Freiheit sei für die Bildung die erste Bedingung, noch wichtiger als die
Neugier, schrieb Wilhelm von Humboldt. Doch beides erstickt zunehmend in engen
Lernparadigmen und einer Fülle von Vorschriften.
Vom Wert pädagogischer Freiheit, Journal 21.ch, 23.5., von Carl Bossard
Das pädagogische Feld ist weit; doch in den Schulen wird es eng – und
stressig: Der Druck steigt, der Freiraum schrumpft. Wie sonst lässt sich der
Stresstest erklären, dem sich alle angehenden Lehrpersonen der PH
Nordwestschweiz seit diesem Jahr zu unterziehen haben? Wie wenn es im
Unterricht nur noch darum ginge, Stress zu bewältigen – und nicht mehr um den
pädagogischen Bezug – als Grundlage guten Lernens. Doch es ist Faktum: Das
dichte Regelwerk und die Fülle von Vorgaben bringen viele an Grenzen. Auch der
Lehrplan 21 wird kaum Abhilfe schaffen. Im Gegenteil.
Aufgabenvielfalt und Kotrollsystem erdrücken
„Das System engt mich ein.“ So klagte jüngst einer meiner begabtesten
Studenten; er unterrichtet gerne und mit Verve. Aber er hetze von Inhalt zu
Inhalt. Ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit
zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis. Und dauernd müsse er
beurteilen. Von Freiheit keine Spur. Die Vorgaben kommandierten. Er wird nach
zwei Jahren Lehrersein weiterstudieren – und geht der Schule verloren.
Vermutlich für immer. Leider kein Einzelfall.
Ähnliches erzählt eine engagierte Sekundarlehrerin. Sie eile von Prüfung
zu Prüfung. „Was ich machen muss, ist Stoff durchnehmen mit dem alleinigen
Ziel, ihn nachher zu testen und eine Note zu haben.“ 20 Examina allein in
Französisch, über 60 Prüfungsnoten pro Semester, dazu Zwischenzeugnisse mit
Zahlen und ellenlangen Rastern. „Ich muss die Kinder mit Kreuzchen in Kästchen
drücken.“ Doch „ich werde ihnen damit nie gerecht“, fügt sie hinzu. Jedes
Aufgaben-Vergessen, jedes Zu-spät-Kommen muss notiert werden; nach Gründen
fragt niemand. Angekreuzt gilt als erledigt, basta: Reduktion auf Striche – und
Noten. Die Neugier erstickt. „Wie wollen Kinder da noch die Freude an der
Schule behalten?“ Das Gleiche gilt wohl auch für die Lehrerin.
Addition als Kennziffer der Schule
Zwei Impressionen, zwei subjektive Sichten, vielleicht nur bedingt
repräsentativ. Wer allerdings den schulischen Alltag näher betrachtet, erkennt
schnell: Der Bildungsauftrag und das Vermitteln von Wissen und Können sind
schwieriger geworden. Die Volksschule hat viele neue Aufgaben übernommen. Die
Stofffülle nimmt zu, die Freiheit ab. Allzu viele Ansprüche lasten auf der
Schule und führen zur Überlastung; denn wer die Schule inhaltlich entgrenzt und
damit „grenzenlos“ macht, erschwert den pädagogischen und didaktischen Auftrag
wesentlich. Alles ist heute irgendwie wichtig geworden, von den frühen
Fremdsprachen übers Individualisieren bis zur Integration verhaltensauffälliger
Kinder. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist anspruchsvoll und
fordernd. Darum wird das Korsett enger und der Vorschriftenkatalog rigider.
Dazu kommt der Druck der Eltern. Auch deren Ansprüche steigen. Nicht
wenige sehen Schule gerne als niedere Serviceleistung des Staats, berappt aus
ihren Steuergeldern. Gemäss dieser Kioskmentalität haben Lehrer den Nachwuchs
fit zu trimmen für den globalen Wettbewerb. Notfalls hilft der Anwalt.
