24. Oktober 2017

Buben hinken den Mädchen schulisch hinterher

Noch bis in die 90er-Jahre hatten mehr junge Männer als Frauen die Matura gemacht. Inzwischen aber hat sich das Blatt gewendet: In allen Kantonen haben die Frauen die Nase vorn – laut Zahlen des «Tages-Anzeigers» zum Teil deutlich.
"Buben entwickeln in der Pubertät eine Anti-Lerner-Kultur", SRF, 24.10.


SRF News: Was sind die Gründe dafür, dass die schulische Karriere der Buben weniger erfolgreich verläuft? Es liegt ja kaum an der Intelligenz...
Margrit Stamm: Nein, daran liegt es tatsächlich nicht. Aber einer der Hauptgründe dürfte sein, dass Knaben und junge Männer in den letzten Jahren ihr Interesse mehr auf die ausserschulische Zeit verschoben haben; auf die Freunde, den Sport, die Vereine, auf ihre Freizeitbeschäftigungen im Allgemeinen.

Seit Jahren wird gesagt, Buben würden in der Schule benachteiligt. Unter anderem, weil die meisten Lehrpersonen Frauen seien. Stimmt das?
Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Die Kritik, die Feminisierung der Schulen sei die Ursache des schlechteren Abschneidens der Knaben, glaube ich weniger. Knaben schwänzen aber viel häufiger die Schule. Sie brechen die Schule viel häufiger ab. Sie werden häufiger in der Schule zurückgestellt. Und bei ihnen wird auch dreimal häufiger ADHS diagnostiziert. Da sind sie wirklich benachteiligt.

Haben Sie dafür eine Erklärung?
Die Buben entwickeln in der Pubertät eher eine Anti-Lerner-Kultur. Diese ist damit verbunden, dass man offensichtlich zeigt, dass man die Schule und den Erfolg in der Schule nicht «cool» findet. Das hat schliesslich auch damit zu tun, dass Knaben als störender oder besserwisserisch angesehen werden. Und das führt dann häufig zu solchen ADHS-Diagnosen oder zu Ausstiegen aus der Schule.

Man hört auch, der heutige Unterricht – mehr Gruppenarbeit zum Beispiel – entspreche eher den Mädchen. Also zurück zum Frontalunterricht?
Nein, überhaupt nicht. Ich finde den Mix an Methoden sehr gut. Aber wenn ich Lehrerin oder Lehrer wäre, würde ich mir überlegen, wie ich Unterrichtsmethoden einsetzen könnte, damit Knaben besser abgeholt werden; was sie interessiert, was ihrem Naturell entspricht. Viele Knaben lieben dieses Wettkampfmässige, das Sich-aneinander-messen-können. Das ist bei vielen Methoden eher untervertreten, denn es geht oft um Gespräche und Gefühle. Knaben haben vielleicht andere Prioritäten. Da müsste man mehr Gegengewicht geben.

Die Matur mit Schwerpunkt Sprachen spreche Mädchen mehr an als Knaben, kritisieren Sie und auch andere Fachleute. Warum eigentlich?
Bei einer unserer Studien war es schon bei drei- und vierjährigen Kindern so, dass sich Knaben mehr für reale Dinge und Mädchen sich eher für sprachliche Dinge interessierten. Das Interesse, das da ist, wird von den Eltern auch stärker gefördert. Die sprachliche Welt wird für Knaben auf der Primarstufe, wenn es auf die Oberstufe zugeht, zu einer weiblichen Welt. Von der grenzen sie sich eher ab.

Das heisst, man müsste die Buben vermehrt zum Lesen animieren?
Ich glaube, dass man die Knaben in anderen Bereichen abholen kann, in denen sie stark sind. Die Sprache ist in der Zeit der Pubertät vielleicht nun mal einfach ein Gebiet, das sie weniger interessiert. Das müsste man auch akzeptieren.

Man versucht derzeit, die sogenannten Mint-Fächer Mathematik und Naturwissenschaften wieder zu stärken. Bringt das den Buben etwas?
Ich kann mir gut vorstellen, dass das den Buben etwas bringt. Aber eine positive Einstellung muss grundsätzlich auch vorhanden sein. Das heisst, wenn sie sich für solche Bereiche interessieren, müssen sie eine pro-lernende Haltung haben. Viele Buben sagen, sie möchten lieber eine Ausbildung machen, in der sie praktisch tätig sein können. Wenn man eine Matur machen will, genügt aber nicht nur das Interesse an einem Thema, man muss auch akademisches Interesse haben: Interesse am Lernen, Wissen und Verarbeiten. Man muss den Buben also auch zeigen, dass sie sich in diese Richtung entwickeln könnten.

Nachdem man jahrelang das Augenmerk auf die Mädchen gelegt hat, müssten jetzt also die Buben gefördert werden?
Das müsste man diskutieren. Ich bin aber nicht der Meinung, dass wir jetzt von einer Knabenwende reden sollten, im Sinne von: «Jetzt wurden die Mädchen genug gefördert, nun sind die Knaben dran.» Das wäre ein Rückfall. Man sollte einen differenzierten Blick dafür entwickeln, wo welche Knaben Probleme haben.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen