In einem Kirchenlager fesselten sechs 13-Jährige einen Gleichaltrigen. Ein Spiel, sagen sie. Gewalt, sagen die Behörden. Eine klassische Überreaktion, sagt der Psychologe.
Hexenjagd im Emmental, Sonntagszeitung, 9.7. von Dominik Balmer
Verhaftet wird der
13-jährige Thomas* am Dienstag um 9.45 Uhr. Der Polizist wartet im Schulhaus,
als der Bub, der vor dem Coop-Supermarkt mit zwei Kollegen Schülerzeitungen
verkauft, Nachschub holen will. Der Polizist ist nett und fragt als Erstes: «Wo
ist dein Handy?»
Ein Dorf im
Emmental ist an diesem Tag Schauplatz einer grossen Polizeiaktion. Zwölf Beamte
in Zivil fahren vor – sie verhaften fünf weitere Siebtklässler. Drei holen sie
direkt aus dem Unterricht in der Sekundarschule, zwei stellen sie vor dem Coop.
Thomas spielt Fussball, trainiert Kung-Fu, mag Videogames und geht oft mit dem
Hund spazieren. Sein Klassenlehrer sagt, er sei «ein interessierter, lebhafter
und aktiver Schüler, der sich an die geforderten Regeln hält». Er habe «gute
Umgangsformen», sei «beliebt und gut integriert». Im Gespräch zu Hause am
Küchentisch schenkt Thomas Mineralwasser nach, stellt Schokolade auf den Tisch,
hilft beim Abräumen, lacht mit seiner Mutter.
Das Verhör dauert sieben
Stunden
Es ist eine
Geschichte über die Grenzen von Kinder- und Jugendspielen. Was ist tolerierbar?
Wo beginnt eine strafbare Handlung? Und es ist auch eine Geschichte einer
misslungenen Deeskalation. Deshalb steht der Fall für viele andere. «Wir
erleben eine Amerikanisierung unserer Gesellschaft», sagt der Psychologe Allan
Guggenbühl. Heute sei es ein Trend, bei jeder Kleinigkeit eine Anzeige
einzureichen – gerade bei Schulen.
Warum er
mitkommen solle, fragt Thomas an jenem Dienstag. «Es geht um einen Vorfall in
einem Lager», sagt der Polizist.
Die Beamten
fahren mit Thomas zur Wohnung seiner Eltern. Er gibt das Handy ab,
benachrichtigt seine Mutter. Die Polizisten sagen, vielleicht würden sie den
Buben die Nacht über in Arrest behalten. Zum Abschied küsst und umarmt die
Mutter ihren Sohn. Die Polizei bringt die sechs 13-Jährigen auf drei Posten.
Die Beamten kommunizieren miteinander, gleichen Aussagen ab, spielen die Buben
gegeneinander aus. Thomas’ Verhör dauert sieben Stunden, der Polizist bietet
ihm Cola und Snickers an. Er lehnt ab.
Sie wollen
dem Buben die Fingerabdrücke nehmen und ihn fotografieren – für die
Verbrecher-Datenbank. Es heisst, das sei Standard. Erst das Berner Obergericht
pfeift die Polizei zurück. Es sei unverhältnismässig, den Buben
erkennungsdienstlich zu erfassen.
Am Anfang stand eine
Wette
Nach der
Befragung durch die Polizei folgen weitere Einvernahmen bei der
Jugendanwaltschaft. Nicht alle können damit so umgehen wie Thomas. Ein Bub
braucht Schlaftabletten, fiebert und erbricht sich vor den Terminen.
Was im Lager
der reformierten Kirche im April 2016 im Schlafraum der Buben tatsächlich
passiert ist, lässt sich nicht mehr bis ins letzte Detail rekonstruieren. Die
Aussagen der Beteiligten sind zu widersprüchlich.
Thomas sagt,
das Ganze sei aus einer Wette heraus entstanden, er sei von anderen Schülern
aus Jux gefesselt worden. Er habe sich befreit. Dann sei der andere Bub
gekommen, habe die Hände hingestreckt und gesagt, das könne er auch: sich
befreien.
Im
Strafbefehl der Jugendanwaltschaft wird das Aussagen-Wirrwarr zur
unumstösslichen Wahrheit: Thomas und die fünf anderen Buben schlugen vor, einen
Gleichaltrigen zu fesseln, um «zu schauen, ob er sich selbst befreien konnte».
Dazu nahmen sie ein Seil aus einer Spielkiste, banden ihm die Hände vor dem
Bauch zusammen, verknoteten es und wickelten es um die Beine. Zuletzt stülpten
sie dem Buben einen Kissenbezug über den Kopf. Er wollte sich befreien, fiel hin
und zog sich Prellungen zu. Der Gefesselte weinte, die Buben lachten, zwei
schleiften ihn über den Boden. Thomas löste «nach ungefähr 10 Minuten» das
Seil.
Verfahren kostet 150'000
Franken
Der
gefesselte Bub war schon früher Opfer von Streichen – auch von anderen Kindern.
