Gleichstellung
· Kinder mit einer Behinderung haben in der Schweiz Anspruch auf den Besuch
einer Regelschule. Doch die Umsetzung der integrativen Schule ist eine
Herausforderung – für die Kinder, Eltern, Lehrer und Schulen.
Der lange Weg zur Integration, Thurgauer Zeitung, 15.5. von Michel
Burtscher
Bereut
hat Tamara Pabst den Entscheid nie, ihren Sohn Rishi in die Regelschule zu
schicken. Er gehe gerne in die Schule, fühle sich dort wohl, sagt sie. Früher
wäre der Fall klar gewesen, und der Knabe hätte eine Sonderschule besucht. Der
Neunjährige aus Winterthur hat nämlich eine Beeinträchtigung: Trisomie 21,
Down-Syndrom. Doch seit geraumer Zeit gilt in der Schweiz wie auch in anderen
Ländern das integrative Schulmodell. Die Idee dahinter: Alle Kinder – auch
solche mit einer Behinderung, Verhaltensauffälligkeit oder Lernschwäche –
gehen grundsätzlich zusammen in die gleichen Klassen in der Regelschule statt
in eine Sonderschule oder in Kleinklassen.
Die
integrative Schule ist eines der grossen Projekte, welche die hiesige
Bildungslandschaft im Moment beschäftigen. Heute vor drei Jahren ist in der
Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten, gemäss der die
Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem für Menschen mit Behinderungen
auf allen Ebenen gewährleisten müssen. Ähnliche Bestimmungen enthalten auch das
nationale Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 sowie viele kantonale
Schulgesetze. Wie hat sich die Situation diesbezüglich also entwickelt? «Im
Vergleich zu anderen Ländern ist die Schweiz recht gut unterwegs», sagt Peter
Lienhard, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in
Zürich. «Doch am Ziel sind wir noch lange nicht.»
Fortschritte an einigen Orten, Rückschritte an
anderen
Den
Fortschritt der Schweiz bei der integrativen Schule mit Zahlen zu erfassen, ist
schwierig. Der Bund erhebt keine schweizweiten Statistiken dazu. Zu
unterschiedlich sind die Modelle von Gemeinde zu Gemeinde, von Kanton zu
Kanton. «An einigen Orten wurden in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte
gemacht, an anderen sogar Rückschritte», bilanziert Heidi Lauper,
Co-Geschäftsführerin des Behindertenverbandes Insieme.
Während
die Kleinklassen heute grösstenteils verschwunden sind, liegt die
Sonderschulquote je nach Region laut Professor Peter Lienhard noch in einer
Spanne von rund 2 bis 5 Prozent. «Da hat es noch Potenzial nach unten, wir
könnten noch mehr integrieren», sagt er. Diese Meinung teilt auch Lauper. Für
sie ist der Vorteil der integrativen Schule klar: «Der Besuch der Regelschule
ist der beste Weg, damit Menschen mit einer Behinderung wirklich in die
Gesellschaft integriert werden», sagt Lauper.
Widerstand von Lehrern und Eltern
Das
klingt gut, doch die Integration hat auch ihre Schattenseiten. Lehrpersonen
klagen über Überforderung, über unhaltbare Zustände. Medien haben im Zusammenhang
mit der integrativen Schule schon vom «Schiffbruch einer schönen Idee»
geschrieben. Kritisch wird die Situation vor allem dann, wenn zu viele Schüler
mit einer Behinderung oder einer Verhaltensauffälligkeit in die gleiche Klasse
gehen und es gleichzeitig nicht genügend Lehrpersonen und Sonderpädagogen hat,
um sie auch zu betreuen. Es gibt denn auch immer wieder Widerstand von
Lehrpersonen gegen die Integration, wie Lauper sagt. Vielen fehlt auch die
Erfahrung im Umgang mit behinderten Kindern. Und auch bei den Eltern der
normalbegabten Kinder gibt es teilweise Ängste. «Sie befürchten, dass das
schulische Niveau leiden könnte», sagt Lienhard. Gegen dieses Argument wehrt er
sich jedoch vehement: Wissenschaftliche Studien hätten ganz klar gezeigt, dass
das nicht stimme, sagt er. Das betont auch Heidi Lauper von Insieme: «Gerade
was die Sozialkompetenzen angeht, lernen die Kinder viel in der integrativen
Schule.»
Die
Experten anerkennen aber, dass es Herausforderungen gibt, der Druck auf die
Lehrer teilweise zugenommen hat. Hier sieht Lienhard die Schulleitung in einer
Schlüsselrolle: «Sie muss schauen, dass nicht zu viele Kinder mit einer
Behinderung oder einer Verhaltensauffälligkeit in der gleichen Klasse sind»,
sagt er. «Und die Schulbehörde ihrerseits muss dafür besorgt sein, dass die
Lehrerinnen und Lehrer wirksam unterstützt werden.» Diesen Punkt betont auch
der Schweizerische Lehrerverband und warnt darum vor Sparübungen bei der
Bildung.
Scheu vor einer Behinderung abbauen
Beim
neunjährigen Rishi war das alles kein Problem, wie seine Mutter erzählt. Von
der Schule, dem Klassenlehrer und den Klassenkameraden sei er gut aufgenommen
worden, sagt Pabst. Eine Heilpädagogin kümmert sich um seine Betreuung, während
sich der Klassenlehrer grösstenteils den anderen Schülern widmen kann. Für
Rishi hat sich die Integration gelohnt, ist seine Mutter überzeugt. «Er hört
viel in der Klasse und hat darum sprachlich grosse Fortschritte gemacht», sagt
sie. Doch auch Rishi hat zu kämpfen, wenn auch auf einer anderen Ebene:
«Normale, neurotypische Kinder sind natürlich in allem viel schneller. Rishi
ist manchmal überfordert und kann ab und zu unwirsch reagieren. Gespräche und
Erklärungen beugen hier Missverständnissen vor», sagt Pabst. Es brauche
Offenheit und immer wieder Aufklärung, um die Scheu vor einer Behinderung bei
den Kindern und ihren Eltern abzubauen, sagt die Mutter.
Rishi
kann theoretisch in der Regelschule bleiben bis zum Ende der Sekundarstufe.
«Alle Lehrkräfte sind vorbereitet und wissen, dass ein Kind mit einer
Behinderung zu ihnen kommt», sagt Pabst. Sie betont aber auch, dass sie die
Situation jedes Jahr wieder neu beurteile. «Wenn ich merke, dass Rishi leidet,
werde ich ihn auch wieder aus der Regelschule nehmen», sagt sie. Denn Pabst
glaubt nicht, dass die integrative Schule für alle Kinder mit einer Behinderung
die richtige Schulform ist. Professor Peter Lienhard sagt: «Eine Schule für
alle ist ein wichtiges Ziel, das so rasch aber nicht umgesetzt sein wird.»
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