Die
Zuwanderung bildungsferner Familien schafft neue Probleme bei der schulischen
Integration. Das sagt Lehrerverbandspräsident Beat Zemp im Interview.
"Scham und Zurückhaltung sind der Normalfall", NZZ, 15.7. Interview mit Beat Zemp von Jörg Krummenacher
Die Integration
fremdsprachiger Kinder scheint an Orten wie Wohlen recht gut zu gelingen.
Andernorts stellen sich Probleme. Wie steht es insgesamt um die Integration von
Zuzügern, wie stark sind insbesondere die Lehrkräfte gefordert?
Lehrpersonen sind nicht
überfordert, wenn genügend Ressourcen für die Integration zur Verfügung stehen.
Wenn aber Kinder ohne Deutschkenntnisse einfach ins Klassenzimmer gesetzt
werden, dann resultiert daraus natürlich eine Überforderung. Wegen der
heterogenen Zusammensetzung heutiger Klassen brauchen Lehrpersonen mehr Zeit
für Absprachen, für runde Tische mit Fachleuten, für Elterngespräche und vieles
mehr. Die Integrationskapazität einer Regelklasse ist beschränkt. Wenn nahezu die
Hälfte aller Schülerinnen und Schüler kein Deutsch zu Hause spricht, brauchen
wir zusätzliche personelle Ressourcen, beispielsweise Assistenzen und
schulische Heilpädagogen, um einen erfolgreichen Unterricht für alle zu
garantieren.
Die Einwanderung ist in den letzten Jahren etwas zurückgegangen
– sind dadurch Probleme bei der schulischen Integration entschärft worden?
Leider nein. Durch das
neue Phänomen der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden und der spät
zugewanderten Jugendlichen sind neue Integrationsprobleme entstanden. Kamen
Ende der 1990er Jahre vor allem Kinder und jugendliche Flüchtlinge aus ein paar
wenigen Ländern, insbesondere aus Kosovo, ist die Situation heute viel
komplexer geworden. Das stellt die Schulen vor neue Herausforderungen.
Derzeit gibt es vor allem Zuzüger aus Südeuropa, insbesondere
aus Italien und Portugal. Haben sich dadurch die Herausforderungen bei der
Integration verändert?
Es gibt heute auch viel
mehr Kinder aus Mischehen, die neben den sprachlichen Schwierigkeiten auch noch
einen kulturellen Mix bei der Integration verarbeiten müssen. Dazu kommen
Kinder von Expats, die in wissenschaftlichen Berufen tätig sind, und
gleichzeitig gibt es mehr Einwanderung in Niedriglohnsegmenten, meist aus
bildungsfernen Schichten. Solche Unterschiede sind heute meist relevanter als
das Land, aus dem die Zuzüger stammen.
Welchen Einfluss hat denn eine mangelhafte Integration neu
zugezogener, bildungsferner Eltern auf die schulische Situation ihrer Kinder?
Diese Eltern kennen
unser Schulsystem nicht, sind oftmals total überfordert damit und gehen davon
aus, dass sie sich nicht um die Schule kümmern müssen. Oftmals sind sie auch zu
wenig leistungsorientiert, was sich negativ auf die schulische Laufbahn ihrer
Kinder auswirken kann. Krippen, Spielgruppen und Elternbildungsprogramme müssen
daher überall vorhanden sein und weitgehend kostenlos zur Verfügung stehen. Wo
beide Elternteile einen oder zwei Berufe ausüben – etwa auf Baustellen, in
Restaurantküchen, im Zimmerservice, bei Reinigungsberufen –, ist eine
mangelhafte Integration der Eltern durch ihre isolierte berufliche Situation
bedingt. Eine bewusste Verweigerung der Integration ist die Ausnahme, Scham und
Zurückhaltung wegen fehlender Sprachkenntnisse und fehlender Bildung sind der
Normalfall.
Unter den Kantonen herrscht eine Vielfalt an schulischen
Integrationskonzepten. Welche haben sich denn im Lauf der letzten Jahre
bewährt, welche eher nicht?
Das wüssten wir auch
gerne. Nur schon eine Übersicht über die Konzepte fehlt leider weitgehend. Das
gilt auch in Bezug auf den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache, den die
meisten Kantone an die Schulgemeinden delegieren. Da Kinder mit
Migrationshintergrund oftmals, aber nicht immer auch sonderpädagogisch
integriert und betreut werden, brauchen wir auch eine Übersicht über die
unterschiedlichen Konzepte der Kantone im Bereich Sonderpädagogik. Der
Lehrerverband LCH hat deshalb schon 2012, also ein Jahr nach Inkrafttreten des
Sonderpädagogik-Konkordats der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz, eine
Studie mitfinanziert, um wenigstens über das sonderpädagogische Grundangebot in
der Deutschschweiz eine Übersicht zu erhalten. Ich habe in einer Expertengruppe
des Bundesamts für Statistik gefordert, die Bildungsstatistik in diesem Bereich
auszubauen, was inzwischen geschehen ist. Daher erwarten wir erstmals im
Schweizer Bildungsbericht 2018 mehr Übersichten und Analysen für diesen
Bereich.
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