Das Lesen ist die die erste Voraussetzung für ein unabhängiges Urteil.
Diese Kulturtechnik ist gefährdet. Es gilt als gesellschaftsfähig, Bücher zu
ignorieren. Alle Bildungsreformen haben die Lage in Deutschland
verschlimmbessert.
Wir klicken und pöbeln. Wir sollten lesen und denken, Welt, 2.11. von Susanne Gaschke
In Deutschland
bekommen wir womöglich bald eine bürgerliche Regierung. Wie steht sie zur
Schriftkultur, was sagt sie zur Bedeutung von Büchern und Zeitungen für unsere
demokratische Öffentlichkeit und für unsere Lebensqualität?
Bei der Beantwortung dieser Fragen
geht es nicht um irgendwelche technokratischen Bildungspläne, für die der Bund
gegenwärtig ohnehin nicht zuständig wäre. Es geht eher um eine Haltung, um ein
Problembewusstsein. Das Problem ist das Lesen selbst. Es ist die zentrale
Kulturtechnik, die erste Voraussetzung für ein unabhängiges Urteil, für
historische und politische Kenntnisse, Empathiefähigkeit, intellektuellen
Genuss.
Nicht zu lesen gilt als gesellschaftsfähig
Diese Kulturtechnik ist gefährdet. Und zwar formal, in Bezug auf Rechtschreibkenntnisse, Grammatik,
Konzentrationsvermögen, Textverständnis – Grundschüler, Schulabgänger und
Studierende zeigen in all diesen Bereichen immer schwächere Leistungen. Das
Lesen ist außerdem inhaltlich, imagemäßig, vielleicht kann man sogar sagen:
ideologisch gefährdet.
Heute gilt es als gesellschaftsfähig, nicht zu lesen. Nur noch jeder
fünfte Deutsche verbringt Zeit mit Belletristik und Sachbüchern, so wie andere
Leute Serien anschauen oder bei Facebook herumturnen. Es herrscht eine
Massenkultur der digitalen Zerstreuung; gleichzeitig ist dramatisch ungeklärt,
ob das digitale Lesen die gleiche tiefe Durchdringung von Texten erlaubt wie
das analoge Lesen auf Papier.
Für die Krise des Lesens gibt es eine Reihe von Gründen. Der formale
Verfall der Lesefähigkeit ist die Folge von bildungspolitischen Reformen der
vergangenen 30 Jahre, die allesamt auf bessere Chancen für benachteiligte Schüler zielten und
das Gegenteil von dem erreichten, was sie erreichen wollten.
Die angeblich der Vereinfachung dienende
Rechtschreibreform hat zu weitgehender Verunsicherung geführt, Groß- und
Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und „s“ oder „ss“ fallen
jetzt fast durchgängig fehlerhaft aus.
Die Bekämpfung der Schreibschrift im
Grundschulunterricht nimmt gerade den eher mühsam lernenden Kindern die
Möglichkeit zur sensomotorischen Verknüpfung von Wortbild und Wortbedeutung.
Die antiautoritär inspirierte Aversion gegen das Üben und Wiederholen beim
Schreibenlernen schadet besonders den Schwachen.
Chaotische Zustände in den Klassenräumen
Das weit verbreitete „Schreiben nach Gehör“ ist
eine zutiefst frustrierende Methode, die Kinder zunächst zwingt, etwas Falsches
zu lernen, und sie danach nötigt, es wieder zu verlernen. (Für Kinder mit
fremdsprachigem Hintergrund ist sie vollkommen sinnlos.)
Das „jahrgangsübergreifende Lernen“ hat zu
chaotischen Zuständen in den Klassenräumen geführt, in denen die unsicheren
Schüler aus dem Blick geraten und das dringend notwendige Unterrichtsgespräch
auf der Strecke bleibt.
Die schwindende Zahl von Lektüren an den
weiterführenden Schulen und die anspruchslose Literaturvermittlung fördern kaum
das Entstehen von literarischer Leidenschaft und Neugier bei den Schülern.
