30. Januar 2018

Avanti Dilettanti

In Zeiten unbequemer Abstimmungen mit irritierenden Resultaten begegne ich immer mehr engagierten Mitbürgern, die mir gegenüber zu verstehen geben, dass man die Bevölkerung gar nicht über alles abstimmen lassen solle. Was sollen Laien zum Beispiel zum Lehrplan sagen, oder schau mal, was wir uns mit dem JA zur Masseneinwanderungsinitiative eingebrockt haben? Und nun droht noch die No Billag-Initiative! Und so mehren sich die Stimmen, die verlangen, dass man solch komplexe Zusammenhänge doch nicht den Dilettanten sondern den Experten überlassen müsse. Das spüren übrigens auch wir Lehrkräfte. In Sonntagspredigten und Talkshows bezeichnet man die Lehrkräfte zwar oft als Experten. In der Realität schätzt man uns mehr als Erfüllungsgehilfen, weil man weiss, dass es ohne uns nicht geht.  Gleichzeitig spricht man uns aber je länger je mehr, jede Kompetenz ab, in schulpolitischen Fragen mitzuentscheiden.
Avanti Dilettanti, Bieler Tagblatt, 30.1. von Alain Pichard


Die Player in unserem Bildungssystem sind die Steuerzentralen der heutigen Bildungspolitik, die sich in den Bildungsdirektionen befinden und die von Leuten bedient werden, welche den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Und es sind die immer zahlreicheren BeraterInnen, Evaluationisten, PH-Dozenten oder Lehrplanentwickler, die sich mit bemerkenswerter Robustheit in den Kampf um die knappen Bildungsressourcen einschalten.

Kurz ausgedrückt: Es sind die wahren Experten.

Als bekennender Dilettant zitiere ich  gerne aus dem Werther, den Goethe einst sagen liess: «Nun liege ich hier in einem Blumenmeer, und kann keinen einzigen Strich zeichnen und doch bin ich nie ein grösserer Künstler gewesen.»

Für Goethe war der Dilettant, jemand, der sich für etwas einsetzt, ein Liebhaber, dem die Sache wichtig ist, der sich einliest, der versucht Übergänge zu schaffen, für sich und andere, ein Laie, dem es um die Sache geht. Wir haben den Dilettanten übrigens durchaus viel zu verdanken. Steve Jobs lässt grüssen!  

Eine ausserordentliche Dilettantin war auch meine Kindergärtnerin in Basel, die gute «Fräulein» Siegrist. Sie gab uns jeweils zum Abschied ein Kärtchen für die Eltern nach Hause: Über mich schrieb sie: «Alain ist ein Sonnenschein. Mit seinem Charme hat er uns oft verzückt. Ich werde ihn vermissen.» Das war natürlich fürchterlich dilettantisch. Heute dürfen die Kindergärtnerinnen in Basel ihre Zöglinge mit einem 7-seitigen Beobachtungsbogen und 74 Kriterien «bekreuzeln», und der Lehrplan schreibt uns über 400 Grund- und über 2000 Unterkompetenzen vor, ausgearbeitet von wahrhaften Bildungsexperten.


Es ist der Versuch einer Perfektionierung des Wahns, in welchem Experten ihren Job tun und ihn auch gut tun. Aber die Experten sehen die Dinge oft nicht im Zusammenhang. Sie sehen immer nur ihr kleines Fachgebiet. Und in diesem separierten Denken, nur auf einzelne Segmente bezogen, entsteht eine Schwarmdummheit, wird Spitzenintelligenz zur Spitzenidiotie, wird die Intelligenz des Einzelnen zu einer Beschränktheit des Ganzen. In diesem Sinne: Avanti Dilettanti!

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