30. Dezember 2017

Zurücktretender Hans Ambühl über Reformen und Bürokratie in den Klassenzimmern

In der Schweizer Bildungspolitik war Hans Ambühl einer der massgeblichen Taktgeber. Im Frühling trat der Luzerner als Generalsekretär der Erziehungsdirektorenkonferenz ab, nun zieht er erstmals Bilanz.
«Schule ist keine Insel der Glückseligen», NZZ, 30.12. von Michael Schoenenberger und Marc Tribelhorn


Herr Ambühl, Sie waren 18 Jahre lang die graue Eminenz im Schweizer Bildungssystem. Was war Ihr grösster Misserfolg?
Die grösste negative Überraschung war, dass das Harmos-Projekt in mehreren Kantonen derart polemische Abstimmungskämpfe provoziert hat – trotz breiter Zustimmung auch seitens der Parteien in der Vernehmlassung. Da gab es nicht nur Missverständnisse, sondern grobe Fehlbehauptungen und Unterstellungen.

Damals entdeckte die SVP die Bildungspolitik.
Die heftigste Phase der Instrumentalisierung von Bildungsthemen für parteipolitische Zwecke ist zum Glück bereits wieder vorbei. Ich stelle eine Versachlichung der Debatte fest, gerade auch beim Lehrplan 21.

Der Lehrplan 21 provoziert noch immer. In unserem föderalen Bildungssystem lässt sich die Bevölkerung nicht gerne von einer übergeordneten Instanz wie der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) die Schulinhalte vorgeben.
Weder die EDK als Institution noch ihr Generalsekretär haben die Möglichkeit, den Kantonen irgendetwas vorzuschreiben. Die Kantone kommen bei der EDK in einem rechtsstaatlich und demokratiepolitisch völlig korrekten Rahmen zusammen. Der Mär von der nicht einwandfreien Statur der EDK bin ich immer entgegengetreten. Der Abschluss von Verträgen ist die älteste Form der Zusammenarbeit, die es in der Eidgenossenschaft gibt. Und die Erarbeitungsprozesse in den Projekten sind unter Einbezug der Praxis hochpartizipativ.

Wie steht es nun aber um die Harmonisierung der Schule in der Schweiz, die Sie massgeblich vorangetrieben haben?
Was den Verfassungsauftrag angeht, haben wir vieles umgesetzt. Gut sieht es bei der Volksschule und bei den Hochschulen aus. Aber wir haben in den ersten Jahren nur die Rechtsgrundlagen und die Instrumente schaffen können. Jetzt muss das Ganze mit Leben gefüllt werden, und die Zielerreichung ist zu überprüfen.

Was heisst das konkret?
Die Verfassung sagt beispielsweise, die Ziele der Bildungsstufen seien zu harmonisieren. In unserer Interpretation wäre ein Lehrplan für die gesamte Schweiz nicht mit unserer Tradition und den unterschiedlichen Kulturen vereinbar gewesen. Aber wir definierten gesamtschweizerische Lernziele pro Bildungsabschnitt, sogenannte Grundkompetenzen. Wir müssen nun überprüfen, wie weit diese in der ganzen Schweiz erfüllt werden. Wir wollten nicht standardisieren, sondern harmonisieren.

Die Gymnasien blieben bisher von solchen Schritten verschont.
… obwohl die verfassungsmässige Harmonisierungspflicht für alle Bildungsstufen gilt – und es sich ja bei der gymnasialen Maturität um einen gesamtschweizerischen Abschluss handelt. Aber es gibt in der Schweiz eine starke Tradition, dass die Gymnasien selber definieren, wie sie ihren Auftrag ausführen. National besteht nur ein Rahmenlehrplan. Bezüglich der Studierfähigkeit gibt es denn auch erhebliche Unterschiede zwischen den Kantonen, ja Schulen, wie die wissenschaftliche Evaluation in drei Fachbereichen vor zehn Jahren gezeigt hat. Wenn der Anteil gymnasialer Maturanden zwischen 13 und über 30 Prozent eines Schülerjahrgangs schwankt, kann das ja nicht erstaunen. Um die hohe Qualität der Schweizer Matura und – bei aller Legitimität von kulturellen Unterschieden zwischen den Regionen – eine gewisse Chancengerechtigkeit gewährleisten zu können, sind verbindlichere Richtlinien künftig wohl unvermeidlich.

Sie amten als Präsident der Schweizerischen Maturitätskommission. Sind wir auf dem Weg zu einer gesamtschweizerischen Matura?
Nein. Die EDK hat bereits basale fachliche Studierkompetenzen in den Fächern Erstsprache und Mathematik in Ergänzung zum Rahmenlehrplan definiert, den Dialog zwischen Gymnasien und Hochschulen verstärkt und Empfehlungen für die Berufs- und Studienberatung an den Gymnasien erlassen. Meines Erachtens wäre zu prüfen, ob nicht auch der Rahmenlehrplan und die Lehrpläne angepasst werden müssten, wie es Professor Peter Bonati in seiner jüngst publizierten Analyse vorschlägt. Dass wir in der föderalen Schweiz top-down eine zentrale Matura einführen, will sich aber derzeit niemand vorstellen. Es wäre ja auch keineswegs klar, dass mit einem solchen Schritt die Qualität verbessert würde.

Der Präsident der schweizerischen Gymnasialrektorenkonferenz hat gemeint, die EDK werde nicht darum herumkommen, sich auch einmal mit der Maturaquote zu befassen.
Einverstanden, solange es dabei um eine bessere Vergleichbarkeit im Sinne der Chancengerechtigkeit geht. Diese ist meines Erachtens über qualitätsorientierte Massnahmen anzustreben, nicht aber über die schiere Bewirtschaftung einer zahlenmässigen Quote. Solches käme einem Numerus clausus für Gymnasien gleich und würde im Ergebnis auch nicht zu mehr Gerechtigkeit führen. Wer – meines Erachtens zu Recht – mehr Vergleichbarkeit bei der Matura fordert, muss allerdings auch entsprechende Vorgaben zur Zielerreichung akzeptieren. Der Autonomiediskurs wird nicht per se eine höhere Vergleichbarkeit bewirken.

Seit zwei Jahrzehnten jagt eine Reform die nächste. Lehrer und Schulen klagen über «Reformitis». Können Sie nicht verstehen, dass Lehrpersonen möglichst frei unterrichten möchten, ohne Bürokratie, ohne ständige Neuregelungen?
Wer möchte nicht möglichst frei sein? Nur, erstens, weil Sie die Frage an den ehemaligen EDK-Generalsekretär richten: Man kann sicher nicht die EDK für alle «Reformen» verantwortlich machen. Die EDK ist keine «Reformitis»-Maschine. Auf gesamtschweizerischer Ebene haben wir sehr wenige Veränderungen eingeleitet, die überhaupt im Schulalltag direkt spürbar werden. Und wenn, dann nicht von heute auf morgen, sondern organisch. Aber es gibt ja auch kontinuierlich neue Ansätze aus der pädagogischen und didaktischen Fachwelt sowie methodisch aktualisierte Lehrmittel. Solchen Entwicklungen kann sich eine professionelle Schule ja nicht aus Prinzip verschliessen. Zweitens habe ich natürlich Verständnis dafür, dass Veränderungen im anspruchsvollen und hektischen Schulalltag als unangenehm wahrgenommen werden. Das ist jedoch eine Frage der Perspektive und war früher nicht grundsätzlich anders.

Sie machen es sich etwas einfach. Im Gegensatz zu früher protestieren die Lehrer heute viel vehementer gegen den permanenten Reformdruck.
Sicher hat sich das Tempo der Veränderungen verschärft. Das ist aber überall so. Wir machen Schule ja nicht zum Selbstzweck: Die Berufswelt verändert sich rasant und mit ihr die Berufsbildung. Ständig ändern sich die Anforderungen und die Erwartungen an die Menschen. Das hat Auswirkungen auf die Schule. Sie ist keine Insel der Glückseligen, wo immer alles gleich bleibt.

Schulen und Lehrpersonen klagen auch über eine zunehmende Bürokratie. Zu Recht?
Diese Klage verstehe ich viel besser als jene über Veränderungen. Es gibt heute aus der Gesellschaft heraus einen höheren Druck auf die Schulen. Die Anspruchshaltung der Eltern ist zum Beispiel massiv gestiegen. Die Schule muss heute alles, was sie tut, begründen und rechtfertigen: jede Note, die sie erteilt, jede Hausaufgabe, die sie verteilt. Ich weiss von Lehrkräften, die spätabends von Eltern angerufen werden, weil diese nicht einverstanden sind mit einer Schulnote vom Vormittag. Das führt im Schulalltag dazu, dass viel mehr dokumentiert wird. Wir müssen die Schule von solcher Administration entlasten.

