In der Schweizer Bildungspolitik war Hans Ambühl einer der massgeblichen
Taktgeber. Im Frühling trat der Luzerner als Generalsekretär der
Erziehungsdirektorenkonferenz ab, nun zieht er erstmals Bilanz.
«Schule ist keine Insel der Glückseligen», NZZ, 30.12. von Michael Schoenenberger und Marc Tribelhorn
Herr Ambühl, Sie waren 18 Jahre lang die graue
Eminenz im Schweizer Bildungssystem. Was war Ihr grösster Misserfolg?
Die grösste negative Überraschung war, dass das Harmos-Projekt in
mehreren Kantonen derart polemische Abstimmungskämpfe provoziert hat – trotz
breiter Zustimmung auch seitens der Parteien in der Vernehmlassung. Da gab es
nicht nur Missverständnisse, sondern grobe Fehlbehauptungen und
Unterstellungen.
Damals entdeckte die SVP die Bildungspolitik.
Die heftigste Phase der Instrumentalisierung von Bildungsthemen für
parteipolitische Zwecke ist zum Glück bereits wieder vorbei. Ich stelle eine
Versachlichung der Debatte fest, gerade auch beim Lehrplan 21.
Der Lehrplan 21 provoziert noch immer. In unserem
föderalen Bildungssystem lässt sich die Bevölkerung nicht gerne von einer
übergeordneten Instanz wie der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) die
Schulinhalte vorgeben.
Weder die EDK als Institution noch ihr Generalsekretär haben die
Möglichkeit, den Kantonen irgendetwas vorzuschreiben. Die Kantone kommen bei
der EDK in einem rechtsstaatlich und demokratiepolitisch völlig korrekten
Rahmen zusammen. Der Mär von der nicht einwandfreien Statur der EDK bin ich
immer entgegengetreten. Der Abschluss von Verträgen ist die älteste Form der
Zusammenarbeit, die es in der Eidgenossenschaft gibt. Und die
Erarbeitungsprozesse in den Projekten sind unter Einbezug der Praxis
hochpartizipativ.
Wie steht es nun aber um die Harmonisierung der
Schule in der Schweiz, die Sie massgeblich vorangetrieben haben?
Was den Verfassungsauftrag angeht, haben wir vieles umgesetzt. Gut sieht
es bei der Volksschule und bei den Hochschulen aus. Aber wir haben in den
ersten Jahren nur die Rechtsgrundlagen und die Instrumente schaffen können.
Jetzt muss das Ganze mit Leben gefüllt werden, und die Zielerreichung ist zu
überprüfen.
Was heisst das konkret?
Die Verfassung sagt beispielsweise, die Ziele der Bildungsstufen seien
zu harmonisieren. In unserer Interpretation wäre ein Lehrplan für die gesamte
Schweiz nicht mit unserer Tradition und den unterschiedlichen Kulturen
vereinbar gewesen. Aber wir definierten gesamtschweizerische Lernziele pro
Bildungsabschnitt, sogenannte Grundkompetenzen. Wir müssen nun überprüfen, wie
weit diese in der ganzen Schweiz erfüllt werden. Wir wollten nicht
standardisieren, sondern harmonisieren.
Die Gymnasien blieben bisher von solchen Schritten
verschont.
… obwohl die verfassungsmässige Harmonisierungspflicht für alle
Bildungsstufen gilt – und es sich ja bei der gymnasialen Maturität um einen
gesamtschweizerischen Abschluss handelt. Aber es gibt in der Schweiz eine
starke Tradition, dass die Gymnasien selber definieren, wie sie ihren Auftrag
ausführen. National besteht nur ein Rahmenlehrplan. Bezüglich der
Studierfähigkeit gibt es denn auch erhebliche Unterschiede zwischen den
Kantonen, ja Schulen, wie die wissenschaftliche Evaluation in drei
Fachbereichen vor zehn Jahren gezeigt hat. Wenn der Anteil gymnasialer
Maturanden zwischen 13 und über 30 Prozent eines Schülerjahrgangs schwankt,
kann das ja nicht erstaunen. Um die hohe Qualität der Schweizer Matura und –
bei aller Legitimität von kulturellen Unterschieden zwischen den Regionen –
eine gewisse Chancengerechtigkeit gewährleisten zu können, sind verbindlichere
Richtlinien künftig wohl unvermeidlich.
Sie amten als Präsident der Schweizerischen
Maturitätskommission. Sind wir auf dem Weg zu einer gesamtschweizerischen
Matura?
