Alternativen
zu Fakten: Seit Pisa und Bologna setzt die deutsche Bildungspolitik auf
Kompetenzen statt auf Bildung. Auf der ersten Inkompetenzkonferenz in Frankfurt
formiert sich Widerstand.
Klären Sie Ihre Schreibabsicht, prüfen Sie Ihre Gefühle! FAZ, 12.7. von Thomas Thiel
Die
Kompetenzkompetenz gibt es wirklich. Edmund Stoiber hatte sich nur scheinbar
verheddert, als er versuchte, die Machtbalance zwischen Nationalstaat und
Europäischer Union mit dem juristischen Fachwort sachgerecht zu erklären, was
ihm 2006 zehn Minuten unfreiwilligen Ruhm auf Youtube bescherte. Es gibt aber
auch die Kompetenzorientierungskompetenz und die Durchhaltevermögenskompetenz.
Wer an deutschen Schulen und Hochschulen lehren oder unterrichten will, sollte
beides mitbringen. Mit der Bologna-Reform und der Pisa-Vergleichsstudie ist ein
Sturm an Kompetenzen über das deutsche Bildungssystem hereingebrochen, der in
seinen kuriosen Wortgirlanden auf der ersten Frankfurter Inkompetenzkonferenz
Heiterkeit erregte, in seinen Folgen aber besorgte.
Die
prominent besetzte und gut besuchte Frankfurter Veranstaltung verstand sich als
Kontrapunkt. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann nannte das
Kompetenzmodell in seinem Eröffnungsvortrag den bildungspolitischen Sündenfall
unserer Epoche. Das war als Kampfansage zu verstehen. In Frankfurt waren
Aufbruchsstimmung und Widerstandsgeist zu verspüren. Bernhard Kempen, Präsident
des Deutschen Hochschulverbands, zog die Vereinbarkeit des gerasterten
Menschenbilds der Kompetenzverfechter mit dem grundgesetzlichen Freiheitsverständnis
in Zweifel. Andere wogen die Erfolgsaussichten einer Musterklage ab.
Kompetenz,
stellte Liessmann klar, heiße nicht Bildung. Sie ziele allein auf praktisches
Wissen, prüfe Studenten auf ihre Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt und
gerate, da sie zum Allheilmittel stilisiert werde, zum Gegenteil von Bildung.
Das Vorbild sei der Fließbandarbeiter. So wie Arbeitsschritte im industriellen
Fertigungsprozess in einzelne Module zerlegt werden, um zu prüfen, ob ein
Arbeiter sie bewältigen könne, so werde nun, so Liessmann, der Bildungsweg in
Kompetenzschnipsel zerschnitten, bis Person und Geist dahinter verschwinden.
Modell stehe hierfür ein nach dem Bild der künstlichen Intelligenz geformter
Schubladenmensch, wie die Philosophinnen Bernadette Reisinger und Johanna
Gaitsch ausführten, der seinen Dozenten nur noch als Sozialcoach benötige und
das Wissen in einem magischen Akt aus sich selbst heraus zeuge. In der Sprache
des Kompetenz-Curriculums: Erweitere dein Wissen durch dein eigenes Wissen.
Wer den
Wirtschaftsexperten von der OECD die Kompetenzkompetenz gegeben hat, ihre
ökonomischen Schemen über die deutsche Bildungspolitik zu stülpen, wäre noch zu
klären. Die unbefriedigende Antwort lautet: Faktisch übt sie diese aus, seit
sie der deutschen Bildungspolitik erfolgreich eingeredet hat, dass sie dem
Erfolgsmodell der dualen Bildung zum Trotz möglichst viele Studenten in kurzer
Zeit durch das Bildungssystem schleusen soll. Dafür wurden eine Reihe
hochabstrakter Kompetenzen erfunden, die so zerstückelt werden, dass noch der
geringste Lernfortschritt objektiv messbar werde. An Schweizer Grundschulen
lassen sich laut Lehrplan 4500 Kompetenzen erwerben. Omnikompetenz ist nie
erreicht. Das Kompetenzrad lässt sich immer weiterdrehen, perspektivisch kann
alles zur Kompetenz werden: Bewegung, Hören, Atmen. Zu den Schweizer
Grundschulkompetenzen gehört es beispielsweise, seine Aufmerksamkeit auf
sprechende Personen zu richten. Also: zuhören. Doch welcher Schüler träume
davon, fragte Liessmann, einmal zuhörkompetent zu werden?
Das
Fernziel des Kompetenzmodells ist nach dem Soziologen Stefan Kühl ein
europaweiter Bildungskataster, der jede Kompetenz in eine exakte Stufenfolge
einordne und dadurch internationale Vergleiche ermögliche. Kühl äußerte jedoch
Zweifel, dass sich Niveauunterschiede durch die schwammig formulierten
Kompetenzen objektiv feststellen lassen. Lesekompetenz werde beispielsweise
nicht an Texten unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade geprüft. Sei der Aufsatz,
fragte Johanna Gaitsch, nicht die bessere Methode, Verständnis und
Lesekompetenz zu prüfen, als das standardisierte Ausfüllen von
Multiple-Choice-Kästchen?
Die
rhetorischen Nebelschwaden von der globalen Wissensgesellschaft, deren Wandel
man sich in den Augen der Reformer nicht schnell genug vorstellen kann, sorgen
für ausreichend Dunkelheit, damit niemand der Reformparole, das Gedächtnis sei
ein toter Speicher, der durch Suchmaschinen ersetzt werden könne, auf den Grund
geht. Konrad Paul Liessmann wandte ein, er sei selbst nach dem Vergessen von etwas
Erlerntem ein anderer als zuvor. Der Mediziner Josef Pfeilschifter, Dekan der
gastgebenden medizinischen Fakultät, ergänzte dies um den Hinweis, dass jedes
Wissen eine neuronale Spur hinterlasse. Das Gedächtnis sei ein aktives System,
das durch Wiederholung und Systematisierung trainiert werden müsse und ohne
dies verkümmere.
Fachwissen
gilt im Kompetenzmodell jedoch als Bildungszopf, und wo man diesen nicht ganz
abschneidet, da verschiebt man ihn in den Curricula immer weiter nach hinten.
Ohne Fachwissen, wandte der biowissenschaftliche Fachdidaktiker Hans Peter
Klein ein, lasse sich keine komplexe Frage stellen. Großgeschrieben werden
dagegen Gefühl, Sozialkompetenz und Lebensnähe. Als den Leseakt vorbereitende
Kompetenz gilt es beispielsweise, sich in eine positive Lernatmosphäre zu
versetzen und seine Schreibabsicht zu klären. Geschult wird ein gefühltes
Wissen, in das gesellschaftspolitische Vorstellungen einfließen. Die
Alternative zu Fakten kommt hier aus der Wissenschaft selbst.
Diese
Tendenz hat Schulen wie Hochschulen über alle Fächer hinweg ergriffen. Der
aktuelle Proband ist die Medizin. Nach dem in Reform befindlichen Studienplan
(Masterplan 2020) sollen angehende Ärzte auch auf Empathiefähigkeit geprüft
werden. Einfühlungsvermögen ist zweifellos eine wichtige Fähigkeit für den
Landarztberuf, den man im Zug der Reform wieder attraktiv machen möchte, und
gegen ihre Schulung ist nichts einzuwenden ist, wäre sie nicht, wie Josef
Pfeilschifter kritisierte, mit der Bagatellisierung des Fachwissens verbunden.
Und nach welchem Kriterium will man Empathiestärke feststellen? Am Feuern von
Spiegelneuronen? Laut Pfeilschifter ist das Kompetenzmodell in der Medizin ein
politisches Instrument zur Erhöhung der Landarztquote. Beim Schritt in die
Praxis werde es jedoch ernst, warnte der Pädagoge Jochen Krautz: Mediziner ohne
Fachwissen haben tödliche Konsequenzen.
Treibende
Kraft der Kompetenzbewegung sind die Institute für Qualitätsprüfung und
-entwicklung. Hier hat laut Hans Peter Klein eine Fraktion von Bildungsdidaktikern
die Regie übernommen, die sich vom Fachwissen verabschiedet habe, oft nicht
einmal mehr über einen fachlichen Hintergrund oder schulische Erfahrung
verfüge. Umso leichter falle es ihr, ihre Kompetenzschablonen von der Biologie
bis zur Physik auf fremde Fächer zu pressen. Das Fachwissen wandert an den
Rand. Von Bildung, so Klein, sei in den Kerncurricula nicht einmal mehr die
Rede. Im Gegenzug werden selbst Mathematik- oder Physikaufgaben mit immer mehr
Text angereichert, der in seinem sozialpsychologischen Kauderwelsch eine eigene
Form der Verstehenskompetenz erfordert.
Die
Beispiele animierten zur Heiterkeit. Schülern der achten Klasse, führte der
Mathematiker Hans-Jürgen Bandelt vor, wird vom Berliner Institut für
Qualitätsentwicklung etwa die Aufgabe gestellt, ein Fieberthermometer
abzulesen. Man wird dies nicht auf den ersten Blick als Physikaufgabe erkennen.
Eine nach dem Kompetenzmuster erstellte Biologie-Abiturfrage will von Schülern
wissen, was bei der Zählung von Zugvögeln zu Abweichungen führen könne. Eine
der richtigen Antworten lautet: Die Ornithologen könnten sich verzählen.
Es
stellt sich die Frage, warum ein derart unpraktikables Konzept zum
Erfolgsmodell avanciert ist. Warum gab und gibt es so wenig Widerstand unter
Lehrern und Professoren? Bernhard Kempen verwies auf das politische
Steuerungsinstrument der Drittmittel. Wer sich dem Kompetenzmodell verweigere,
müsse Karrierenachteile und Kürzungen hinnehmen oder überstehe, wie Hans Peter
Klein anfügte, kein Lehramts-Referendariat. Kempen äußerte aber auch seine
Verärgerung darüber, dass der Erfolg des Kompetenzmodells nicht möglich wäre
ohne die Mithilfe von Kollegen, die sich gegen ihre Überzeugung einkaufen
ließen. Der Pädagoge Andreas Gruschka hielt den Kompetenz-Glauben mittlerweile
selbst unter den Reformern für erloschen, was diese aber nicht davon abhalte,
ihn weiter zu propagieren.
Dass
Widerstand möglich ist, ließ sich in Frankfurt erkennen. Mancher warf schon den
Blick in eine Zukunft, in der das Kompetenzmodell aufgrund seiner praktischen
Mängel ausgemustert und Bildung neu erfunden wird. Dann freilich unter anderem
Namen und als etwas revolutionär Neues.
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