5. November 2017

Lesen und denken statt klicken

Das Lesen ist die die erste Voraussetzung für ein unabhängiges Urteil. Diese Kulturtechnik ist gefährdet. Es gilt als gesellschaftsfähig, Bücher zu ignorieren. Alle Bildungsreformen haben die Lage in Deutschland verschlimmbessert.
Wir klicken und pöbeln. Wir sollten lesen und denken, Welt, 2.11. von Susanne Gaschke


In Deutschland bekommen wir womöglich bald eine bürgerliche Regierung. Wie steht sie zur Schriftkultur, was sagt sie zur Bedeutung von Büchern und Zeitungen für unsere demokratische Öffentlichkeit und für unsere Lebensqualität?

Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nicht um irgendwelche technokratischen Bildungspläne, für die der Bund gegenwärtig ohnehin nicht zuständig wäre. Es geht eher um eine Haltung, um ein Problembewusstsein. Das Problem ist das Lesen selbst. Es ist die zentrale Kulturtechnik, die erste Voraussetzung für ein unabhängiges Urteil, für historische und politische Kenntnisse, Empathiefähigkeit, intellektuellen Genuss.

Nicht zu lesen gilt als gesellschaftsfähig
Diese Kulturtechnik ist gefährdet. Und zwar formal, in Bezug auf Rechtschreibkenntnisse, Grammatik, Konzentrationsvermögen, Textverständnis – Grundschüler, Schulabgänger und Studierende zeigen in all diesen Bereichen immer schwächere Leistungen. Das Lesen ist außerdem inhaltlich, imagemäßig, vielleicht kann man sogar sagen: ideologisch gefährdet.
Heute gilt es als gesellschaftsfähig, nicht zu lesen. Nur noch jeder fünfte Deutsche verbringt Zeit mit Belletristik und Sachbüchern, so wie andere Leute Serien anschauen oder bei Facebook herumturnen. Es herrscht eine Massenkultur der digitalen Zerstreuung; gleichzeitig ist dramatisch ungeklärt, ob das digitale Lesen die gleiche tiefe Durchdringung von Texten erlaubt wie das analoge Lesen auf Papier.

Für die Krise des Lesens gibt es eine Reihe von Gründen. Der formale Verfall der Lesefähigkeit ist die Folge von bildungspolitischen Reformen der vergangenen 30 Jahre, die allesamt auf bessere Chancen für benachteiligte Schüler zielten und das Gegenteil von dem erreichten, was sie erreichen wollten.


Die angeblich der Vereinfachung dienende Rechtschreibreform hat zu weitgehender Verunsicherung geführt, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und „s“ oder „ss“ fallen jetzt fast durchgängig fehlerhaft aus.

Die Bekämpfung der Schreibschrift im Grundschulunterricht nimmt gerade den eher mühsam lernenden Kindern die Möglichkeit zur sensomotorischen Verknüpfung von Wortbild und Wortbedeutung. Die antiautoritär inspirierte Aversion gegen das Üben und Wiederholen beim Schreibenlernen schadet besonders den Schwachen.

Chaotische Zustände in den Klassenräumen
Das weit verbreitete „Schreiben nach Gehör“ ist eine zutiefst frustrierende Methode, die Kinder zunächst zwingt, etwas Falsches zu lernen, und sie danach nötigt, es wieder zu verlernen. (Für Kinder mit fremdsprachigem Hintergrund ist sie vollkommen sinnlos.)
Das „jahrgangsübergreifende Lernen“ hat zu chaotischen Zuständen in den Klassenräumen geführt, in denen die unsicheren Schüler aus dem Blick geraten und das dringend notwendige Unterrichtsgespräch auf der Strecke bleibt.

Die schwindende Zahl von Lektüren an den weiterführenden Schulen und die anspruchslose Literaturvermittlung fördern kaum das Entstehen von literarischer Leidenschaft und Neugier bei den Schülern.

Die Weigerung, sich noch auf einen Kanon von Romanen und Lyrik zu einigen, die ein Schulabgänger mit mittlerer Reife oder Abitur unbedingt kennen sollte, öffnen einem Relativismus Tür und Tor, der besonders die Nichtbildungsbürgerkinder orientierungslos zurücklässt. All die, denen die Sprache ein fremdes, gefährliches Terrain zu sein scheint, werden niemals zu Lesern werden.

Obwohl die Mehrzahl wissenschaftlicher Studien das Lesen auf Bildschirmen als flüchtiger und ungenauer ausweist als das Lesen auf Papier (schon allein, weil Papier eine andere räumliche Verortbarkeit der wichtigen Gedanken erlaubt und den Leser nicht ständig mit Nachrichten und Kommentaren ablenkt), geht beispielsweise die Rhetorik, mit der die Bundesregierung für ihren „Digitalpakt“ wirbt, in eine ganz andere Richtung.
Hier steht die Bedienung von Endgeräten im Vordergrund, mit denen die Steuerzahler alle Schulen ausrüsten sollen – für Milliardenbeträge, ohne Wirksamkeitsnachweis oder Unterrichtskonzept.

Feindselige Signale an Autoren und Verlage
Die unkritische Fetischisierung der Technologie bedeutet zugleich eine Abwertung geisteswissenschaftlicher und politischer Bildung. Zwar sind wir noch nicht so weit wie in Großbritannien, wo regierungsamtliche Stellen Studierenden raten, sich im Namen von „Produktivität und Wettbewerb“ für Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften zu entscheiden.

Aber der offensiven Werbung für MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) durch Bundesregierung, Landesregierungen, interessierte Stiftungen und Wissenschaftsinstitutionen entspricht keinerlei ähnlich entschiedenes Eintreten für Demokratiekenntnisse und kulturelle Zurechnungsfähigkeit. Der andere Blick auf die Welt, der radikale Perspektivwechsel, den nur das Lesen von Literatur erlaubt, zählt in diesem Fortschrittsuniversum nichts.

Die politische Sphäre hat ihr weitgehendes Desinteresse an geistigen Leistungen auch durch drei hochproblematische Regelungen der vergangenen Legislaturperiode unter Beweis gestellt: die Novelle des Urhebervertragsrechts, die Beteiligung der Verlage an den Ausschüttungen der VG Wort und das „Gesetz zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse der Wissensgesellschaft“. Ohne hier ins Detail gehen zu können: Alle drei Regelungen waren geradezu feindselige Signale an Autoren und Verlage.

Der erfolgreiche britische Autor Nick Hornby hat sich in einem seiner Bücher einmal folgende Situation vorgestellt: Er geht am späten Abend nach Hause. Plötzlich wird er von einer Gruppe gewaltbereiter Literatur-Hooligans überfallen, die ihm Prügel androhen, wenn er nicht sofort preisgibt, wer sein Lieblingsautor ist.

Hornby malt sich aus, wie er lieber Schläge einstecken würde, als sein in Jahren erworbenes literarisches Urteil derart verengen zu müssen. Nur wenn die Angreifer seine Adresse und den Schulweg seiner Kinder kennen würden, schreibt er, würde er sich wohl widerstrebend eine Antwort abringen lassen.

Ich wünsche mir bürgerliche Regierungsvertreter, die Hornbys Gedankenspiel nachvollziehen und den Witz daran verstehen können. Seine erzwungene Antwort würde übrigens „Charles Dickens“ gelautet haben.

Dieser sprachgewaltige, oft bitter sarkastische Chronist der sozialen Zustände des 19. Jahrhunderts in England hätte sicher auch unser modernes Analphabetentum schonungslos beschrieben: Leute, die zwar noch klicken, online einkaufen oder in sozialen Netzwerken pöbeln und nutzlose Daten generieren können. Aber eben nicht mehr richtig lesen, schreiben oder denken.


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