Nein. Die EDK hat bereits basale fachliche Studierkompetenzen in den
Fächern Erstsprache und Mathematik in Ergänzung zum Rahmenlehrplan definiert,
den Dialog zwischen Gymnasien und Hochschulen verstärkt und Empfehlungen für
die Berufs- und Studienberatung an den Gymnasien erlassen. Meines Erachtens
wäre zu prüfen, ob nicht auch der Rahmenlehrplan und die Lehrpläne angepasst
werden müssten, wie es Professor Peter Bonati in seiner jüngst publizierten
Analyse vorschlägt. Dass wir in der föderalen Schweiz top-down eine zentrale
Matura einführen, will sich aber derzeit niemand vorstellen. Es wäre ja auch
keineswegs klar, dass mit einem solchen Schritt die Qualität verbessert würde.
Der Präsident der schweizerischen
Gymnasialrektorenkonferenz hat gemeint, die EDK werde nicht darum herumkommen,
sich auch einmal mit der Maturaquote zu befassen.
Einverstanden, solange es dabei um eine bessere Vergleichbarkeit im
Sinne der Chancengerechtigkeit geht. Diese ist meines Erachtens über
qualitätsorientierte Massnahmen anzustreben, nicht aber über die schiere
Bewirtschaftung einer zahlenmässigen Quote. Solches käme einem Numerus clausus
für Gymnasien gleich und würde im Ergebnis auch nicht zu mehr Gerechtigkeit
führen. Wer – meines Erachtens zu Recht – mehr Vergleichbarkeit bei der Matura
fordert, muss allerdings auch entsprechende Vorgaben zur Zielerreichung
akzeptieren. Der Autonomiediskurs wird nicht per se eine höhere
Vergleichbarkeit bewirken.
Seit zwei Jahrzehnten jagt eine Reform die nächste.
Lehrer und Schulen klagen über «Reformitis». Können Sie nicht verstehen, dass
Lehrpersonen möglichst frei unterrichten möchten, ohne Bürokratie, ohne
ständige Neuregelungen?
Wer möchte nicht möglichst frei sein? Nur, erstens, weil Sie die Frage
an den ehemaligen EDK-Generalsekretär richten: Man kann sicher nicht die EDK
für alle «Reformen» verantwortlich machen. Die EDK ist keine
«Reformitis»-Maschine. Auf gesamtschweizerischer Ebene haben wir sehr wenige
Veränderungen eingeleitet, die überhaupt im Schulalltag direkt spürbar werden.
Und wenn, dann nicht von heute auf morgen, sondern organisch. Aber es gibt ja
auch kontinuierlich neue Ansätze aus der pädagogischen und didaktischen
Fachwelt sowie methodisch aktualisierte Lehrmittel. Solchen Entwicklungen kann
sich eine professionelle Schule ja nicht aus Prinzip verschliessen. Zweitens
habe ich natürlich Verständnis dafür, dass Veränderungen im anspruchsvollen und
hektischen Schulalltag als unangenehm wahrgenommen werden. Das ist jedoch eine
Frage der Perspektive und war früher nicht grundsätzlich anders.
Sie machen es sich etwas einfach. Im Gegensatz zu
früher protestieren die Lehrer heute viel vehementer gegen den permanenten
Reformdruck.
Sicher hat sich das Tempo der Veränderungen verschärft. Das ist aber
überall so. Wir machen Schule ja nicht zum Selbstzweck: Die Berufswelt
verändert sich rasant und mit ihr die Berufsbildung. Ständig ändern sich die
Anforderungen und die Erwartungen an die Menschen. Das hat Auswirkungen auf die
Schule. Sie ist keine Insel der Glückseligen, wo immer alles gleich bleibt.
Schulen und Lehrpersonen klagen auch über eine
zunehmende Bürokratie. Zu Recht?
Diese Klage verstehe ich viel besser als jene über Veränderungen. Es
gibt heute aus der Gesellschaft heraus einen höheren Druck auf die Schulen. Die
Anspruchshaltung der Eltern ist zum Beispiel massiv gestiegen. Die Schule muss
heute alles, was sie tut, begründen und rechtfertigen: jede Note, die sie
erteilt, jede Hausaufgabe, die sie verteilt. Ich weiss von Lehrkräften, die
spätabends von Eltern angerufen werden, weil diese nicht einverstanden sind mit
einer Schulnote vom Vormittag. Das führt im Schulalltag dazu, dass viel mehr
dokumentiert wird. Wir müssen die Schule von solcher Administration entlasten.
Und wie soll das geschehen?
