«Würden Sie Ihrem sechs Jahre alten Kind erlauben, mit
dem Auto durchs Quartier zu fahren, zwischendurch ein Gläschen Wein zu trinken
oder einfach im Kinderzimmer zu rauchen?» Diese Frage stellt Markus
Niederdorfer aus Summaprada, der auf 32 Jahre Berufserfahrung auf Primar- und
Oberstufe zurückblicken kann und derzeit an der Schule Albulatal in
Tiefencastel eine Realklasse unterrichtet, rhetorisch an alle Eltern von (bald)
schulpflichtigen Kindern. Denn: Die Schuluhren stellen auf das digitale
Zeitalter um. Bis im Sommer 2021 muss im Kanton Graubünden jedem Kind der
Zugang zur virtuellen Welt im Schulunterricht ermöglicht sein. Und Niederdorfer
ist es ein Anliegen, die Diskussion über die Risiken, welche die Nutzung
digitaler Medien für Kinder und Jugendliche birgt, öffentlich zu führen, wie er
dem BT sagt.
Risiken der digitalen Bildung, Bündner Tagblatt, 23.9. von Enrico Söllmann
Derweil hat das kantonale Amt für Volksschule und
Sport seine Hausaufgaben zu den Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters in
der Bildung gemacht. Mittels einer Handreichung hat das Amt eine verbindliche
Empfehlung zum Unterrichtsbereich Medien und Informatik erlassen. Demnach haben
die Schulen von August 2018 bis im August 2021 Zeit, den sogenannten
Meilenstein II zu erreichen: Für die Oberstufe heisst dies: Die Schule stellt
jedem Kind ein schuleigenes, mobiles und persönliches Gerät (Notebook,
Smartphone oder Tablet) zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler ihrerseits
erledigen systematisch Aufträge und Aufgaben in allen geeigneten Fächern damit.
Der Lehrplan 21 Graubünden trägt dieser Entwicklung wie folgt Rechnung: Das
Fach Medien und Informatik beginnt neu bereits in der 5. Klasse und der Einsatz
der digitalen Technologien soll in allen Fächern erfolgen. Durch eine
entsprechende Wahlfachbelegung können weitere vier Jahreslektionen besucht
werden. Spielerisch, in Einzel- und Gruppenarbeiten zur Recherche sowie zur
Lösung von Aufgaben soll das Tablet im Kindergarten sowie von der 1. bis 4. Primarklasse
situativ zum Einsatz kommen.
Niederdorfer beantwortet seine eingangs gestellte
Frage gleich selbst: Für den Konsum für Nikotin und Alkohol sowie den Erwerb
des Führerausweises gebe es Altersgrenzen. Wer gegen die Regeln verstosse,
werde bestraft, so Niederdorfer. Und weiter: «Gegen die Alkohol- und
Nikotinsucht geben wir Millionen für Präventionsmassnahmen aus, weil wir deren
Auswirkungen auf die Person, die Familie und das Umfeld kennen.» Anders sieht
es seiner Meinung nach bei Smartphones und Tablets aus, die in vielen
Kinderzimmern Realität sind. Die Kleinsten würden mit einer virtuellen Realität
konfrontiert, die weder deren kognitive noch emotionale Entwicklung fördere.
