Haben Schule
und Unterricht im Kampf gegen rechtspopulistische und postfaktische Strömungen
im Netz eine Chance, haben sie ihn womöglich noch gar nicht aufgenommen oder
ihn bereits verloren?
Schule im postfaktischen Zeitalter, NZZ, 17.6. von Volker Reinhardt
Wenn wir im
Internet zu Themen wie Europa oder Flüchtlingspolitik recherchieren, gelangen
wir sehr schnell auf Seiten der sogenannten Identitären oder solche mit
«political incorrect news» und weitere, die sich im Netz grosser Beliebtheit
erfreuen und daher von den Suchmaschinen auch recht weit oben angezeigt werden.
Trotz den vielen geschlossenen oder geschützten Netzen und Blogs, in denen sich
Rechtspopulisten tummeln, kommt man also auch bei einer normalen Google-Suche
sehr schnell zu den einfachen Wahrheiten der «Welterklärer».
Nun könnte man
als Pädagoge oder Lehrerin sagen, dass das der Lauf der Dinge sei und dass sich
die Jugendlichen – wie zu allen Zeiten – mit den neuen Medien irgendwann
arrangieren und ihren eigenen Weg finden werden, damit umzugehen. Jedenfalls
kann es trotz der Diskussion um Pisa, Vera, Kompetenzen und Bildungsstandards
gar nicht die Aufgabe der Schule sein, dem etwas entgegenzusetzen. Wir haben so
viele Aufgaben in den einzelnen Fächern und in der Schulentwicklung zu
bewältigen, dass gar kein Platz für solche wertorientierten,
ethisch-politischen Fragen bleibt. Vielleicht sagen sich Einzelne auch, dass
wir mit unseren wenigen Unterrichtsstunden in der Schule gegen die parallele
Erziehung im Netz gar keine Chance haben. Kann es Aufgabe der Schule sein,
postfaktische Weisheiten der Populisten zu dechiffrieren und dagegen anzugehen?
Muss sich die Schule also damit beschäftigen, auch weil das Wort «postfaktisch»
von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt wurde?
Wie ist es
mit der Postfaktizität?
Überhaupt: Was
soll das mit der postfaktischen Politik eigentlich bedeuten? Gab es vor dieser
«post»-Zeit tatsächlich eine Zeit, in der Fakten die dominierende Rolle in
Gesellschaft und Politik gespielt haben? Was sind eigentlich politische Fakten?
Und waren es nicht gerade sozialwissenschaftliche Theorien wie die der
philosophischen Konstruktivisten, die uns gesagt haben, dass jeder seine
Wirklichkeit selbst konstruiert und seine eigenen Wahrheiten produziert? Also,
wie ist es dann mit der Postfaktizität?
Wir müssen aber
gar nicht philosophisch-abstrakten Überlegungen nachgehen, es reicht
beispielsweise auch schon die gesellschaftsrelevante Frage, ob sich die Schere
zwischen Arm und Reich weiter öffnet oder nicht. Fragen wir Expertinnen von
Arbeitgeberinstitutionen, erfahren wir andere Wahrheiten, als wenn wir solche
der Gewerkschaften befragen. Ist (und war) also alles nur eine Frage des
Standpunktes, der Meinung, der individuellen Sicht auf Politik und
Gesellschaft? Und sind damit alle – unterschiedlichen – Sichtweisen auf Politik
und Gesellschaft gleichwertig? Ist nicht gerade durch den Beutelsbacher Konsens
schon in den 1970er Jahren festgeschrieben worden, dass alles, was in Politik
und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers
dargestellt und diskutiert werden soll und dass niemandem eine Meinung
aufgezwungen werden darf, er also nicht indoktriniert werden darf? Wenn also
politische Mündigkeit ein wichtiges Ziel der Bildungsanstrengungen in Schule
und Unterricht darstellt, dürfen Schule und Unterricht auch nicht eingreifen,
wo Meinungen und Haltungen nicht den Vorstellungen und Werten der Lehrerschaft
entsprechen? Also lassen wir als Lehrer und Lehrerinnen lieber die Finger von
heissen Themen, die populistisch aufgeladen sind und mit denen unsere
Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit, im Netz und in den Peer-Gesprächen
konfrontiert werden?
Fragen über
Fragen, die aufzeigen, dass es gar nicht so leicht ist, sich als Lehrerinnen
und Lehrer den Themen eines vermeintlich postfaktischen Zeitalters, das durch
populistische Strömungen, durch Beschimpfungen, Entgleisungen und Hasstiraden –
vor allem im Netz – geprägt ist, zu stellen. Was also ist zu tun?
Lügen als
solche aufdecken
Erstens gibt es
tatsächlich Themen und Kontroversen, bei denen Behauptungen durch
Faktenrecherche leicht als richtig oder falsch deklariert werden können. Hier
sollten sich Lehrerinnen und Lehrer nicht scheuen, populistische Lügen als
solche zu kennzeichnen und die Fakten auf den Tisch zu legen. Zweitens sind
gerade die gesellschaftlichen und politischen Themen und Fragen für Schule und
Unterricht interessant, bei denen man nicht auf Anhieb Lügen bzw.
Postfaktizität dechiffrieren kann, bei denen es einen aber gefühlsmässig
durchschüttelt oder fast zerreisst. Hier hilft, was sehr häufig hilft, wenn's
in der Schule wirklich ernst wird: Man muss sich Zeit nehmen, man muss den
Schülerinnen und Schülern Zeit geben, damit sie sich durch Recherchen, durch
echte Argumentationen (statt durch Ad-hoc-Meinungen, Standpunkte oder
Beschimpfungen) dem Thema nähern können und die Aussagen von Populisten und die
Gegenargumente reflektieren können.
Hier helfen
Lehr- und Lernformen wie forschendes Lernen, Sozialstudien, Fallanalysen oder
Projektarbeit, um in das Thema tief einzudringen und den Schülerinnen und
Schülern die Möglichkeit zu geben, ein Thema wirklich zu begreifen und zu
analysieren. Auch das Einnehmen einer anderen Perspektive – wie zum Beispiel
durch Planspiele, Pro-Contra- oder Talkshow-Diskussionen – kann dazu beitragen,
dass sich die Lernenden mit anderen Vor- und Einstellungen eingehender
auseinandersetzen lernen. Wenn sie den Themen aktiv auf den Grund gehen, davon
also nicht nur oberflächlich hören oder darüber etwas lernen müssen, werden sie
ein differenziertes Weltbild erhalten und nicht emotionalisierten Populisten
auf den Leim gehen.
Stellung
beziehen
Drittens sollte
der Beutelsbacher Konsens nicht dazu führen, dass sich der Lehrer aus Angst vor
Überwältigung und Indoktrination der Schüler als Neutrum betrachtet und sich
jeder eigenen Überzeugung enthält. Vielmehr sollten Lehrerinnen und Lehrer nach
der gründlichen Erarbeitung bzw. Durchdringung des Themas sehr wohl ihre
Meinung dazu sagen dürfen (vor allem fordern dies die Schüler regelmässig auch
heraus) und sich nicht auf ihre Neutralität zurückziehen. Zum einen fördert das
nicht gerade die Authentizität der Lehrperson, zum anderen bekennen sich viele
Schulen in ihrem Leitbild und in ihren Grundsätzen zu Werten und erarbeiten
häufig Schulentwicklungsprogramme wie «Schule gegen Rassismus» oder «Fair
miteinander».
Aber sicherlich
ist das Sicheinlassen auf gesellschaftliche und politische Fragen immer eine
Gratwanderung zwischen Indoktrinationsverbot und Wertvermittlung; es geht also
um die Fragen: Wo halte ich mich mit meiner Meinung/Haltung zurück, und wo
möchte ich auch wert- und normorientiert bilden und erziehen? Wenn Schüler aber
einem gesellschaftlich relevanten Problem auf den Grund gegangen sind, halten
sie auch die Meinung des Lehrers aus und können sich damit auseinandersetzen
und sich vor allem argumentativ daran reiben.
Viertens sind
zentrale gesellschaftliche Fragen, die von Populisten gerne aufgenommen werden,
Themen aller Fächer und der Schule als ganzer. Es sollte sich meines Erachtens
kein Fach nicht zuständig fühlen, wenn es darum geht, Licht ins Dunkel der
postfaktischen Weisheiten zu bringen. Nicht nur die klassischen
Unterrichtsfächer Geschichte und Gemeinschaftskunde sollten sich diesen Fragen
stellen, ebenso sind die Naturwissenschaften aufgerufen, sich postfaktischem
Populismus zu stellen und Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zu geben,
sich mit den einfachen Wahrheiten der Protagonisten auseinanderzusetzen. Sie
sind aufgefordert, der wichtigen Aufgabe der Schule nachzukommen, rationales
forschendes und entdeckendes Lernen zu fördern.
Volker
Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an
der Universität Freiburg.
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