Zuletzt
fand ein alter Trend neue Beachtung: Seit Mitte der 1990er-Jahre tut sich eine
Schere bei der Maturaquote auf. Mädchen haben die Buben regelrecht abgehängt.
Über die Ursachen debattieren Lehrer, Politiker und Bildungsforscher seit
Jahren. Doch ein Aspekt ging bislang unter – dabei trifft er besonders in der
Schweiz zu.
Die grosse Angst der Buben, Nordwestschweiz, 20.11. von Yannick Nock
Die
Angst, als Streber zu gelten, kann die Leistung beeinträchtigen. Von dieser
Furcht betroffen sind allerdings hauptsächlich Buben.
Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm schreibt in ihrer Kolumne in der
«Nordwestschweiz», es gäbe einen deutlichen Zusammenhang zwischen guten Noten,
Unbeliebtheit und dem Geschlecht. «Im Gegensatz zu den Mädchen ist das Wort
‹Streber› bei vielen Knaben negativ besetzt», sagt Stamm. Es sei deshalb nicht
erstaunlich, dass sich viele schulisch sehr gute Buben dem Druck zum Mittelmass
beugen – und ihre Noten sinken. Die Kinder würden dabei einem «heimlichen
Lehrplan» folgen, sagt Stamm, einem versteckten Code, der vorgibt, was cool ist
und was nicht.
Mittelmass oder Einzelgänger?
Das
Phänomen wurde in der Forschung bisher kaum berücksichtigt. Eine der wenigen
Studien kam vor knapp zehn Jahren zum Schluss, dass Kinder im deutschsprachigen
Raum grösseren Gruppendruck verspüren als in den USA, Israel oder Kanada. Stamm
hat ein ähnliches Phänomen in einer eigenen Studie beobachtet. Demnach würden
vor allem Buben den Schulerfolg im Schnitt für weniger wichtig halten als
Mädchen. Knaben und junge Männer hätten in den letzten Jahren ihr Interesse
mehr auf die ausserschulische Zeit verschoben, sagt Stamm: auf Freunde, Sport,
Vereine oder auf ihre sonstigen Freizeitbeschäftigungen. Sportliche Leistungen
würden in der Schule hoch angesehen, schulische nicht.
Oft
werden gute Schüler wegen ihrer Leistung zum Aussenseiter, dabei wünschen sie
sich nur, dazuzugehören. Das führt zu einem Dilemma, das ihre späteren
Karrierechancen beeinflusst. Sie müssen sich entscheiden: dem eigenen Ehrgeiz
treu bleiben und ein Dasein als Einzelgänger fristen oder bewusst schlechte
Noten in Kauf nehmen, um Teil der Klasse zu werden. Das Ergebnis ist
ernüchternd: «Jeder Dritte wählt den Weg ins Mittelmass», sagt Stamm.
Die neuen Bildungsverlierer
Waren
in den 1970er-Jahren Frauen die Bildungsverlierer, weil sie viel weniger
gefördert wurden, haben sich die Vorzeichen nun umgekehrt. «Viele Mädchen haben
Gas gegeben und die bestmögliche Ausbildung gemacht», sagt Stamm. Gleichzeitig
hätten sich die Schulen stärker auf die Bedürfnisse der Schülerinnen
ausgerichtet, was sich bei der neuen Matur mit Schwerpunkt auf Sprachen
widerspiegelt. Dort sind Mädchen gemäss Pisa-Studie oft besser.
Allerdings
geht der Wandel tiefer. «Der Wettbewerb ist zunehmend aus der Schule
verschwunden», sagt Stamm. Dabei würden sich die Knaben gerne messen. Die neuen
schulischen Methoden zielten auf Gleichbehandlung. Das sei ein Fehler. «Buben
werden als die Abweichung zur Norm gesehen», sagt Stamm, dabei sei ihr
Verhalten nichts Schlimmes, sondern nur ein anderes als bei den Mädchen. Dieser
Aspekt und die Angst, als Streber zu gelten, gingen in der Debatte über die
«neuen Bildungsverlierer» unter.
Urs
Moser, Bildungsforscher an der Universität Zürich, sieht die Mädchen am
Gymnasium ebenfalls im Vorteil. Das liege allerdings auch daran, dass sie in
der Regel reifer seien, mehr Wert auf die schulische Leistung legten und eher
bereit seien, für die Aufnahmeprüfung zu büffeln. Doch für die Buben sieht
nicht alles düster aus. Sie werden in einer anderen Sparte bevorzugt: «Die
Berufsbildung ist stärker auf die Männer ausgerichtet», sagt Moser. Das Angebot
decke mehr Interessen der Buben ab. Zudem möchten junge Männer schneller über
ein eigenes Einkommen verfügen und beginnen deshalb oft lieber eine Lehre als
die Matur.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen