Eigentlich führen ja viele pädagogische Wege zum Ziel, doch in den
Schulen wird immer enger normiert. Das zermürbt alle Akteure und schadet der
Unterrichtsqualität.
Unsere Lehrerinnen und Lehrer brauchen mehr Freiheit, NZZaS, 26.11. von Carl Bossard
Freiheit sei für Bildung die erste Bedingung, schrieb Wilhelm von Humboldt.
Doch diese erstickt heute zunehmend in engen Lehr- und Lernparadigmen und einer
Fülle von Vorschriften. Ein dichtes Regelwerk mit einer Flut von Konferenzen
und Absprachen bringt viele an Grenzen und degradiert den Unterricht oft zur
Nebenbei-Tätigkeit.
«Das System engt mich ein», klagt ein begabter Junglehrer. Er
unterrichte gerne, aber er hetze vorschriftsgetreu von Inhalt zu Inhalt: ein
unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen
und Üben, ohne Chance zum Erlebnis. Und dauernd müsse er beurteilen. Die vielen
Vorgaben schnürten ein. Von Freiheit keine Spur. Er wird weiterstudieren und
geht der Schule verloren.
Ähnliches erzählt eine engagierte Sekundarlehrerin. Sie eile von Prüfung
zu Prüfung. «Was ich machen muss, ist Stoff durchnehmen mit dem alleinigen
Ziel, ihn nachher zu testen und eine Note zu haben.» 20 Examina allein in
Französisch, über 60 Prüfungsnoten pro Semester, dazu Zwischenzeugnisse mit
Zahlen und ellenlangen Rastern. «Ich muss die Kinder mit Kreuzchen in Kästchen
drücken.» Doch «ich werde ihnen damit nie gerecht», fügt sie hinzu. Jedes
Aufgaben-Vergessen, jedes Zu-spät-Kommen muss vermerkt werden; nach Gründen
fragt niemand. Notiert gilt als erledigt, basta: Reduktion auf Kreuzchen und
Noten. «Wie wollen Kinder da noch Freude an der Schule behalten?» Das Gleiche
gilt wohl auch für die Lehrerin.
Zwei Impressionen, zwei subjektive Sichten, vielleicht nur bedingt
repräsentativ. Wer allerdings den schulischen Alltag näher betrachtet, erkennt
schnell: Die Volksschule hat viele neue Aufgaben übernommen. Die Stofffülle
nimmt zu, die Freiheit ab. Darum wird das Korsett enger und der
Vorschriftenkatalog rigider. Doch das Aushalten von Polaritäten gehörte schon
immer zum Unterrichten. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von
Freiheit und Vorgaben; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen
Sozialisieren und Individualisieren, zwischen kultureller Integration und
Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des
Scheiterns.
Diese Dilemmas lassen sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen sie
aushalten und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche
gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität, aber er
bleibt als Aufgabe. Belebt hat diese anspruchsvolle Aufgabe einst die
didaktische Freiheit. Sie steckte in jeder Lehrer-DNA und war so etwas wie ein
konstitutives Berufselement. Sie machte die Profession attraktiv. Für viele war
es darum der Traumberuf; ein Leben lang blieben sie ihm treu. Die
Unterrichtsziele waren gegeben, die Wege frei. Den méthodos, den
Weg zum Ziel, konnten die Pädagogen selber bestimmen – situativ und nach
eigenem Entscheid. Die Methode stand in direkter Korrelation zu den Kindern und
ihren Bedürfnissen – und natürlich auch zum Unterrichtsinhalt und zu den
Präferenzen der einzelnen Lehrperson.
Heute wird dieser Weg standardisiert. Die Bildungsinhalte sind
kompetenztheoretisch gefasst und messbar. Damit verbunden ist oft das
eigenverantwortliche Arbeiten, das selbstregulierte Lernen. Es dominiert und
diktiert die Methode; sie wird zum Direktiv von oben: Lernende sollen selber
alles aktiv hervorbringen. Der Lehrer wird zum Begleiter. «Ja nicht zu viel
Interaktion der Lehrperson!», berichtet die Sekundarlehrerin. Dies suggeriere
man ihr. Und angehende Junglehrer sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie
seien in der Lektion «zu präsent gewesen». Dabei verhalten sie sich genau so,
wie es die moderne Hirnforschung postuliert: vital präsent sein, verstehende
Zuwendung zeigen, ermutigen – die Pädagogin als menschliches Gegenüber, der
Lehrer als erste Stimmgabel, der Resonanzen erzeugt und im jungen Menschen
etwas zum Klingen bringt.
Eine wirksame Bildungspolitik müsste darum zwingend mehr an den Menschen
glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer
mit Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind das A und O der
Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht vor allem Vorschriften. Sie
brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete. Humane Energie kommt aus
Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben,
wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet. Der engagierte Junglehrer
würde der Schule wohl treu bleiben, und die Sekundarlehrerin könnte mit ihrer
Klasse wieder Exkursionen planen.
Freiheit ist und bleibt der Kern des pädagogischen Wirkens. Für gute
Schulen ist und bleibt Wilhelm von Humboldt noch heute Vorbild. Amerikanische
Eliteuniversitäten haben sein Bildungsideal immer hochgehalten.
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