Seit diesem Schuljahr
gibt es im Thurgau neue Zeugnisse. Sie sind an den Lehrplan 21 angepasst. Darin
gibt es keine mündlichen Noten mehr und nicht alle Schulen müssen die Fächer
gleich aufteilen. Lehrer und Politiker wehren sich.
Ärger mit neuen Schulzeugnissen, St. Galler Tagblatt, 17.12. von Larissa Flammer
Die nervöse Anspannung am
letzten Schultag des Semesters, das Kribbeln im Bauch – bis man die
Zeugnisnoten endlich in Händen hält. Nur: in diesem Schuljahr dauert es
vielleicht etwas länger, bis man den Sinn des Geschriebenen erfasst. Mit dem
neuen Lehrplan Volksschule Thurgau hat der Kanton diesen Sommer auch neue
Zeugnisformulare eingeführt. Die wesentlichen Änderungen auf Sekundarstufe I
sind in der Tabelle unten dargestellt. Der Hauptunterschied liegt darin, dass
es keine mündlichen Noten mehr gibt.
«Wir sind aus allen
Wolken gefallen, als in den Sommerferien das Mail vom Kanton gekommen ist»,
sagt Anne Varenne, Präsidentin von Bildung Thurgau. Die Berufsorganisation der
Thurgauer Lehrerinnen und Lehrer war davon ausgegangen, dass die Neuerungen
erst in einem Schulversuch getestet werden. So habe es der Regierungsrat
aufgrund der Rückmeldungen in der Vernehmlassung entschieden. An den
Jahrestagungen der Lehrer im Herbst hat sich Beat Brüllmann, Chef des Amts für
Volksschule, für die misslungene Kommunikation entschuldigt und versucht, alle
Fragen zu klären. «Das haben wir sehr geschätzt», sagt Varenne.
Den Schulversuch gibt es
trotzdem. Bis im Winter 2019 testen 80 Lehrpersonen im Kanton unter anderem
Kompetenzprofile, die den Zeugnisnoten beigelegt werden sollen. Bildung Thurgau
ist in den Schulversuch mit einbezogen und wird danach auch an der Analyse
beteiligt sein. Die neu geschaffene Regelung ist also eine Übergangslösung. Im
Sommer 2021 wird eine neue kantonale Beurteilungsgrundlage eingeführt.
Politik schaut während der Erarbeitung
genau hin
Nach den Sommerferien
sind die Irritationen über die neuen Zeugnisse «sehr geballt» aufgetreten. Die
Präsidentin von Bildung Thurgau sagt: «An den Elternabenden mussten die
Lehrpersonen über die Neuerungen informieren, wussten aber selber nicht genau,
wie diese umgesetzt werden.» Ihr erster Kritikpunkt betrifft die
Einschätzungsskala für die 1. und 2. Klasse. Anstelle von Noten hiess es dort
bisher: «Lernziele sehr gut erreicht», «gut erreicht», «erreicht» oder «nicht
erreicht». Neu gibt es nur noch drei Abstufungen. «Wir haben uns vehement
dagegen gewehrt. So werden die meisten Schülerinnen und Schüler in der Mitte
eingestuft», sagt Varenne. Da es trotzdem so eingeführt wurde, fühlen sich die Lehrer
nicht ernst genommen.
Ein zweiter Kritikpunkt
betrifft die fehlenden mündlichen Noten in den Sprachen. «Für gewisse
Berufsgruppen sind diese wichtig.» Bildung Thurgau äussert zudem Bedenken zur
Zusammensetzung der neuen Gesamtnote. Da mündliche Noten aufwendiger zu erheben
sind, kann eine Gesamtnote dazu verführen, nur noch schriftliche Leistungen zu
bewerten.
Der dritte Kritikpunkt
zielt auf die Möglichkeit der Schulgemeinden, auf Sekundarstufe I in Eigenregie
Sammelnoten zu setzen. Physik, Chemie und Biologie können zu «Natur und
Technik» zusammengefasst werden, Geografie und Geschichte zu «Räume, Zeiten,
Gesellschaften» und Bildnerisches, Textiles sowie Technisches Gestalten zu
«Gestalten». Ein Schreinermeister kann sich also nicht sicher sein, dass sein
Lehrling gut mit Holz umgehen können wird, nur weil er im Fach Gestalten die
Note 5,5 hatte. Diese könnte mit guten Leistungen im Zeichnen oder Nähen
zustande gekommen sein. «Wir wollen, dass die Zeugnisse im ganzen Kanton gleich
aufgebaut sind», betont Anne Varenne.
Aufgrund der Kritik hat
das Amt für Volksschule im September bereits eine Anpassung an den Zeugnissen
vorgenommen. Eigentlich hätte die Note für Geometrie wegfallen sollen. Das Amt
schrieb in einer Mitteilung: «Im Hinblick auf die Lehrstellensuche können
differenzierte Aussagen über die Leistungen in Geometrie von Bedeutung sein.»
Auf Sekundarstufe I ist dieses Fach also wieder im Zeugnis vertreten.
Beat Brüllmann erklärt:
«Mündliche und schriftliche Noten sind nicht mehr kompatibel mit dem neuen
Lehrplan.» Dieser sehe die Beurteilung mit Gesamtnoten vor, welche nach dem
Schulversuch allenfalls mit Kompetenzen ergänzt werden können. Bis dahin können
die Noten in der Spalte «Bemerkung» differenziert werden. Vier Jahre nach der
Einführung des Lehrplans will der Kanton ein Zeugnis haben, das alle mittragen.
«Wir fragen auch, was das Gewerbe braucht.» Angestrebt wird ein kantonsweit
einheitliches Zeugnis, auch wenn dem in der Übergangsphase nicht so ist.
«Thurgauer
Schulzeugnisse – aussagekräftig und vergleichbar?» Diese Frage stellen sichauch sechs Kantonsräte aus SVP, GP, FDP, CVP und SP. Sie bitten den
Regierungsrat in einer Interpellation um Antworten zu den Sammelnoten und der
Vergleichbarkeit der Zeugnisse. Brüllmann sagt: «Diese Interpellation ist eine
Chance für uns.» So hören die Verantwortlichen bereits während der
Erarbeitungsphase, was die Politik dazu sagt. «Damit gibt es eine Lösung, die
politisch auch tragfähig ist.» Eine, die nicht erst nach Inkrafttreten durch
Vorstösse wieder geändert werden muss.
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