Vom Umgang mit Polaritäten
Manches zählt zu den pädagogischen Konstanten. Zum Unterrichten und
Erziehen gehörte schon immer der Umgang mit Dichotomien, das Aushalten von
Widersprüchen. Empathie und Widerstand gleichzeitig; verstehen und nicht mit
allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen,
das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Die Lehrerin
arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des
Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisation und Individuation, zwischen
kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von
Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.
Diese Dilemmata lassen sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen sie
aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft und
Energie fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der
Idealfall nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe.
Von der Freiheit des Weges
Zu den belebenden Konstanten gehörte einst auch die didaktische
Freiheit. Diese Freiheit steckte in jeder Lehrer-DNA. Sie war so etwas wie
konstitutives Berufselement und machte die Profession attraktiv. Für viele war
es darum der Traumberuf; ein Leben lang blieben sie ihm treu. Die
Unterrichtsziele waren gegeben, die Wege frei. Den méthodos, den Weg zum Ziel,
konnten die Pädagogen selber bestimmen – situativ und nach eigenem Entscheid.
Die Methode stand in direkter Korrelation zu den Kindern und ihren Bedürfnissen
– und natürlich auch zum Unterrichtsinhalt und den Präferenzen der einzelnen
Lehrperson.
Vitale Lehrerpräsenz als Non-Valeur
Heute wird dieser Weg auf standardisierte Weise ganz genau festgelegt.
Alle Bildungsinhalte, die schulisch vermittelt werden sollen, sind
kompetenztheoretisch gefasst. Damit verbunden ist das eigenverantwortliche
Arbeiten, das selbstorientierte und selbstregulierte Lernen. Es dominiert und diktiert
die Methode; sie wird zum Direktiv von oben: Lernende sollen selber alles aktiv
hervorbringen. Der Lehrer wird zum Begleiter. „Ja nicht zu viel Interaktion der
Lehrperson!“, berichtet die Sekundarlehrerin. So suggeriere man ihr. Und
angehende Junglehrer sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien in der
Lektion „zu präsent gewesen“. Dabei verhalten sie sich genauso, wie es die
moderne Hirnforschung postuliert: vital präsent sein, verstehende Zuwendung
zeigen, ermutigen: die Pädagogin als menschliches Gegenüber, der Pädagoge als
erste Stimmgabel, der Resonanzen erzeugt und im jungen Menschen etwas zum
Klingen bringt. (1)
Nochmals die Sekundarlehrerin: „Mir tun die Kinder leid; jedes muss den
Stoff für sich selber erarbeiten. Wie viele lustige Momente des Unterrichts
gehen da verloren! Wie viel Zusammengehörigkeitsgefühl!“ Die Klasse wird
atomisiert, das Gemeinsame versiegt, das Unplanbare schwindet. Die Wissenschaft
sagt es so: Was sich so modern anhört, nützt nur den leistungsstarken
Schülerinnen; den schwächeren Schülern erschwert es den Zugang zu Neuem und
Anspruchsvollem. (2)
Humane Energie kommt aus Freiheit
Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben und
weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit
mitmenschlichem Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind der Kern
der Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht mehr Vorschriften. Sie
brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete.
Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven
und operativ engen Vorgaben, wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet.
Der engagierte Junglehrer würde der Schule wohl treu bleiben, und die
Sekundarlehrerin könnte mit ihrer Klasse wieder gemeinsame Exkursionen planen.
Freiheit als erste Bedingung zur Bildung: Für gute Schulen ist und
bleibt Wilhelm von Humboldt noch heute Idol. Amerikanische Eliteuniversitäten
haben sein Bildungsideal immer hochgehalten.
(1) Joachim Bauer (2017), in: Zur Bedeutung von Spiegelung und
Resonanz: Beziehungsorientierung aus neurowissenschaftlicher Sicht. Vortrag am
Kongress Beatenberg „Worauf es in der Schule wirklich ankommt“. Unpubl. Msc.;
ders. (2007), Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und
Eltern. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag GmbH, S. 51f.
(2) Vgl. u.a. Andreas Helmke (2016), Ohne […] klare Strukturen
und Lehrersteuerung geht’s nicht. Unpubl. Msc.; ders. (2015),
Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und
Verbesserung des Unterrichts. 6. Auflage. Seelze-Velber: Friedrich Verlag GmbH,
S. 205ff.
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