4. Dezember 2017

Eltern stellen Weichen für das soziale Verhalten

Sind Kinder kleine egoistische Monster? Man könnte es beinahe glauben. Wenn ein Baby schreit, weil es das Fläschchen will, und zwar sofort. Oder weil ein Bub den Spielgefährten schlägt, der ihm ein Eimerchen wegnehmen will. Auch noch später, wenn sie längst den Kinderschuhen entwachsen sind, aber im Tram lautstark Musik hören.Tatsächlich sind Rücksichtnahme, Respekt und Verständnis gegenüber ihren Mitmenschen keine Eigenschaften, die Kindern in die Wiege gelegt werden. Aber es sind Eigenschaften, die sie unbedingt entwickeln müssen, um Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu schliessen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Sei bitte sozial, Tages Anzeiger, 4.12., von Markus Schmid


Soziale Fähigkeiten erleichtern jedoch nicht nur das Zusammenleben mit anderen. Sie entscheiden auch über den schulischen und damit beruflichen Erfolg, hat Markus Neuenschwander, Professor für Pädagogische Psychologie und Leiter des Forschungszentrums Lernen und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz in Solothurn, festgestellt. «Kinder mit ungünstigem Sozialverhalten haben eher Schwierigkeiten beim Übertritt in die Sekundarschule oder wenn sie eine Lehrstelle finden», weiss Neuenschwander durch seine Untersuchungen der Bildungschancen in der Schweiz.

So hätten Lehrmeister erklärt, dass ihnen bei Bewerbungen die Teamfähigkeit wichtiger sei als fachliche Kompetenzen. Doch was führt dazu, dass ein Kind ein gutes Sozialverhalten entwickelt?

Dabei spielen die genetischen Voraussetzungen eine gewisse Rolle. «Ob ein Mensch umgänglich ist, ist eine Frage der Soziabilität, deren individuelle Unterschiede weitgehend angeboren sind», sagt Markus Neuenschwander. Doch ob ein Kind eher ruhig oder temperamentvoll, zugewandt oder aggressiv ist, ist kein ein für allemal festgelegtes Persönlichkeitsmerkmal, das sein Verhalten ein Leben lang bestimmt. «Gene spulen nicht einfach ein in ihnen liegendes Programm ab», erklärt Joachim Bauer, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau, «sondern werden vor allem durch soziale Erfahrungen aktiviert oder inaktiviert.»

Es spricht also alles dafür, dass von Geburt an die Erziehung die Entwicklung eines positiven Sozialverhaltens bestimmt. Dabei sehen die Wissenschaftler vor allem die Eltern in der Pflicht. Zwar spielen Freunde, Kindergarten und Schule im Laufe des Heranwachsens ebenfalls eine bedeutende Rolle. Doch da die Eltern in den ersten Jahren die wichtigsten Bezugspersonen sind, legen sie die Grundsteine für die Fähigkeit des Kindes, im späteren Leben soziales Verhalten an den Tag zu legen.

«Eltern können bis ins frühe Vorschulalter in Bezug auf das Sozialverhalten vieles vorbereiten», sagt Markus Neuenschwander, «und mit einer guten Erziehung im Jugendalter haben sie dann später weniger Schwierigkeiten, wenn sich die Kinder aus dem Bedürfnis nach Autonomie und Identität von den Regeln in der Familie und der Schule abgrenzen.»

Das Erlernen des Sozialverhaltens beginnt vom ersten Tag eines Säuglings an. In dieser Zeit geht es allerdings noch nicht um das Erlernen von gesellschaftlichen Spielregeln, sondern darum, dem Kind Geborgenheit und Liebe zu geben, damit es mit dem Grundgefühl ins Leben starten kann, dass es in seiner Umwelt willkommen ist.

«Es ist wichtig, dass ein Kleinkind spürt, dass es den Bezugspersonen vertrauen kann, dass es geliebt wird und ein positives Bild von sich bekommt», sagt Sonja Perren, Professorin Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit an der Universität Konstanz sowie Pädagogischen Hochschule Thurgau. Mit diesem Urvertrauen falle es Kindern später leichter, die Welt zu entdecken und auf andere Menschen zuzugehen. Fehle das Urvertrauen, so könne ein Kind später Probleme haben, überhaupt eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen.

Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres bleibt die Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind wichtiger für die Entwicklung eines Sozialverhaltens als Verbote und Gebote. Zum wohltuenden Grundgefühl der Nestwärme und der liebevollen Zuwendung kommt nun hinzu, dass Kleinkinder zunehmend auf ihre Umwelt reagieren und das Verhalten der Bezugspersonen imitieren. Auch hier ist es entscheidend, wie liebevoll, zugewandt und einfühlsam die Familie das Kleine behandelt. Es lernt so, anderen ebenso freudig und aufgeschlossen zu begegnen – oder eben teilnahmslos oder sogar abweisend zu reagieren.

