Solothurn
will ein Brückenkanton sein und den Röstigraben überwinden – gerade mit Austauschprojekten
in der Schule. An schönen Worten dazu mangelt es nicht. Doch in der Praxis
hapert es bislang. Warum eigentlich?
Sprachaustausch, die grosse Chance, die kaum jemand nutzt, Schweiz am Wochenende, 3.12. von Sven Altermatt
Es
ist die Französischlektion einer dritten Klasse, die bei den Bildungsstrategen
für gute Stimmung sorgt. Wie werden die Schüler auf einen Austausch mit Kindern
aus der Westschweiz vorbereitet? «Moi, je vais parler toutes les langues»,
singen die Kinder zur Begrüssung. Dann beugen sich die Drittklässler über ihre
Pulte, hantieren mit Buntstiften und Scheren, es wird gemalt und gebastelt. Ein
Adventskalender entsteht. Doch die Türchen werden die Drittklässler im
Hermesbühl-Schulhaus nicht selbst öffnen. Der Kalender mit Vokabelkärtchen ist
ein Geschenk für die Drittklässler im neuenburgischen Cortaillod, für die
Partnerklasse der Solothurner.
Solothurner in Neuenburg
Kaum
waren die Schüler von Französischlehrerin Gwendoline Lovey nach den
Sommerferien mit der fremden Sprache in Berührung gekommen, meldeten sich die
Neuenburger mit einer Videobotschaft bei ihnen. Seither korrespondieren die
Deutschschweizer eifrig mit ihren «Amis romands», jedes Kind soll bald einen
Brieffreund aus Cortaillod bekommen. Der Höhepunkt des Austausches folgt
nächstes Jahr: Die Solothurner werden mit ihrer Lehrerin für gemeinsame
Lektionen ans Collège des Corneilles reisen, und natürlich ist danach auch ein
Gegenbesuch vorgesehen.
Vokabeln,
Grammatik, Diktate? Allein schon der Gedanke an den Fremdsprachenunterricht
sorgte bei Generationen von Schülern für Kopfzerbrechen. Heute sollen bereits
die Kleinsten eine neue Sprache so leicht wie die Muttersprache erlernen. Im
neuen Fremdsprachenkonzept für die Primarschule ist die Rede von einer «aktiven
Austauschkultur»: einerseits durch Französisch ab der dritten Klasse,
andererseits durch auf Kommunikation ausgerichtete Unterrichtsmethoden.
Immersives
Lernen, wie es Experten nennen, bedeutet eintauchen in eine fremde Sprache auf
ganz natürliche Weise. Und zwar so früh wie möglich. Die andere Sprache wird
nicht bewusst erlernt, sondern entwickelt sich idealerweise aus der
sprachlichen Umgebung heraus. Schliesslich diene eine Sprache ja primär der
Verständigung, sagt Lehrerin Lovey. «Es ist darum ein grosser Vorteil, wenn
eine Klasse bereits früh eine Partnerklasse in der Romandie hat.»
Nur wenige sind dabei
Derweil
vergleicht FDP-Regierungsrat Ankli den Fremdsprachenunterricht mit einem
Schwimmkurs. Wer sich Schwimmen beibringen wolle, dürfe sich nicht mit Theorie
begnügen, sagt er. «Man muss dafür auch ins Wasser springen.» Eine Sprache
lerne man nun mal am besten dort, wo sie gesprochen wird. Ankli spricht
diesbezüglich von einer besonderen Verantwortung. Obwohl klar deutschsprachig,
habe Solothurn die Funktion eines Brückenkantons. Laut Verfassung versteht sich
Solothurn als Mittler zwischen den Kulturgemeinschaften der Schweiz. So ist es
etwa selbstverständlich, Französisch als erste Fremdsprache zu lehren.
Den
schönen Worten zum Trotz: Ob der Brückenkanton auch konsequent eine
Brückenfunktion übernimmt, ist fraglich. Denn was im Hermesbühl-Schulhaus so
einfach wirkt, so selbstverständlich, das ist es keineswegs. Ja, der Unterricht
der Drittklässler ist der Idealfall. Vor allem aber ist er ein Einzelfall.
Offizielle
Zahlen zeichnen ein deutliches Bild: Im Kanton Solothurn wird das breite
Angebot an schulischen Austauschprojekten mit der Romandie kaum genutzt. In den
vergangenen Schuljahren waren es jeweils nur rund ein Dutzend von weit über
tausend Klassen, die an entsprechenden Programmen teilnahmen.
Kritik der Bildungspolitiker
Bildungspolitiker
beobachten diese Entwicklung kritisch. Es gehe um wichtige interkulturelle
Kompetenzen, sagt SP-Kantonsrat Mathias Stricker. «Dazu gehört die Fähigkeit,
den Alltag einer anderen Sprachregion zu erkunden und mit der eigenen
Lebenswelt zu vergleichen.» Der Bettlacher präsidiert die Gruppe der
Primarlehrpersonen beim kantonalen Lehrerverband. In einem Vorstoss befragte er
den Regierungsrat zum Sprachaustausch in der Volksschule. Als der Kantonsrat in
seiner jüngsten Session darüber debattierte, waren sich die sonst in Bildungsfragen
eher zerstrittenen Fraktionen für einmal einig: Austauschprogramme bieten ein
grosses Potenzial – allen voran für den Französischunterricht.
Stricker kritisiert, die Behörden agierten heute zu defensiv. «Angebote sind vorhanden, aber selbst Lehrpersonen haben häufig keine Kenntnis davon. Dabei müsste der Kanton Solothurn eigentlich eine führende Rolle einnehmen.» Zu diesem Schluss sind unterdessen auch die Behörden gelangt. «Ich gebe zu», räumt Remo Ankli auf Nachfrage ein: «Die Austauschprojekte müssen noch bekannter gemacht werden.» Zu konkreten Massnahmen will sich der Bildungsdirektor noch nicht äussern. Gleichzeitig betont er, man informiere bereits heute regelmässig über Chancen und Nutzen, etwa mit Beiträgen im «Schulblatt».
Tatsächlich dürfte die mehr oder weniger aktive Informationspolitik nicht der einzige Grund dafür sein, dass es hapert. Gestützt auf Gespräche mit Fachleuten, lassen sich vor allem drei Gründe für das schwache Interesse an Austauschprojekten ausmachen:
Hoher Aufwand: Abklären, organisieren, vorbereiten. Die involvierten Lehrer sind mit beträchtlichen Mehraufwänden konfrontiert – an finanzieller Unterstützung mangelt es jedoch meist. Dass einige Klassen im Solothurner Hermesbühl-Schulhaus von einem Austausch mit Neuenburger Schülern profitieren, fusst vor allem auf dem Engagement von Gwendoline Lovey. Die Französischlehrerin wohnt in Neuenburg, mit der Klassenlehrerin in Cortaillod singt sie in einem Chor. Deshalb sei ihr die Organisation eines Austausches vergleichsweise leicht gefallen, sagt sie. «Andere müssen sich alles neu aufbauen.»
Fehlende Unterstützung: Dass bislang nicht mehr Schulen an einem Austausch teilnehmen, dafür soll nicht zuletzt die CH-Stiftung mit Sitz in Solothurn verantwortlich sein. Bis Ende 2016 war sie im Auftrag des Bundes für die Austauschprogramme verantwortlich. Doch dann war Schluss, die Stiftung verlor ihren Leistungsauftrag. In Evaluationen wurde sie als ineffizient, zu weit weg von den Schulen und zu selbstgefällig kritisiert. Ein vernichtendes Urteil. Seit Januar dieses Jahres kümmert sich die neu gegründete Agentur Movetia, ebenfalls in Solothurn domiziliert, um die Austauschprogramme. Seitens der Kantone setzt man grosse Hoffnung in den Neustart.
2017 sei ein Übergangsjahr, erklärt Claudia Roth, im Solothurner Volksschulamt zuständig für entsprechende Projekte. «Die Agentur evaluiert derzeit, welche Angebote es künftig genau brauchen wird.» Die Movetia-Verantwortlichen betonten beim Start gegenüber dieser Zeitung: Man wolle «möglichst nahe an den Bedürfnissen der Schulen agieren». Mit einem Budget von jährlich 400 000 Franken für den Binnenaustausch sind die finanziellen Möglichkeiten jedoch eher bescheiden. Zum Vergleich: Allein für die Übergangslösung des Studentenaustausches «Erasmus plus» stehen bisher 26 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung.
Schwieriges Umfeld: Der Rücklauf war gering, sehr gering sogar. Gerade einmal zwei Schulleitungen meldeten sich nach einem Aufruf des Volksschulamts, sich in einer Liste eintragen zu lassen, wenn sie an Austauschangeboten interessiert seien. Überraschend ist das nicht: Gerade die Sprachlehrer waren in den vergangenen Jahren mit der Einführung von neuer Didaktik und Methodik gefordert – Französisch wird seit dem Schuljahr 2011/2012 ab der dritten Klasse, Englisch seit 2013/2014 ab der fünften Klasse unterrichtet. «Der zeitliche Aufwand für die Weiterbildung und die Einarbeitung in die neuen Unterrichtsmaterialen» sei für die Lehrer gross gewesen, heisst es aus dem Bildungsdepartement. Austauschprojekte hätten da eben einen schweren Stand und würden «noch nicht angegangen». Man befinde sich jetzt in «einer Phase der Konsolidierung».
Fest steht: Der Kantonsrat hat 2013 ein Reform-Moratorium für Schulprojekte durchgesetzt. Deshalb will der Regierungsrat keine eigenen Pilotprojekte im Sprachaustausch lancieren. Eine feste Aufnahme im Lehrplan erscheint vor diesem Hintergrund erst recht abwegig. Ebenso kann sich der Kanton wegen des seit 2014 geltenden Spardiktats kein gesondertes Pensum für die Funktion der Austauschverantwortlichen leisten.
Lautmalerei als Aha-Erlebnis
Es fehlt also sowohl an Budget als auch an Ressourcen, und letztlich ist der Sprachaustausch vom Engagement einzelner Lehrer oder Schulleitungen abhängig. Zumindest den Fünftklässlern im Solothurner Hermesbühl-Schulhaus muss das keine Sorgen bereiten. Sie waren im vergangenen Jahr die Ersten, die vom Austausch mit den Neuenburger Schülern profitierten.
An diesem Novembermorgen berichten sie dem Bildungsdirektor von ihrem Besuch in Cortaillod. Was ihnen denn in Erinnerung geblieben sei, will Remo Ankli wissen. Das gemeinsame Singen wird genannt. Die französischen Durchsagen im Tram. Der Crêpes-Plausch natürlich. Vor allem aber die Sache mit den Tiergeräuschen, die unterschiedliche Lautmalerei: Im Französischen kräht der Hahn immer «Cocorico», im Deutschen stets «Kikeriki». «Total verrückt ist das», findet einer der Fünftklässler.
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