Ein Mädchen wird in einer Klasse jahrelang gemobbt. Experte Christof
Nägele erklärt das Phänomen.
«Die Schulen sind stark in der Verantwortung», Basler Zeitung, 12.10. Von Nina Jecker
BaZ: Herr Nägele, die BaZ hat den Fall der Schülerin Selina publik
gemacht, die ausgegrenzt, verspottet und geschlagen wurde. Ein typischer Fall?
Christof Nägele: Ich kenne den Fall nur aus der Presse.
Typisch ist daran jedoch, dass die Schülerin lange alles in sich hineinfrass.
Die wenigsten Opfer sprechen über das, was sie täglich erleben. Eltern und
Lehrpersonen sind oft die Letzten, die merken, dass ein Kind gemobbt wird.
Dann ist es also glaubhaft, dass die Lehrerin von den Attacken gegen
eine Schülerin nichts gemerkt haben will?
Dazu kann ich nichts sagen. Es ist aber durchaus möglich, dass auch
Lehrpersonen, die für Mobbing sensibilisiert sind und darauf achten, bei einem
aktuellen Mobbing-Vorfall zuerst nichts merken. Mobbing besteht ja aus kleinen,
oft geringfügig erscheinenden, aggressiven Handlungen.
Welcher Art?
Zum Beispiel, wenn ein Kind einem anderen etwas wegnimmt – und sei es
nur eine Kleinigkeit wie zum Beispiel ein Radiergummi.
Gummi-Klau alleine ist aber noch kein Mobbing.
Sicher nicht als einzelner Vorfall. Aber Mobbing setzt sich aus einer
Häufung vermeintlich kleiner Verletzungen zusammen, die sich wiederholen und
immer gegen dasselbe Kind gerichtet sind. Mobbing ist ein Muster von
Handlungen, die ein anderes Kind verletzen. Es ist also wichtig, eine Kultur zu
schaffen, in der diese gemeinen, verletzenden und aggressiven Handlungen keinen
Platz haben. In diesem Sinne sollte nicht toleriert werden, dass einem anderen
Kind etwas weggenommen wird – und sei es auch «nur» der Radiergummi. Wir
sollten nicht erst aufmerksam werden, wenn die Attacken brutaler werden. Es
beginnt früher und betrifft unsere Haltungen gegenüber der Art und Weise, wie
wir mit anderen Menschen umgehen. Hier sind Lehrpersonen und Schulen ganz stark
in der Verantwortung, ein Klima zu schaffen, das solche Vorfälle nicht
toleriert.
Kann dies potenzielle Täter tatsächlich davon abhalten?
Ja. Täter oder Täterinnen profitieren, wenn Erwachsene wegschauen. Und
Mobbing ist kein Täter-Opfer-, sondern ein Klassenphänomen, in dem die
Mitschülerinnen, Mitschüler und Lehrpersonen eine wichtige Rolle spielen. Hat
die Klasse Regeln aufgestellt, wie man miteinander umgehen soll, und
vereinbart, wie auf Regelverletzungen reagiert wird, hat Mobbing wenig Chancen.
Ist Mobbing ein neues Phänomen?
Keineswegs. Nur die systematische Forschung zu Mobbing oder Bullying,
wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit einigen Jahrzehnten. Täter oder
Täterinnen, die ihre Opfer fertigmachen – was bereits ab einem Alter von drei,
vier Jahren beobachtet werden kann –, gab es schon immer.
Wer wird überhaupt zum Täter?
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ich möchte es kurz so sagen: Mobber
haben gelernt, dass sie mit verletzendem Verhalten Ziele erreichen können.
Vielen Mobbern hilft, dass sie sich schlechter vorstellen können, dass ihr
Verhalten andere Kinder verletzt. Aber die Täter und Täterinnen sind nicht
einfach die bösen Kinder.
Was macht am Quälen so viel Spass?
Es geht um Status und Macht und um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Gruppe. Und auch darum, wer bestimmen darf, wer in welcher Rolle zu einer
Gruppe gehört – oder eben nicht. Da kann es durchaus zielführend erscheinen,
dies über die Erniedrigung einer anderen Person zu erreichen; wenn es die
Gruppe zulässt oder gar unterstützt. Und wenn ich als Mobber in der Klasse
einen herablassenden Spruch zum Opfer mache und alle lachen mit, auch die
Lehrperson, dann ist das doch eine positive Rückmeldung an den Mobber oder die
Mobberin.