Mehr neben- als miteinander
Ab einem Alter von einem Jahr werden auch andere Kinder interessant. Doch noch können sich die Kleinen nicht in andere hineinversetzen, sie spielen mehr neben- als miteinander. Kleine Streitigkeiten um Spielzeug sind daher programmiert, da es einem Kind nicht bewusst ist, dass es dem Spielgefährten nicht gefällt, wenn es ihm den Teddy oder das Lieblingsauto wegnimmt. Lange Erklärungen über Mein und Dein machen dann noch keinen Sinn.

Dennoch sollte man den Streit beenden und den Kindern signalisieren, dass es nicht in Ordnung ist, wenn man jemand anderem etwas wegnimmt. Selbst wenn Kinder in diesem Alter noch nicht richtig miteinander spielen, ist es dennoch sinnvoll, sie zusammenzubringen. Die Gesellschaft Gleichaltriger regt die Entwicklung ihres Sozialverhaltens an, weil sie sich an den Umgang mit anderen gewöhnen und voneinander lernen.

Erst ab dem dritten Lebensjahr würden Kinder beginnen, die Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben zu verinnerlichen, erklärt der Freiburger Neurowissenschaftler Joachim Bauer. Voraussetzung hierfür ist die Reifung des Stirnhirns, die es dem Kind jetzt ermöglicht, zwischen seinen Wünschen und Bedürfnissen und denen seiner Mitmenschen zu unterscheiden.

Noch allerdings sei diese Hirnregion leer, sagt Joachim Bauer, sie müsse erst mit Informationen darüber gefüllt werden, wie sich das, was ich tue, aus der Perspektive anderer darstellt. «Dies», so Bauer, «geschieht im Rahmen eines Prozesses, den wir Erziehung nennen. Erziehung ist ein geduldiger, jahrelanger Dialog, mit dem wir Kinder liebevoll, aber auch konsequent anhalten, ihre Impulse zu kontrollieren, Frustrationen zu ertragen und im Dienste der Gemeinschaft zu warten und zu teilen.»

Auch Erziehungswissenschaftler wie Perren und Neuenschwander plädieren für den von Joachim Bauer beschriebenen sogenannten autoritativen Erziehungsstil, bei dem die Eltern ihrem Nachwuchs deutlich machen, wie weit er im Umgang mit anderen gehen darf. Doch anders als beim autoritären Drill zum wohlerzogenen Kind bleiben die Bezugspersonen dabei zugewandt, liebevoll und respektvoll. Denn «Kinder brauchen ein Bewusstsein für Ordnung und Regeln», sagt Markus Neuenschwander, «und deshalb ist es wichtig, dass die Eltern diese Regeln frühzeitig kommunizieren und auch selbst vorleben».

Doch nicht allein das Wissen, welche Regeln im Zusammenleben gelten, sei wichtig. Die Kinder müssten diese Regeln auch beachten wollen und sie einhalten können. Und da komme es darauf an, dass die Eltern wahrnehmen, wie es einem Kind gehe, und angemessen darauf reagieren.

Über Gefühle sprechen
Kinder, die sich von ihnen nahestehenden Personen angenommen und geliebt fühlen, nehmen nicht nur deren Vorbild und Anleitungen eher an. Sie sind zudem entspannter im Umgang mit anderen, weil sie nicht um deren Anerkennung kämpfen müssen. «Soziales Verhalten bedeutet auch, dass man seine Bedürfnisse und Ziele äussern kann», sagt Sonja Perren, «bei deren Durchsetzung aber die Bedürfnisse und Ziele der anderen berücksichtigt.»

Eltern sollten daher mit ihren Kindern über Gefühle sprechen, über ihre wie auch über die anderer Menschen. «Wenn ich mit einem Kind über seine Wut oder Angst rede, dann merkt es, dass man das beschreiben und überwinden kann, was es empfindet», sagt Sonja Perren. Erkläre man ihm, warum ein Spielkamerad verärgert oder glücklich ist, lerne es die Emotionen anderer zu erkennen und zu verstehen.

Zuwendung und Anteilnahme der Eltern bleiben auch im Jugendalter wichtig, wenn sich die Kinder allmählich vom Elternhaus lösen und der Einfluss der Freunde grösser wird. Dann können die Eltern rechtzeitig eingreifen, wenn sich der Sohn oder die Tochter in den falschen Kreisen bewegt, und die Kinder wissen, sie können mit ihren Eltern rechnen, wenn sie Probleme in ihrem sozialen Umfeld haben.

Für die Korrektur schwierigen Sozialverhaltens ist es auch im Jugendalter nicht zu spät. Markus Neuenschwander hat deshalb mit seinem Team das Förderprogramm InSSel (Intervention zur Förderung von Sozial- und Selbstkompetenzen) entwickelt, das seit 2011 in einigen Aargauer Schulen angeboten wird. Dort treffen sich die Jugendlichen mit Disziplinproblemen in kleinen Gruppen und kochen unter Anleitung eines Jugendcoachs für das Lehrerkollegium, arbeiten an einem Kunstprojekt oder organisieren in der Pause einen Kioskverkauf.


Durch die Zusammenarbeit lernen die Beteiligten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, Konflikte zu lösen und Regeln zu beachten. Mit Erfolg, so Neuenschwander: «Die Unterrichtsstörungen haben dadurch deutlich abgenommen.»

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