Es hat Interventionen und Elternabende gegeben. Bei seiner Familie sind Wunden
aufgerissen.
Die
Jugendanwältin verurteilte die sechs Buben wegen Tätlichkeit und
Freiheitsberaubung. Fünf Strafbefehle sind rechtskräftig. Thomas und seine Eltern
akzeptierten die Strafe. Er muss «eine unbedingte persönliche Leistung von drei
Tagen in Form von deliktsorientierten Gesprächen» erbringen. Hinzu kommt ein
weiterer Tag bedingt, mit einer Probezeit von einem Jahr.
Zudem muss er
Verfahrenskosten von fast 10'000 Franken übernehmen, sollte er in den nächsten
zehn Jahren zu Vermögen kommen. Das Verfahren kostete um die 150'000 Franken.
Und es dauerte fast anderthalb Jahre.
«Versagen der
pädagogischen Welt»
«Der Fall ist
leider bezeichnend», sagt Philipp Ramming, Präsident der Schweizerischen
Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie. «Er zeigt das Versagen der
pädagogischen Welt, indem ein Problem an die staatliche Autorität delegiert
wird.» Die verurteilten Jugendlichen würden sich kaum «korrekt behandelt»
fühlen. «Für sie muss es sich anfühlen wie eine Hexenjagd. Und auch die
Opferfamilie hat nichts davon, weil es keine Versöhnung gibt.»
Es habe schon
immer Kinder gegeben, die unter die Räder gekommen seien. «Das ist und bleibt
fies und gemein», sagt Ramming. Nur müssten die Lösungen mit pädagogischen
Mitteln erfolgen. «Man kann die Rädelsführer aus dem Umfeld entfernen oder den
Schwachen einen Götti oder eine Begleitperson zur Seite stellen. Das
funktioniert häufig sehr gut. Miteinander ist immer erfolgreicher als
gegeneinander. Aber da müssen die Eltern mitmachen.»
Im Dorf wurde
zunächst alles vorbildlich aufgegleist. Wenige Tage nach dem Lager organisierte
die Kirche eine Besprechung, an der alle Buben teilnahmen. Sie mussten sich
fragen, was falsch gelaufen ist und wie solche Vorfälle verhindert werden
können. «Wir suchten eine erste Form der Entschuldigung», heisst es in einem
Schreiben nach dem Anlass.
Schulleiter ermuntert
die Mutter zur Anzeige
Thomas ging
von der 1. bis zur 3. Klasse mit dem Opfer in die gleiche Klasse. Sie waren
Kollegen, Thomas holte den Buben jeden Morgen ab. «Wir haben uns nichts gedacht
bei der Aktion. Erst als ich zu Hause war, merkte ich, dass wir einen ‹huere
Schissdräck› gemacht haben», sagt er heute. Thomas hat sich entschuldigt.
Die Mutter
des Opfers erwog eine Anzeige – «wegen des Filmens», wie sie in einer Mail an
einen Schulleiter schreibt. Sie vermutete, die Buben hätten ihren Sohn
fotografiert und gefilmt. So steht es in der Strafanzeige. Doch diese Filme und
Fotos existieren nicht. Wie es scheint, wurde die Mutter vom selben Schulleiter
zu einer Anzeige ermuntert. Einen Tag nach dem Lager schrieb er ihr über die
E-Mail-Adresse der Schule: «Ohne weitere Gespräche abzuwarten, würde ich dir
wohl empfehlen, eine Anzeige zu machen. Das wäre evtl. eine Sprache, die die
Jugendlichen verstehen . . .»
Der
Schulleiter sagt heute, er habe den Rat als Privatperson gegeben. Die Mutter
des Opfers will sich nicht äussern. Die zuständige Gemeinderätin sagt, alles
habe sich beruhigt. Die Verantwortlichen von Schule und Kirche seien
«sensibilisiert und aufmerksam».
Lektion gelernt
Thomas’
Mutter hat sich bei der Mutter des Opfers gemeldet und sie gebeten, die Anzeige
zurückzuziehen. Die «Giele» hätten ihre Lektion gelernt, es sei doch Gras über
die Sache gewachsen.
«Letztlich
bekommt man den Eindruck, dass die Erwachsenen sich nicht mehr getrauen,
hinzustehen und soziale Normen im persönlichen Kontakt durchzusetzen», sagt
Psychologe Ramming. Kinder und Jugendliche lebten ja nicht isoliert. Sie sind
umgeben von Erwachsenen. «Wo waren die beim Vorfall? Wo sind sie jetzt?»
Thomas, vor kurzem 15 Jahre alt geworden, besucht nach den Sommerferien die
neunte Klasse. Das Opfer von damals sieht er fast jeden Tag auf den
Pausenplatz. Sie besuchen nicht mehr die gleiche Schule, aber sie grüssen sich.
Bald findet das
Konfirmationslager statt. Dann kommen alle Buben wieder zusammen.
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