26. November 2017

Freiheit als Kern des pädagogischen Wirkens

Eigentlich führen ja viele pädagogische Wege zum Ziel, doch in den Schulen wird immer enger normiert. Das zermürbt alle Akteure und schadet der Unterrichtsqualität.
Unsere Lehrerinnen und Lehrer brauchen mehr Freiheit, NZZaS, 26.11. von Carl Bossard 

Freiheit sei für Bildung die erste Bedingung, schrieb Wilhelm von Humboldt. Doch diese erstickt heute zunehmend in engen Lehr- und Lernparadigmen und einer Fülle von Vorschriften. Ein dichtes Regelwerk mit einer Flut von Konferenzen und Absprachen bringt viele an Grenzen und degradiert den Unterricht oft zur Nebenbei-Tätigkeit.

«Das System engt mich ein», klagt ein begabter Junglehrer. Er unterrichte gerne, aber er hetze vorschriftsgetreu von Inhalt zu Inhalt: ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis. Und dauernd müsse er beurteilen. Die vielen Vorgaben schnürten ein. Von Freiheit keine Spur. Er wird weiterstudieren und geht der Schule verloren.

Ähnliches erzählt eine engagierte Sekundarlehrerin. Sie eile von Prüfung zu Prüfung. «Was ich machen muss, ist Stoff durchnehmen mit dem alleinigen Ziel, ihn nachher zu testen und eine Note zu haben.» 20 Examina allein in Französisch, über 60 Prüfungsnoten pro Semester, dazu Zwischenzeugnisse mit Zahlen und ellenlangen Rastern. «Ich muss die Kinder mit Kreuzchen in Kästchen drücken.» Doch «ich werde ihnen damit nie gerecht», fügt sie hinzu. Jedes Aufgaben-­Vergessen, jedes Zu-spät-Kommen muss vermerkt werden; nach Gründen fragt ­niemand. Notiert gilt als erledigt, basta: Reduktion auf Kreuzchen und Noten. «Wie wollen Kinder da noch Freude an der Schule behalten?» Das Gleiche gilt wohl auch für die Lehrerin.

Zwei Impressionen, zwei subjektive Sichten, vielleicht nur bedingt repräsentativ. Wer allerdings den schulischen Alltag näher betrachtet, erkennt schnell: Die Volksschule hat viele neue Aufgaben übernommen. Die Stofffülle nimmt zu, die Freiheit ab. Darum wird das Korsett enger und der Vorschriftenkatalog rigider. Doch das Aushalten von Polaritäten gehörte schon immer zum Unterrichten. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Vorgaben; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisieren und Individualisieren, zwischen kultureller Integration und Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.

Diese Dilemmas lassen sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen sie aushalten und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe. Belebt hat diese anspruchsvolle Aufgabe einst die didaktische Freiheit. Sie steckte in jeder Lehrer-DNA und war so etwas wie ein konstitutives Berufselement. Sie machte die Profession attraktiv. Für viele war es darum der Traumberuf; ein Leben lang blieben sie ihm treu. Die Unterrichtsziele waren gegeben, die Wege frei. Den méthodos, den Weg zum Ziel, konnten die Pädagogen selber bestimmen – situativ und nach eigenem Entscheid. Die Methode stand in direkter Korrelation zu den Kindern und ihren Bedürfnissen – und natürlich auch zum Unterrichtsinhalt und zu den Präferenzen der einzelnen Lehrperson.

Heute wird dieser Weg standardisiert. Die Bildungsinhalte sind kompetenztheoretisch gefasst und messbar. Damit verbunden ist oft das eigenverantwortliche Arbeiten, das selbstregulierte Lernen. Es dominiert und diktiert die Methode; sie wird zum Direktiv von oben: Lernende sollen selber alles aktiv hervorbringen. Der Lehrer wird zum Begleiter. «Ja nicht zu viel Interaktion der ­Lehrperson!», berichtet die Sekundarlehrerin. Dies suggeriere man ihr. Und angehende Junglehrer sehen sich mit dem Vorwurf ­konfrontiert, sie seien in der Lektion «zu präsent gewesen». Dabei verhalten sie sich genau so, wie es die moderne Hirnforschung postuliert: vital präsent sein, verstehende Zuwendung zeigen, ermutigen – die Pädagogin als menschliches Gegenüber, der Lehrer als erste Stimmgabel, der Resonanzen erzeugt und im jungen Menschen etwas zum Klingen bringt.

Eine wirksame Bildungspolitik müsste darum zwingend mehr an den Menschen glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind das A und O der Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht vor allem Vorschriften. Sie brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus ­lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben, wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet. Der engagierte ­Junglehrer würde der Schule wohl treu bleiben, und die Sekundarlehrerin könnte mit ihrer Klasse wieder Exkursionen planen.
Freiheit ist und bleibt der Kern des pädagogischen Wirkens. Für gute Schulen ist und bleibt Wilhelm von Humboldt noch heute Vorbild. Amerikanische Eliteuni­ver­sitäten haben sein Bildungsideal immer hochgehalten.


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