Und wie soll das geschehen?
Die Behörden müssen aufpassen, dass sie im Rahmen ihrer Evaluationsaufgabe von den Schulen nicht zu viele Informationen und Auskünfte verlangen, die dann diesen Dokumentationsbedarf auslösen. Und in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung sollten wir jener vielfach verbreiteten, egozentrischen Anspruchshaltung gegenüber der Institution Schule entgegentreten.

Auch die zunehmende Vermessung der Bildung befeuert die Bürokratie. Ist das wirklich nötig?
Dass Schulen Rechenschaft über ihr Tun ablegen müssen, finde ich in einem öffentlich veranstalteten und finanzierten System richtig. Aber es gibt Grenzen: So haben wir bei der letzten Pisa-Erhebung unsere Zweifel an der Auswertung und an der Interpretation bei der OECD angebracht.

Seit dem Jahr 2000 macht die Schweiz bei «Pisa» mit. Sind die hiesigen Schulen in dieser Zeit besser geworden?
Wir wurden durchaus auf wichtige Dinge aufmerksam. Die Schwierigkeiten bei der Lesefähigkeit wurden wegen «Pisa» bewusst und publik. Auch dass es eine hohe Abhängigkeit des schulischen Erfolgs vom sozialen und kulturellen Kontext gibt, haben wir aus «Pisa» gelernt. Doch die Parole «Schaut einfach, wie es da und dort gemacht wird, und macht es gleich» ist völlig falsch. Wiederholte methodische Anpassungen am Pisa-Test verhindern zudem, dass die nationalen Ergebnisse über einen längeren Zeitraum verglichen werden können, was mich extrem ärgert. «Pisa» hat nicht gehalten, was die OECD versprach.

Wieso beenden wir dieses Kapitel nicht?
Wir müssen uns selbstverständlich dem internationalen Vergleich stellen, dürfen uns dabei aber keinen Trugschlüssen hingeben: Es ist nicht alles messbar, und es passt auch nicht alles in eine Rangliste. Die OECD, die Medien sowie übermütige Wissenschafter und Politiker haben die Messbarkeit von Bildung überschätzt. Und: Wir müssen uns bei der OECD dafür einsetzen, dass die Pisa-Ergebnisse wieder vergleichbar werden, auch wenn wir da möglicherweise am Anfang noch etwas einsame Rufer in der Wüste sind.

Einig sind sich die Experten indes, dass die Digitalisierung die zentrale Herausforderung der Zukunft ist. Wo steht das Schweizer Schulwesen diesbezüglich?
Es weiss noch niemand, wohin genau die Reise geht, obwohl wir seit Jahren über Digitalisierung reden. Sicher ist nur, dass die Digitalisierung das formale Bildungssystem herausfordert: Früher hatte die Schule eine Art Datenmonopol, heute hat jede Primarschülerin einen grossen Datensack in der Hosentasche. Das verändert die Lern- und Lehrprozesse zwangsläufig. Es macht die Lehrpersonen aber nicht überflüssig, im Gegenteil: Sie müssen Wege aufzeigen, wie man zu guten Informationen kommt, wie man sie verifiziert, gewichtet und so weiter. In den neuen Lehrplänen, insbesondere im Lehrplan 21, wird auch die Informatik als solche eingeführt, was mich zuversichtlich stimmt. Das braucht aber alles Ressourcen.

Paradoxerweise werden gerade jetzt die Ausgaben gedrosselt. Dieses Jahr demonstrierten wiederholt Lehrer und Schüler auf der Strasse gegen den «Bildungsabbau».
Wenn man die Gesamtebene betrachtet, kann man sicher nicht von einem «Bildungsabbau» reden. In einem föderalen System gibt es aber Unterschiede, und tatsächlich sind einige Kantone in finanzielle Bedrängnis geraten, einzelne auch wegen ihrer Steuerpolitik. Wenn der schulische Grundauftrag nicht mehr erfüllt werden kann und die Kinder und Lehrkräfte in Zwangsferien geschickt werden, habe ich volles Verständnis für Proteste. Wir sind ja kein armes Land.

Die Bildungsausgaben sind in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen. Wohin fliesst das Geld?
Es fliesst zu über 80 Prozent in die Besoldung der Lehrkräfte aller Stufen. Schule ist personalintensiv und wird es bleiben. Die Schweizer Lehrerlöhne gehören übrigens innerhalb der OECD zu den höchsten – auch wenn hierzulande viel geklagt wird.


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