«Schlimmer noch, die Kinder entwickeln ein Suchtverhalten und verschwenden
wichtige Lebenszeit». Folgende direkte Auswirkungen macht Niederdorfer zudem
aus: Kurzsichtigkeit, Hemmung der Sprachentwicklung, Rückgang des Lesens,
soziale Isolation, Verlust der Fähigkeit des Mitgefühls, Sucht,
Aufmerksamkeitsstörung, Dauerstress, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Diese
Auswirkungen seien wissenschaftlich belegt. «Und was tut der Staat dagegen um
die Kinder zu schützen?», fragt Niederdorfer, um gleich selbst die Antwort zu
geben: «Er lanciert die digitale Bildung.» Niederdorfer untermauert seine
Darstellung mit wissenschaftlichen Arbeiten. Tatsächlich hält Manfred Spitzer,
deutscher Hirnforscher und Psychiater an der Universitätsklinik Ulm, fest, dass
anhand vorliegender Daten klar abzusehen ist, dass die Digitalisierung von
Bildungseinrichtungen sich negativ auf den Schüler, dessen Bildung, Gesundheit
und Sozialverhalten auswirken werde. Er verweist diesbezüglich auf Erfahrungen
in Südkorea und den USA, die sich bereits vermehrt mit Suchtproblemen,
mangelnder Empathie und Depressionen von Kindern konfrontiert sehen. Andreas
Schleicher, Bildungsirektor der OECD (Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ) hatte der Digitalisierung aufgrund von Studien schon 2105 ein
schlechtes Zeugnis ausgestellt. Kinder, die in der Schule häufig den Computer
verwenden würden, hätten bei Lernergebnissen vergleichsweise schlecht
abgeschnitten.
Ein Gewinn im Unterricht
Für Sandra Locher Benguerel, Präsidentin des Vereins
Lehrpersonen Graubünden, langjährige Primarlehrerin und Grossrätin, dagegen ist
es wichtig, dass digitale Medien im Schulzimmer sinnvoll und gezielt eingesetzt
werden. «Gerade jüngere Kinder lernen stark durch soziale Interaktionen, diese
sind besonders für die Sprachentwicklung zentral. Werden digitale Medien in
Spiel- und Lernformen angewendet, so stellt dies eine Bereicherung der Lernwege
in Form eines weiteren Zugangs dar.» Dies sei jedoch kein Ersatz bewährter
Lernmethoden. Damit die Nutzung digitaler Medien nicht zu einer Reiz- oder
Informationsüberflutung führe, würden die Schüler im Umgang mit digitalem Wissen
angeleitet und begleitet werden. Ein weiteres Risiko stellt nach Meinung von
Locher Benguerel der Jugend- und Datenschutz dar: «Insbesondere Jugendliche
sollten darüber ausführlich informiert werden.» Die Gefahren sollen Kindern und
Jugendlichen transparent aufgezeigt werden, damit der Einsatz digitaler Medien
im Unterricht ein Gewinn sei.
Erwachsene sind gefragt
Für Regierungsrat Martin Jäger als Vorsteher des
kantonalen Erziehungsdepartementes ist klar: «Die zunehmenden Fortschritte der
Informatik sowie die neuen Nutzungsmöglichkeiten der Medien verändern unsere
Gesellschaft radikal. Sie lösen in der Bevölkerung Hoffnungen, aber auch
Befürchtungen aus.» Die Schule sei ebenso von dieser Veränderung betroffen wie
alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Weil die Nutzung digitaler Technologien
für viele Kinder aber bereits vor der Schule «ein selbstverständlicher Teil
ihrer Lebenswelten» ist, appelliert Jäger an die Verantwortung der Erwachsenen.
Ohne deren Anleitung würden digitale Medien für Kinder und Jugendliche nebst
den Chancen auch Risiken bergen. Es sei daher die Aufgabe der
Erziehungsberechtigten und der Schule dafür zu sorgen, dass die Schüler
«Mündigkeit im Umgang mit digitalen Medien erwerben». Konkret bedeutet das für
Jäger: Sie sollen lernen, Medien und Informatik für ihre Zwecke
selbstverantwortlich, sinnvoll und effizient zu nutzen sowie den elektronischen
Technologien gegenüber Unabhängigkeit und kritische Distanz zu wahren. Unter
diesen Voraussetzungen würden Geräte wie Tablets vielfältige Potenziale für
Lernprozesse bieten. Dies gelte auch schon für die Kleinsten. Jäger bestätigt
diesbezüglich, was in der Handreichung des Amtes für Volksschule und Sport
aufgeführt wird. «Bei Kindergartenkindern steht das gelegentliche, spielerische
und kreative Experimentieren mit Medien im Vordergrund, wobei der Kontakt mit
Medien und Informatik stets durch geeignete Spiel- und Lernmaterialien
entsteht.»