Die Behörden müssen aufpassen, dass sie im Rahmen ihrer
Evaluationsaufgabe von den Schulen nicht zu viele Informationen und Auskünfte
verlangen, die dann diesen Dokumentationsbedarf auslösen. Und in der gesellschaftlichen
und politischen Auseinandersetzung sollten wir jener vielfach verbreiteten,
egozentrischen Anspruchshaltung gegenüber der Institution Schule
entgegentreten.
Auch die zunehmende Vermessung der Bildung befeuert
die Bürokratie. Ist das wirklich nötig?
Dass Schulen Rechenschaft über ihr Tun ablegen müssen, finde ich in
einem öffentlich veranstalteten und finanzierten System richtig. Aber es gibt
Grenzen: So haben wir bei der letzten Pisa-Erhebung unsere Zweifel an der
Auswertung und an der Interpretation bei der OECD angebracht.
Seit dem Jahr 2000 macht die Schweiz bei «Pisa»
mit. Sind die hiesigen Schulen in dieser Zeit besser geworden?
Wir wurden durchaus auf wichtige Dinge aufmerksam. Die Schwierigkeiten
bei der Lesefähigkeit wurden wegen «Pisa» bewusst und publik. Auch dass es eine
hohe Abhängigkeit des schulischen Erfolgs vom sozialen und kulturellen Kontext
gibt, haben wir aus «Pisa» gelernt. Doch die Parole «Schaut einfach, wie es da
und dort gemacht wird, und macht es gleich» ist völlig falsch. Wiederholte
methodische Anpassungen am Pisa-Test verhindern zudem, dass die nationalen
Ergebnisse über einen längeren Zeitraum verglichen werden können, was mich
extrem ärgert. «Pisa» hat nicht gehalten, was die OECD versprach.
Wieso beenden wir dieses Kapitel nicht?
Wir müssen uns selbstverständlich dem internationalen Vergleich stellen,
dürfen uns dabei aber keinen Trugschlüssen hingeben: Es ist nicht alles
messbar, und es passt auch nicht alles in eine Rangliste. Die OECD, die Medien
sowie übermütige Wissenschafter und Politiker haben die Messbarkeit von Bildung
überschätzt. Und: Wir müssen uns bei der OECD dafür einsetzen, dass die
Pisa-Ergebnisse wieder vergleichbar werden, auch wenn wir da möglicherweise am
Anfang noch etwas einsame Rufer in der Wüste sind.
Einig sind sich die Experten indes, dass die
Digitalisierung die zentrale Herausforderung der Zukunft ist. Wo steht das
Schweizer Schulwesen diesbezüglich?
Es weiss noch niemand, wohin genau die Reise geht, obwohl wir seit
Jahren über Digitalisierung reden. Sicher ist nur, dass die Digitalisierung das
formale Bildungssystem herausfordert: Früher hatte die Schule eine Art
Datenmonopol, heute hat jede Primarschülerin einen grossen Datensack in der
Hosentasche. Das verändert die Lern- und Lehrprozesse zwangsläufig. Es macht
die Lehrpersonen aber nicht überflüssig, im Gegenteil: Sie müssen Wege
aufzeigen, wie man zu guten Informationen kommt, wie man sie verifiziert,
gewichtet und so weiter. In den neuen Lehrplänen, insbesondere im Lehrplan 21,
wird auch die Informatik als solche eingeführt, was mich zuversichtlich stimmt.
Das braucht aber alles Ressourcen.
Paradoxerweise werden gerade jetzt die Ausgaben
gedrosselt. Dieses Jahr demonstrierten wiederholt Lehrer und Schüler auf der
Strasse gegen den «Bildungsabbau».
Wenn man die Gesamtebene betrachtet, kann man sicher nicht von einem
«Bildungsabbau» reden. In einem föderalen System gibt es aber Unterschiede, und
tatsächlich sind einige Kantone in finanzielle Bedrängnis geraten, einzelne
auch wegen ihrer Steuerpolitik. Wenn der schulische Grundauftrag nicht mehr
erfüllt werden kann und die Kinder und Lehrkräfte in Zwangsferien geschickt
werden, habe ich volles Verständnis für Proteste. Wir sind ja kein armes Land.
Die Bildungsausgaben sind in den vergangenen
Jahrzehnten stetig gestiegen. Wohin fliesst das Geld?
Es fliesst zu über 80 Prozent in die Besoldung der Lehrkräfte aller
Stufen. Schule ist personalintensiv und wird es bleiben. Die Schweizer
Lehrerlöhne gehören übrigens innerhalb der OECD zu den höchsten – auch wenn
hierzulande viel geklagt wird.
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