Noch bis in die 90er-Jahre hatten mehr junge Männer als Frauen die
Matura gemacht. Inzwischen aber hat sich das Blatt gewendet: In allen Kantonen
haben die Frauen die Nase vorn – laut Zahlen des «Tages-Anzeigers» zum Teil
deutlich.
"Buben entwickeln in der Pubertät eine Anti-Lerner-Kultur", SRF, 24.10.
SRF News: Was sind die Gründe dafür, dass die schulische Karriere der
Buben weniger erfolgreich verläuft? Es liegt ja kaum an der Intelligenz...
Margrit Stamm: Nein, daran liegt es tatsächlich nicht. Aber einer der
Hauptgründe dürfte sein, dass Knaben und junge Männer in den letzten Jahren ihr
Interesse mehr auf die ausserschulische Zeit verschoben haben; auf die Freunde,
den Sport, die Vereine, auf ihre Freizeitbeschäftigungen im Allgemeinen.
Seit Jahren wird gesagt, Buben würden in der Schule benachteiligt. Unter
anderem, weil die meisten Lehrpersonen Frauen seien. Stimmt das?
Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Die Kritik, die Feminisierung
der Schulen sei die Ursache des schlechteren Abschneidens der Knaben, glaube
ich weniger. Knaben schwänzen aber viel häufiger die Schule. Sie brechen die
Schule viel häufiger ab. Sie werden häufiger in der Schule zurückgestellt. Und
bei ihnen wird auch dreimal häufiger ADHS diagnostiziert. Da sind sie wirklich
benachteiligt.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Die Buben entwickeln in der Pubertät eher eine Anti-Lerner-Kultur. Diese
ist damit verbunden, dass man offensichtlich zeigt, dass man die Schule und den
Erfolg in der Schule nicht «cool» findet. Das hat schliesslich auch damit zu
tun, dass Knaben als störender oder besserwisserisch angesehen werden. Und das
führt dann häufig zu solchen ADHS-Diagnosen oder zu Ausstiegen aus der Schule.
Man hört auch, der heutige Unterricht – mehr Gruppenarbeit zum Beispiel
– entspreche eher den Mädchen. Also zurück zum Frontalunterricht?
Nein, überhaupt nicht. Ich finde den Mix an Methoden sehr gut. Aber wenn
ich Lehrerin oder Lehrer wäre, würde ich mir überlegen, wie ich
Unterrichtsmethoden einsetzen könnte, damit Knaben besser abgeholt werden; was
sie interessiert, was ihrem Naturell entspricht. Viele Knaben lieben dieses
Wettkampfmässige, das Sich-aneinander-messen-können. Das ist bei vielen
Methoden eher untervertreten, denn es geht oft um Gespräche und Gefühle. Knaben
haben vielleicht andere Prioritäten. Da müsste man mehr Gegengewicht geben.
Die Matur mit Schwerpunkt Sprachen spreche Mädchen mehr an als Knaben,
kritisieren Sie und auch andere Fachleute. Warum eigentlich?
Bei einer unserer Studien war es schon bei drei- und vierjährigen
Kindern so, dass sich Knaben mehr für reale Dinge und Mädchen sich eher für
sprachliche Dinge interessierten. Das Interesse, das da ist, wird von den
Eltern auch stärker gefördert. Die sprachliche Welt wird für Knaben auf der
Primarstufe, wenn es auf die Oberstufe zugeht, zu einer weiblichen Welt. Von
der grenzen sie sich eher ab.
Das heisst, man müsste die Buben vermehrt zum Lesen animieren?
Ich glaube, dass man die Knaben in anderen Bereichen abholen kann, in
denen sie stark sind. Die Sprache ist in der Zeit der Pubertät vielleicht nun
mal einfach ein Gebiet, das sie weniger interessiert. Das müsste man auch
akzeptieren.
Man versucht derzeit, die sogenannten Mint-Fächer Mathematik
und Naturwissenschaften wieder zu stärken. Bringt das den Buben etwas?
Ich kann mir gut vorstellen, dass das den Buben etwas bringt. Aber eine
positive Einstellung muss grundsätzlich auch vorhanden sein. Das heisst, wenn
sie sich für solche Bereiche interessieren, müssen sie eine pro-lernende
Haltung haben. Viele Buben sagen, sie möchten lieber eine Ausbildung machen, in
der sie praktisch tätig sein können. Wenn man eine Matur machen will, genügt
aber nicht nur das Interesse an einem Thema, man muss auch akademisches
Interesse haben: Interesse am Lernen, Wissen und Verarbeiten. Man muss den
Buben also auch zeigen, dass sie sich in diese Richtung entwickeln könnten.
Nachdem man jahrelang das Augenmerk auf die Mädchen gelegt hat, müssten
jetzt also die Buben gefördert werden?
Das müsste man diskutieren. Ich bin aber nicht der Meinung, dass wir
jetzt von einer Knabenwende reden sollten, im Sinne von: «Jetzt wurden die
Mädchen genug gefördert, nun sind die Knaben dran.» Das wäre ein Rückfall. Man
sollte einen differenzierten Blick dafür entwickeln, wo welche Knaben Probleme
haben.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.
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