Verbreitetes Suchtverhalten
Peter Kamber, Präsident der
Bildungskommission der Stadtschule Chur, ist sich bewusst, dass sich der
Unterricht der Volksschule laut Handreichung Medien und Informatik an der
Mündigkeit, der Lebensweltorientierung, dem Anwendungsbezug und der
Rechtzeitigkeit orientieren muss. «Die Wirklichkeit ‘draussen’ indes ist eine
andere, eine besorgniserregende», sagt Kamber, der auch Schulleiter des
Oberstufenschulverbandes Mittelprättigau und langjähriger Oberstufenlehrer ist.
Das Suchtverhalten der Schüler im Umgang mit digitalen Medien, namentlich mit
dem Smartphone, sei weit verbreitet und ausgeprägt. Dabei würden sie unzählig
viele Kontakte pflegen, aber kaum reale soziale. Solche, die eben für die
kognitive, emotionale und soziale gesunde Entwicklung unerlässlich wären. «Das
Risiko besteht meiner Meinung nach darin, dass wir uns von den technischen
Möglichkeiten, allen Strömungen und Reformen in unkritischer Loyalität gerecht
zu werden, geisseln lassen. Dabei gibt es keinerlei empirische Evidenz dafür,
dass sich das Lernen mithilfe digitaler Medien verbessern würde.» Es reiche
nicht, «alles» Wissen überall und jederzeit abrufen zu können – man müsse dann
auch noch den Willen und die Fähigkeiten besitzen, etwas zu kreieren oder zu
erarbeiten.
Das sieht auch Elisabeth Calcagnini vom Komitee der
Doppelinitiative «Gute Schule Graubünden – Mitsprache bei Lehrplänen» so. Sie
schreibt in einem Leserbrief: «Nach wie vor ist das im eigenen
Kopf gespeicherte Wissen um vieles nützlicher und verhilft zum Verständnis von
Zusammenhängen.» Denn auch Googlen sei auf solides Vorwissen angewiesen, sonst
bleibe wenig bis nichts hängen.
Radikale Lösung gefordert
Die Reorganisation des Bereiches Medien und Informatik
steht und fällt nach Ansicht Kambers mit der pragmatischen, stufengerechten und
vernünftigen Umsetzung im Schulzimmer. Die Lehrpersonen als starkes Fundament
hätten durch Vorbild, Prävention, Ordnungen, einen achtsamen Gebrauch und durch
Kooperation mit den Eltern dafür zu sorgen, dass «wir nicht zum Sklaven des
digitalen Fortschritts und der medialen Möglichkeiten verkommen. Vielmehr soll
der Verstand den Computer und seine Verwandten zu segensreichen Dienern werden
lassen.» Deshalb habe die Bildungskommission der Stadt Chur unter anderem
folgendes Legislaturziel formuliert: «Dem Entwicklungsstand der Lernenden und
gesundheitlichen Aspekten wird in der Computer-Nutzung Rechnung getragen.»
Niederdorfer hingegen schlägt eine radikale Lösung vor. Die digitale Bildung
sei von Kindergarten und Unterstufe fernzuhalten. Alles andere erachtet er «als
Kapitulation vor dem Kindeswohl». Wo die Altersgrenze für den Einsatz von
elektronischen Medien an Schulen zu setzen sei, müsse breit diskutiert werden.
Kleine Kinder sollten stattdessen differenzierte körperliche Aktivitäten
ausüben, so Niederdorfer. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen,
Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Und vor allem sollten sie herumtollen,
klettern, den Wald erforschen – «also mit der wirklichen Welt in Kontakt
treten».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen