In Zeiten
unbequemer Abstimmungen mit irritierenden Resultaten begegne ich immer mehr engagierten
Mitbürgern, die mir gegenüber zu verstehen geben, dass man die Bevölkerung gar
nicht über alles abstimmen lassen solle. Was sollen Laien zum Beispiel zum
Lehrplan sagen, oder schau mal, was wir uns mit dem JA zur
Masseneinwanderungsinitiative eingebrockt haben? Und nun droht noch die No
Billag-Initiative! Und so mehren sich die Stimmen, die verlangen, dass man
solch komplexe Zusammenhänge doch nicht den Dilettanten sondern den Experten
überlassen müsse. Das spüren übrigens auch wir Lehrkräfte. In Sonntagspredigten
und Talkshows bezeichnet man die Lehrkräfte zwar oft als Experten. In der Realität
schätzt man uns mehr als Erfüllungsgehilfen, weil man weiss, dass es ohne uns
nicht geht. Gleichzeitig spricht man uns
aber je länger je mehr, jede Kompetenz ab, in schulpolitischen Fragen mitzuentscheiden.
Avanti Dilettanti, Bieler Tagblatt, 30.1. von Alain Pichard
Die
Player in unserem Bildungssystem sind die Steuerzentralen der heutigen
Bildungspolitik, die sich in den Bildungsdirektionen befinden und die von
Leuten bedient werden, welche den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben.
Und es sind die immer zahlreicheren BeraterInnen, Evaluationisten, PH-Dozenten
oder Lehrplanentwickler, die sich mit bemerkenswerter Robustheit in den Kampf
um die knappen Bildungsressourcen einschalten.
Kurz
ausgedrückt: Es sind die wahren Experten.
Als
bekennender Dilettant zitiere ich gerne
aus dem Werther, den Goethe einst sagen liess: «Nun liege ich hier in einem
Blumenmeer, und kann keinen einzigen Strich zeichnen und doch bin ich nie ein
grösserer Künstler gewesen.»
Für
Goethe war der Dilettant, jemand, der sich für etwas einsetzt, ein Liebhaber,
dem die Sache wichtig ist, der sich einliest, der versucht Übergänge zu
schaffen, für sich und andere, ein Laie, dem es um die Sache geht. Wir haben
den Dilettanten übrigens durchaus viel zu verdanken. Steve Jobs lässt
grüssen!
Eine
ausserordentliche Dilettantin war auch meine Kindergärtnerin in Basel, die gute
«Fräulein» Siegrist. Sie gab uns jeweils zum Abschied ein Kärtchen für die
Eltern nach Hause: Über mich schrieb sie: «Alain ist ein Sonnenschein. Mit
seinem Charme hat er uns oft verzückt. Ich werde ihn vermissen.» Das war
natürlich fürchterlich dilettantisch. Heute dürfen die Kindergärtnerinnen in Basel
ihre Zöglinge mit einem 7-seitigen Beobachtungsbogen und 74 Kriterien
«bekreuzeln», und der Lehrplan schreibt uns über 400 Grund- und über 2000
Unterkompetenzen vor, ausgearbeitet von wahrhaften Bildungsexperten.
Es ist
der Versuch einer Perfektionierung des Wahns, in welchem Experten ihren Job tun
und ihn auch gut tun. Aber die Experten sehen die Dinge oft nicht im
Zusammenhang. Sie sehen immer nur ihr kleines Fachgebiet. Und in diesem
separierten Denken, nur auf einzelne Segmente bezogen, entsteht eine
Schwarmdummheit, wird Spitzenintelligenz zur Spitzenidiotie, wird die
Intelligenz des Einzelnen zu einer Beschränktheit des Ganzen. In diesem Sinne:
Avanti Dilettanti!
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