie nur am Rande fördern. «In der Regel braucht
das Kind nur einen einzigen Finger», erklärt Minar.
Die emotionale Bindung kommt zu kurz
Doch es kann auch
negative Folgen haben, wenn die Eltern als Vorbilder und Ansprechpersonen
häufig mit digitalen Medien beschäftigt sind. «Die Mutter oder der Vater sind
zwar anwesend, weil sie aber durch das Handy abgelenkt sind, kommt die
emotionale Bindung oft zu kurz», erklärt Brigitte Eisner-Binkert, die seit 1988
in der Heilpädagogischen Früherziehung – also mit Kindern im Alter bis zu sechs
Jahren – arbeitet. Diese Bindung sei wichtig für die frühkindliche Entwicklung,
etwa im Bereich der Sprache oder der Denkentwicklung, aber auch was Vertrauen
und die Orientierung im Alltag angehe. «Der Stellenwert des Kindes ist schlicht
anders, wenn das Smartphone daneben die ganze Zeit piept», sagt Eisner-Binkert.
Ein Beispiel, wirft Monika Minar ein, habe sie auf einem Spielplatz beobachtet:
«Eine junge Mutter fotografiert ihr Kind mit dem Handy, um die Bilder danach
auf Facebook zu posten – anstatt die Schaukel anzustossen, auf der das Kind
sitzt.»
Für die beiden
Expertinnen steht fest: Digitale Medien können, gezielt eingesetzt, auch
Vorteile mit sich bringen. «Ich möchte die ganze Entwicklung nicht verteufeln»,
sagt Brigitte Eisner-Binkert. «Es gibt sinnvolle digitale Spiele, die zum
Beispiel die Reaktionszeit fördern.» Sie plädiert für einen bewussten Umgang
mit Handys, aber auch für Handy-freie Zeiten. Fenster also, in denen man sich
bewusst Zeit für das Kind nimmt. Monika Minar hatte in ihrer Arbeit auch schon
Erfolgserlebnisse. «Die junge Generation von Eltern ist selber mit dem Handy
aufgewachsen und kennt oft nichts anderes. Es gab eine Mutter, die erschrocken
ist, als sie bei mir in der Praxis gesehen hat, wie oft ihr Kind zum Handy
greift. ‹Das bin ja ich›, hat sie gesagt.» Die Selbsterkenntnis der Eltern sei
ein sehr wichtiger Schritt zur Besserung.
Das Kind nimmt die Umgebung nicht wahr
Für Katharina Eikamp,
Kinderärztin in Cham, sind die Ergebnisse der Blikk-Studie nicht überraschend.
«Es so deutlich zu sehen, ist dann aber trotzdem erschreckend», sagt sie. Die
Medizinerin erlebt tagtäglich, wie Smartphones den Alltag von Kindern
verändern. «Es ist nahezu bizarr, dass man heutzutage teilweise zwei- oder
dreijährige Kinder untersucht, die den Arzt gar nicht wahrnehmen, da sie die
ganze Zeit einen Film auf dem Smartphone schauen.» Das Kind nehme dann seine
Umgebung nicht wahr, nehme keine Notiz von den Spielsachen im
Untersuchungszimmer, interagiere nicht mit der Ärztin und bekomme nicht mit,
was mit dem Körper passiere. «Somit verpassen sie einen kleinen Mosaikstein in
ihrer Entwicklung.» Die Kinderärztin ist überzeugt: «Wir schicken unsere Kinder
in die digitale Welt, bevor sie ihre Erfahrungen in der realen Welt machen
konnten, und diese verpassen sie dann zunehmend, wenn der Smartphone-Konsum
stark ist.»
Eikamp ist der Meinung,
dass Kinder unter drei Jahren kein Smartphone als Spielzeug brauchen. Länger
als 20 Minuten täglich sollten sich Kinder nicht mit digitalen Medien
beschäftigen, rät sie. Und weiter: «Eine Stunde vor dem Schlafengehen sollte
jegliche Beschäftigung vor einem Bildschirm vermieden werden.» Eltern sollten
ausserdem am Esstisch und während der Betreuung der Kinder das Smartphone
ausschalten.
Auch Antonia Küng
Degelo, Sozialarbeiterin und Elterncoach bei der Fachstelle Punkto Eltern,
Kinder & Jugendliche, kennt die Problematik. «Eine grosse Gefahr sehen wir
darin, dass die Omnipräsenz der digitalen Medien leicht dazu führen kann, dass
Eltern wichtige Momente mit ihren Kindern versäumen», sagt sie. Die Folge sei
verpasste gemeinsame Zeit, die für die Stärkung der Eltern-Kind-Bindung und das
gesamte Familienleben von grosser Bedeutung sei. «Das digitale Überangebot
bringt die Kinder auch schnell mal vom freien Spiel weg und verleitet die
Eltern, die bei Kindern aufkommende Langeweile zu kompensieren, anstatt sie mit
ihnen zusammen auszuhalten.» Gleichwohl vertritt Küng Degelo die Haltung, dass
der Umgang mit digitalen Medien kontrolliert und geübt werden muss. «Die
Digitalisierung ist längst in den Kinderzimmern angekommen.»
Bei der Elternberatung
ist es selten, dass im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter dieses Thema
der Anlass für eine Anfrage ist. Oft komme es aber vor, erzählt die Beraterin,
dass die Eltern es als Thema unter vielen einbringen würden – und dies meistens
in Zusammenhang mit wiederkehrenden Konflikten. «Eine nicht zu unterschätzende
Rolle spielt auch das schlechte Gewissen der Eltern. Sie fühlen sich schlecht,
wenn sie merken, dass sie ihre Kinder ständig mit dem Smartphone ruhigstellen.»
Antonia Küng Degelo betont, dass einheitliche Ratschläge selten hilfreich seien
– doch es gebe einige allgemein gültige Punkte. Es sind dies zum Beispiel:
Begleitung ist besser als Verbote, es braucht eine Balance zwischen medialer
und nichtmedialer Freizeitgestaltung, Kinder brauchen medienkompetente
Vorbilder, und Bildschirmzeiten werden am besten gemeinsam festgelegt.
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