Die Weigerung, sich noch auf einen Kanon von
Romanen und Lyrik zu einigen, die ein Schulabgänger mit mittlerer Reife oder
Abitur unbedingt kennen sollte, öffnen einem Relativismus Tür und Tor, der
besonders die Nichtbildungsbürgerkinder orientierungslos zurücklässt. All die,
denen die Sprache ein fremdes,
gefährliches Terrain zu sein scheint, werden niemals zu Lesern werden.
Obwohl die Mehrzahl wissenschaftlicher Studien das
Lesen auf Bildschirmen als flüchtiger und ungenauer ausweist als das Lesen auf
Papier (schon allein, weil Papier eine andere räumliche Verortbarkeit der
wichtigen Gedanken erlaubt und den Leser nicht ständig mit Nachrichten und
Kommentaren ablenkt), geht beispielsweise die Rhetorik, mit der die
Bundesregierung für ihren „Digitalpakt“ wirbt, in eine
ganz andere Richtung.
Hier steht die Bedienung von Endgeräten im
Vordergrund, mit denen die Steuerzahler alle Schulen ausrüsten sollen – für
Milliardenbeträge, ohne Wirksamkeitsnachweis oder Unterrichtskonzept.
Feindselige Signale an Autoren und Verlage
Die unkritische Fetischisierung der Technologie
bedeutet zugleich eine Abwertung geisteswissenschaftlicher und politischer
Bildung. Zwar sind wir noch nicht so weit wie in Großbritannien, wo
regierungsamtliche Stellen Studierenden raten, sich im Namen von „Produktivität
und Wettbewerb“ für Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften zu entscheiden.
Aber der offensiven Werbung für MINT-Fächer
(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) durch Bundesregierung,
Landesregierungen, interessierte Stiftungen und Wissenschaftsinstitutionen
entspricht keinerlei ähnlich entschiedenes Eintreten für Demokratiekenntnisse
und kulturelle Zurechnungsfähigkeit. Der andere Blick auf die Welt, der
radikale Perspektivwechsel, den nur das Lesen von Literatur erlaubt, zählt in
diesem Fortschrittsuniversum nichts.
Die politische Sphäre hat ihr weitgehendes
Desinteresse an geistigen Leistungen auch durch drei hochproblematische
Regelungen der vergangenen Legislaturperiode unter Beweis gestellt: die Novelle
des Urhebervertragsrechts, die Beteiligung der Verlage an den Ausschüttungen
der VG Wort und das „Gesetz zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen
Erfordernisse der Wissensgesellschaft“. Ohne hier ins Detail gehen zu können:
Alle drei Regelungen waren geradezu feindselige Signale an Autoren und Verlage.
Der erfolgreiche
britische Autor Nick Hornby hat sich in einem seiner Bücher einmal
folgende Situation vorgestellt: Er geht am späten Abend nach Hause. Plötzlich
wird er von einer Gruppe gewaltbereiter Literatur-Hooligans überfallen, die ihm
Prügel androhen, wenn er nicht sofort preisgibt, wer sein Lieblingsautor ist.
Hornby malt sich
aus, wie er lieber Schläge einstecken würde, als sein in Jahren erworbenes
literarisches Urteil derart verengen zu müssen. Nur wenn die Angreifer seine
Adresse und den Schulweg seiner Kinder kennen würden, schreibt er, würde er
sich wohl widerstrebend eine Antwort abringen lassen.
Ich wünsche mir
bürgerliche Regierungsvertreter, die Hornbys Gedankenspiel nachvollziehen und
den Witz daran verstehen können. Seine erzwungene Antwort würde übrigens
„Charles Dickens“ gelautet haben.
Dieser
sprachgewaltige, oft bitter sarkastische Chronist der sozialen Zustände des 19.
Jahrhunderts in England hätte sicher auch unser modernes Analphabetentum
schonungslos beschrieben: Leute, die zwar noch klicken, online einkaufen oder
in sozialen Netzwerken pöbeln und
nutzlose Daten generieren können. Aber eben nicht mehr richtig lesen, schreiben
oder denken.
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