Wie steht es um die Bildung unserer Schüler?
Die Politik versucht nicht zuletzt mit Reformen, Schüler schnell schlau zu
machen. Vorsicht, mahnen Experten. Richtige Bildung habe viel mit
Entschleunigung zu tun.
Schlechtes Zeugnis für Bildungspolitik, Deutsche Presseagentur, 26.12. von Matthias Röder
Ein schlechtes Zeugnis stellt der
österreichische Philosoph, Autor und Bildungsexperte Konrad Paul Liessmann den
Bildungspolitikern in Deutschland und Österreich aus. In den Schulen dominiere
der Glaube an den Erwerb von Kompetenzen, egal, an welchen Texten, Aufgaben und
Theorien diese geübt würden, sagt der 64-Jährige der Deutschen
Presse-Agentur. Für ihn ein Irrweg. "Die effizienz- und kompetenzorientierte
Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativität zu
entwickeln."
Deutsche Presseagentur: Die deutschen
Schüler sind laut Pisa-Studie recht gut in "Teamarbeit". Teilen Sie
die Freude?
Konrad Paul Liessmann: Ich stehe Pisa-Studien
prinzipiell skeptisch gegenüber. Darüber hinaus glaube ich, dass Teamarbeit
wenig mit Bildung zu tun hat und überschätzt wird. Zudem wurde diese
Kompetenz nicht in realen Situationen, sondern in Computersimulationen
getestet. Das ist ein sehr zeitgeistiger Ansatz. Bildung ist eine Sache von
Einzelnen und auch von Einsamen.
Was ist Bildung?
Die Bildung des Menschen beinhaltet Formung,
Entfaltung, Orientierung, Selbstgestaltung und das Gewinnen einer auch
ästhetischen Urteilskraft. Bildung lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb
von Wissen, aber auch nicht auf den Erwerb von Kompetenzen. Bildung meint
immer, wie kann ein Mensch seine Haltung, seinen Charakter, seine Fähigkeiten
zu einer Mündigkeit entwickeln. Bildung kennt also letztlich keine
definierbaren Ziele, sondern ist ein offener Prozess.
Was hat die Bildungspolitik in Österreich
und Deutschland mit Bildung zu tun?
Gar nichts. Es geht ihr nicht mehr um die
Bildung des Menschen, sondern es geht ihr um das Schulen und Testen von
einzelnen Fähigkeiten. Es geht ihr nicht mehr, und da wage ich eine Trendwende
zu prognostizieren, um die Inhalte der Bildung. In den Lehrplänen geht es um
den Erwerb der Lesekompetenz, aber dabei wird völlig ausgeklammert, was
gelesen wird. Dabei sind Inhalte entscheidend. Denn nur diese berühren
Menschen. Kompetenzen lassen kalt.
Sind die Lehrer die neuen Coaches fürs
Leben?
Ich würde Lehrer davor warnen, ihr
Selbstverständnis in dieser neuen Form des Coachings und der Begleitung der
Schüler zu sehen. Lehrer sollen Lehrer sein. Pädagogen müssen das Gefühl
haben, dass sie etwas Wichtiges weitergeben wollen, gerne mit persönlicher
Färbung und persönlichem Stil. Der gute Deutschlehrer begnügt sich nicht
damit, Leseprozesse zu coachen, sondern ist von der Notwendigkeit überzeugt,
Kafka, Thomas Mann oder Peter Handke zu lesen.
Die Lehrer leiden Ihrer Ansicht nach unter
einer selbst auferlegten "Zerknirschungsstrategie". Was meinen Sie
damit?
Das ist eine neue Mode in der Lehreraus- und
fortbildung: Ständige Selbstreflexion und Selbstrechenschaft, ständige
Selbstüberprüfung von eigenen Defiziten und dem Nicht-Erreichen von Zielen.
Das Selbst-Monitoring ist eine Variante der pietistischen Selbstbeobachtung.
Natürlich braucht man kritische Distanz zu sich und seiner Tätigkeit. Aber
wir müssen weg von diesem Phantasma permanenter Kontrollierbarkeit und der
permanenten Vergleichstest. Das schafft nur unglückliche Lehrer und damit
unglückliche Schüler.