Komisches Verhalten, Schüchternheit, Strebertum – wie suchen sich Mobber
ihre Opfer aus?
Grundsätzlich kann jedes Kind Mobbingopfer werden. Oft werden
Mobbingopfer als Kinder mit einem eher geringen Selbstvertrauen, mit mehr Mühe,
sich abzugrenzen, oder als empathischer und offener beschrieben. Aber das geringe
Selbstvertrauen kann auch eine Folge von Mobbing sein, und empathische und
offene Kinder gibt es hoffentlich viele in einer Klasse. In einer Klasse
besonders gefährdete Kinder identifizieren zu wollen erachte ich als wenig
sinnvoll. Wichtiger ist, eine grundlegende Haltung zu entwickeln, dass in der
Klasse kein Kind gemobbt wird.
Welche Rolle spielen die Mitläufer und Zuschauer?
Eine sehr grosse. Mobbing ist ein Gruppenphänomen. Deshalb ist es in der
Prävention von Mobbing so wichtig, mit der ganzen Gruppe respektive Klasse zu
arbeiten. So kann dann zum Beispiel ein guter Freund oder eine gute Freundin
ein Opfer gut unterstützen.
Was können Eltern und Lehrer tun, damit das Mobbing aufhört?
Da Mobbing ein Gruppenphänomen ist, scheint es mir wichtig und sinnvoll,
dass Eltern und Lehrpersonen zusammenarbeiten. Und Lehrpersonen sollten bei
einem aktuellen Mobbing-Vorfall nicht zögern, die ihnen zur Verfügung stehende
Unterstützung anzufordern, etwa den schulpsychologischen Dienst. Auf jeden Fall
muss Mobbing aber ernst genommen werden und darf nicht heruntergespielt werden.
Wie geht ein externer Experte vor?
Bei einem aktuellen Mobbing-Vorfall hängt das sehr stark davon ab, wie
die Schule sich bisher mit dem Thema beschäftigt hat. Beim Umgang mit Mobbing
scheint es mir aber wichtig, nicht zurückzublicken und Schuldige zu suchen. Es
geht darum, zu sagen: «Wir haben ein Problem mit Mobbing, das wollen wir nicht
mehr und stellen deshalb Regeln auf, wie wir in Zukunft miteinander umgehen.»
Es geht um die Arbeit an der Haltung zu Mobbing.
Das hat Erfolg?
Durchaus. Es funktioniert aber nicht von heute auf morgen, sondern
braucht mehrere Gespräche und zum Beispiel in der Arbeit mit der Klasse
Rollenspiele und andere Interventionen.
Selina hat schliesslich die Schule gewechselt. Eine gute Lösung?
In den meisten Fällen nicht. Obwohl ich Eltern verstehen kann, die ihr
Kind nur noch da rausnehmen wollen. Doch den Täterinnen und Tätern signalisiert
das, dass sie mit ihrem Verhalten das gemobbte Kind sogar aus der Klasse
entfernen konnten. Das ist fast schon eine Anerkennung und Belohnung. Dem Opfer
sagt es hingegen, dass es der Störfaktor in der Klasse war. Viel besser ist,
wie oben beschrieben, mit der Klasse und der Schule so zu arbeiten, dass sich
alle wieder in der Klasse wohlfühlen – was fast immer möglich ist, wenn
Lehrpersonen, Schulleitung und Eltern die Sache ernst nehmen.
Wenn das Mobbing bestehen bleibt – was hat das für Konsequenzen für die
Betroffenen?
Mobbing verletzt eine Person immer wieder und in der Schule leiden das
Lernen und die Entwicklung. Selbst wenn Mobbing aufhört, leiden viele Opfer
noch Jahre später unter den Folgen. Es wurde ihnen ja auch immer wieder gesagt,
dass sie weniger wert sind als die anderen. Deshalb ist die Mobbing-Prävention
so wichtig und auch, dass man sehr aufmerksam zuhört, wenn jemand sagt, er oder
sie werde gemobbt.
Christof Nägele ist Projektleiter an der Fachhochschule Nordwestschweiz
im Zentrum Lernen und Sozialisation.
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