Sind Kinder kleine egoistische Monster? Man könnte es beinahe
glauben. Wenn ein Baby schreit, weil es das Fläschchen will, und zwar sofort.
Oder weil ein Bub den Spielgefährten schlägt, der ihm ein Eimerchen wegnehmen
will. Auch noch später, wenn sie längst den Kinderschuhen entwachsen sind, aber
im Tram lautstark Musik hören.Tatsächlich sind Rücksichtnahme, Respekt und Verständnis
gegenüber ihren Mitmenschen keine Eigenschaften, die Kindern in die Wiege
gelegt werden. Aber es sind Eigenschaften, die sie unbedingt entwickeln müssen,
um Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu schliessen und ihren Platz in der
Gesellschaft zu finden.
Sei bitte sozial, Tages Anzeiger, 4.12., von Markus Schmid
Soziale Fähigkeiten erleichtern jedoch nicht nur das
Zusammenleben mit anderen. Sie entscheiden auch über den schulischen und damit
beruflichen Erfolg, hat Markus Neuenschwander, Professor für Pädagogische
Psychologie und Leiter des Forschungszentrums Lernen und Sozialisation an der
Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz in Solothurn, festgestellt. «Kinder
mit ungünstigem Sozialverhalten haben eher Schwierigkeiten beim Übertritt in
die Sekundarschule oder wenn sie eine Lehrstelle finden», weiss Neuenschwander
durch seine Untersuchungen der Bildungschancen in der Schweiz.
So hätten Lehrmeister erklärt, dass ihnen bei Bewerbungen die
Teamfähigkeit wichtiger sei als fachliche Kompetenzen. Doch was führt dazu,
dass ein Kind ein gutes Sozialverhalten entwickelt?
Dabei spielen die genetischen Voraussetzungen eine gewisse
Rolle. «Ob ein Mensch umgänglich ist, ist eine Frage der Soziabilität, deren
individuelle Unterschiede weitgehend angeboren sind», sagt Markus
Neuenschwander. Doch ob ein Kind eher ruhig oder temperamentvoll, zugewandt
oder aggressiv ist, ist kein ein für allemal festgelegtes
Persönlichkeitsmerkmal, das sein Verhalten ein Leben lang bestimmt. «Gene
spulen nicht einfach ein in ihnen liegendes Programm ab», erklärt Joachim
Bauer, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau,
«sondern werden vor allem durch soziale Erfahrungen aktiviert oder
inaktiviert.»
Es spricht also alles dafür, dass von Geburt an die Erziehung
die Entwicklung eines positiven Sozialverhaltens bestimmt. Dabei sehen die
Wissenschaftler vor allem die Eltern in der Pflicht. Zwar spielen Freunde,
Kindergarten und Schule im Laufe des Heranwachsens ebenfalls eine bedeutende
Rolle. Doch da die Eltern in den ersten Jahren die wichtigsten Bezugspersonen
sind, legen sie die Grundsteine für die Fähigkeit des Kindes, im späteren Leben
soziales Verhalten an den Tag zu legen.
«Eltern können bis ins frühe Vorschulalter in Bezug auf das Sozialverhalten
vieles vorbereiten», sagt Markus Neuenschwander, «und mit einer guten Erziehung
im Jugendalter haben sie dann später weniger Schwierigkeiten, wenn sich die
Kinder aus dem Bedürfnis nach Autonomie und Identität von den Regeln in der
Familie und der Schule abgrenzen.»
Das Erlernen des Sozialverhaltens beginnt vom ersten Tag eines
Säuglings an. In dieser Zeit geht es allerdings noch nicht um das Erlernen von
gesellschaftlichen Spielregeln, sondern darum, dem Kind Geborgenheit und Liebe
zu geben, damit es mit dem Grundgefühl ins Leben starten kann, dass es in
seiner Umwelt willkommen ist.
«Es ist wichtig, dass ein Kleinkind spürt, dass es den
Bezugspersonen vertrauen kann, dass es geliebt wird und ein positives Bild von
sich bekommt», sagt Sonja Perren, Professorin Entwicklung und Bildung in der
Frühen Kindheit an der Universität Konstanz sowie Pädagogischen Hochschule
Thurgau. Mit diesem Urvertrauen falle es Kindern später leichter, die Welt zu
entdecken und auf andere Menschen zuzugehen. Fehle das Urvertrauen, so könne
ein Kind später Probleme haben, überhaupt eine Beziehung zu anderen Menschen
aufzubauen.
Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres bleibt die Beziehung
zwischen Bezugsperson und Kind wichtiger für die Entwicklung eines
Sozialverhaltens als Verbote und Gebote. Zum wohltuenden Grundgefühl der
Nestwärme und der liebevollen Zuwendung kommt nun hinzu, dass Kleinkinder
zunehmend auf ihre Umwelt reagieren und das Verhalten der Bezugspersonen
imitieren. Auch hier ist es entscheidend, wie liebevoll, zugewandt und
einfühlsam die Familie das Kleine behandelt. Es lernt so, anderen ebenso
freudig und aufgeschlossen zu begegnen – oder eben teilnahmslos oder sogar
abweisend zu reagieren.
Mehr neben- als miteinander
Ab einem Alter von einem Jahr werden auch andere Kinder
interessant. Doch noch können sich die Kleinen nicht in andere hineinversetzen,
sie spielen mehr neben- als miteinander. Kleine Streitigkeiten um Spielzeug
sind daher programmiert, da es einem Kind nicht bewusst ist, dass es dem
Spielgefährten nicht gefällt, wenn es ihm den Teddy oder das Lieblingsauto
wegnimmt. Lange Erklärungen über Mein und Dein machen dann noch keinen Sinn.
Dennoch sollte man den Streit beenden und den Kindern
signalisieren, dass es nicht in Ordnung ist, wenn man jemand anderem etwas
wegnimmt. Selbst wenn Kinder in diesem Alter noch nicht richtig miteinander
spielen, ist es dennoch sinnvoll, sie zusammenzubringen. Die Gesellschaft
Gleichaltriger regt die Entwicklung ihres Sozialverhaltens an, weil sie sich an
den Umgang mit anderen gewöhnen und voneinander lernen.
Erst ab dem dritten Lebensjahr würden Kinder beginnen, die
Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben zu verinnerlichen, erklärt der
Freiburger Neurowissenschaftler Joachim Bauer. Voraussetzung hierfür ist die
Reifung des Stirnhirns, die es dem Kind jetzt ermöglicht, zwischen seinen
Wünschen und Bedürfnissen und denen seiner Mitmenschen zu unterscheiden.
Noch allerdings sei diese Hirnregion leer, sagt Joachim Bauer,
sie müsse erst mit Informationen darüber gefüllt werden, wie sich das, was ich
tue, aus der Perspektive anderer darstellt. «Dies», so Bauer, «geschieht im
Rahmen eines Prozesses, den wir Erziehung nennen. Erziehung ist ein geduldiger,
jahrelanger Dialog, mit dem wir Kinder liebevoll, aber auch konsequent
anhalten, ihre Impulse zu kontrollieren, Frustrationen zu ertragen und im
Dienste der Gemeinschaft zu warten und zu teilen.»
Auch Erziehungswissenschaftler wie Perren und Neuenschwander
plädieren für den von Joachim Bauer beschriebenen sogenannten autoritativen
Erziehungsstil, bei dem die Eltern ihrem Nachwuchs deutlich machen, wie weit er
im Umgang mit anderen gehen darf. Doch anders als beim autoritären Drill zum
wohlerzogenen Kind bleiben die Bezugspersonen dabei zugewandt, liebevoll und
respektvoll. Denn «Kinder brauchen ein Bewusstsein für Ordnung und Regeln»,
sagt Markus Neuenschwander, «und deshalb ist es wichtig, dass die Eltern diese
Regeln frühzeitig kommunizieren und auch selbst vorleben».
Doch nicht allein das Wissen, welche Regeln im Zusammenleben
gelten, sei wichtig. Die Kinder müssten diese Regeln auch beachten wollen und
sie einhalten können. Und da komme es darauf an, dass die Eltern wahrnehmen,
wie es einem Kind gehe, und angemessen darauf reagieren.
Über Gefühle sprechen
Kinder, die sich von ihnen nahestehenden Personen angenommen und
geliebt fühlen, nehmen nicht nur deren Vorbild und Anleitungen eher an. Sie
sind zudem entspannter im Umgang mit anderen, weil sie nicht um deren
Anerkennung kämpfen müssen. «Soziales Verhalten bedeutet auch, dass man seine
Bedürfnisse und Ziele äussern kann», sagt Sonja Perren, «bei deren Durchsetzung
aber die Bedürfnisse und Ziele der anderen berücksichtigt.»
Eltern sollten daher mit ihren Kindern über Gefühle sprechen,
über ihre wie auch über die anderer Menschen. «Wenn ich mit einem Kind über
seine Wut oder Angst rede, dann merkt es, dass man das beschreiben und
überwinden kann, was es empfindet», sagt Sonja Perren. Erkläre man ihm, warum
ein Spielkamerad verärgert oder glücklich ist, lerne es die Emotionen anderer
zu erkennen und zu verstehen.
Zuwendung und Anteilnahme der Eltern bleiben auch im Jugendalter
wichtig, wenn sich die Kinder allmählich vom Elternhaus lösen und der Einfluss
der Freunde grösser wird. Dann können die Eltern rechtzeitig eingreifen, wenn
sich der Sohn oder die Tochter in den falschen Kreisen bewegt, und die Kinder
wissen, sie können mit ihren Eltern rechnen, wenn sie Probleme in ihrem
sozialen Umfeld haben.
Für die Korrektur schwierigen Sozialverhaltens ist es auch im
Jugendalter nicht zu spät. Markus Neuenschwander hat deshalb mit seinem Team
das Förderprogramm InSSel (Intervention zur Förderung von Sozial- und
Selbstkompetenzen) entwickelt, das seit 2011 in einigen Aargauer Schulen
angeboten wird. Dort treffen sich die Jugendlichen mit Disziplinproblemen in
kleinen Gruppen und kochen unter Anleitung eines Jugendcoachs für das
Lehrerkollegium, arbeiten an einem Kunstprojekt oder organisieren in der Pause
einen Kioskverkauf.
Durch die Zusammenarbeit lernen die Beteiligten, Beziehungen zu
anderen Menschen aufzubauen, Konflikte zu lösen und Regeln zu beachten. Mit
Erfolg, so Neuenschwander: «Die Unterrichtsstörungen haben dadurch deutlich
abgenommen.»
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