Was haben Bildung und Muße miteinander zu
tun?
In der Antike wusste man, dass
Bildungsprozesse keine Arbeitsprozesse sind. Muße bedeutet, dass ich mich mit
Dingen um ihrer selbst willen befassen kann und nicht ständig darauf schielen
muss: Erreiche ich damit ein Ziel, löse ich damit ein Problem? Nur Freiräume
befördern die Bildung. Effizienz allein bedeutet keinen Fortschritt. Gerade
heute wäre nichts so sehr nötig wie Fantasie. Die effizienz- und
kompetenzorientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und
Kreativität zu entwickeln.
Kann man einfach das Ruder herumreißen?
Das ist keine unmögliche Aufgabe. Man kann
natürlich Zeitordnungen und Lehrpläne an Schulen und Universitäten anders
gestalten. Man kann aus den Bildungssystemen den dramatischen Druck nehmen. Wir
sind die reichste Gesellschaft aller Zeiten mit der höchsten Lebenserwartung
aller Zeiten – wir können problemlos 40 bis 45 Jahre arbeiten und hätten noch
viel Zeit für Bildungsprozesse mit Muße. Ich sehe keinen Grund für den
Zeitdruck im Bildungssystem.
Wo mangelt es auffallend an Bildung?
In den sozialen Netzwerken. Dort herrscht
Bildungsmangel schon durch den Mangel an Kinderstube und Selbstbeherrschung.
Viele wissen nicht, wie man argumentiert, wie man unterscheidet zwischen
Argumenten einer Sache gegenüber und unzulässigen Argumenten einer Person
gegenüber. Dabei wäre eine profunde Diskussion mit auch scharfer Kritik
hilfreich. Ich sehe eine Paradoxie. Wir machen Bildungseinrichtungen zu
schmerzfreien Räumen, wo nichts mehr gedacht werden darf, was jemand als
anstößig empfinden könnte. Dieser Hyper- Empfindlichkeit steht gleichzeitig
eine Vulgarisierung der Öffentlichkeit gegenüber. Beides ist das Gegenteil
von Bildung.
Welche Rolle spielen Intellektuelle in Zeiten
der "Political Correctness"?
Intellektuelle tendieren dazu, das Volk zu
bevormunden. Diese Gefahr muss man sehen. Die einfachste Art, sich mit den
Positionen des Anderen nicht auseinanderzusetzen, ist, ihn zu pathologisieren
wie bei der Flüchtlingsfrage. Da wurden Skeptiker zu Kranken erklärt:
Islamophobie. Wenn Erwachsene Angst haben, Anstoß zu erregen, führt das zu
einer Verkümmerung des Sprech- und Denkvermögens. Es muss aber auch klar
sein: Niemand ist verpflichtet, sich mit anderen unter seinem Niveau auseinanderzusetzen.
Ich muss mich wirklich nicht mit den primitivsten Vorurteilen und Hassorgien
befassen.
Was erwarten Sie vom EU-Bildungsgipfel 2018?
Es wäre eine schöne Bildungsinitiative,
einen Kanon von 20 bis 25 Schlüsselwerken europäischer Literatur von der
griechischen Antike bis zu James Joyce zu empfehlen. Diese Bücher waren und
sind doch die Grundlage für die kulturelle Identität Europas. Meine Prognose
ist, dazu wird es nicht kommen. Es wird wieder nur um Standardisierung gehen,
darum wie man Kompetenzen noch präziser evaluieren kann, noch effizienter die
Arbeitsmärkte bedienen kann und den Internet- Konzernen im Bildungsbereich
noch mehr Spielwiesen verschaffen kann.
Zur Person:
Der 64-Jährige lehrt an der Universität
Wien, ist Autor vieler Publikationen und befasst sich seit langem intensiv mit
der Bildungspolitik. Zuletzt erschien sein Buch
"Bildung als Provokation". Der Rennradfahrer ist Kritiker des
Autoverkehrs und Karl-May-Fan.
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