Die kantonale Fremdspracheninitiative hätte weitreichende
Folgen. Doch eine Bundesintervention hat bereits im Bundesrat Gegner.
Sprachenstreit: Zürich hat eine Schlüsselrolle, Tages Anzeiger, 15.5. von Raphaela Birrer
Im Streit um die
Fremdsprachen in der Primarschule ist der Thurgau schweizweit in die Kritik
geraten. Dass das Kantonsparlament das Französisch auf die Oberstufe
verschieben will, hat Anfang Mai für einiges Aufsehen gesorgt. Dabei steht in
einem anderen Kanton viel rascher viel mehr auf dem Spiel: In Zürich
entscheidet das Stimmvolk am Sonntag über die Fremdspracheninitiative. Sie
verlangt, dass entweder Englisch oder Französisch erst auf der Sekundarstufe
eingeführt wird – welche Sprache es sein soll, lässt das Volksbegehren offen.
Die Entscheidung läge beim Regierungsrat. Und der hat sie bereits vor dem
Urnengang getroffen: Er würde im Unterschied zum Thurgau das Englisch aus der
Primarstufe streichen.
Das erklärt zwar, warum es in der restlichen Schweiz vergleichsweise
ruhig bleibt vor dem Zürcher Urnengang. Die Romandie ist besänftigt, dass das
Französisch bei einem Ja ungefährdet scheint. Doch die Umsetzungsvariante des
Zürcher Regierungsrats löst die Probleme nicht – im Gegenteil. Würde sich die
Bevölkerung des grössten Kantons dafür aussprechen, künftig auf Primarstufe nur
noch eine Fremdsprache einzuführen, hätte das landesweit einschneidende
Konsequenzen.
Vor einem Scherbenhaufen
Seit einem Jahrzehnt bemühen sich die Kantone darum, das
Schulwesen zu harmonisieren. Dazu sind sie per Verfassung verpflichtet. Um den
Volksauftrag aus dem Jahr 2006 umzusetzen, haben die Kantone die «Vereinbarung
über die Harmonisierung der obligatorischen Schule» verabschiedet, der heute
neben Zürich 14 weitere Kantone angehören. Dieses sogenannte Harmos-Konkordat
regelt auch die Sprachenfrage: Es legt fest, dass die erste Fremdsprache ab der
dritten und die zweite ab der fünften Klasse unterrichtet werden muss. Das
entspricht dem Sprachenkompromiss von 2004, zu dem sich 22 Kantone bekennen.
Gegen all diese Verpflichtungen würde Zürich verstossen, wenn
die Initiative angenommen würde. Und im Unterschied zum Thurgau, wo das
Anliegen noch im Parlament ist, wäre dies bereits ein Volksentscheid. Damit
stünden die Kantone vor einem Scherbenhaufen. Denn bereits heute ist klar:
Schert der grösste Kanton in dieser Grundsatzfrage aus, werden andere folgen.
Zu gross ist vielerorts der Unmut darüber, dass auf Primarstufe zwei
Fremdsprachen unterrichtet werden. Das Harmos-Konkordat und der
Sprachenkompromiss wären dann Makulatur.
Offen ist noch, ob der Bund unmittelbar nach dem Zürcher
Entscheid eingreifen müsste. Die Verfassung sieht dies für den Fall vor, dass
die Kantone ihre Bildungsziele nicht harmonisieren. Innenminister Alain Berset
(SP) hat vor einem Jahr mit einer Intervention gedroht, diese aber vorerst auf
Eis gelegt – in der Hoffnung, die Kantone besännen sich auf den Kompromiss.
Gemäss Bernhard Ehrenzeller, Experte für Bildungsrecht, würde Zürich mit einer
Annahme der Initiative gegen die bundesrechtliche Harmonisierungspflicht
verstossen. «Die Bundesbehörden wären in diesem Fall grundsätzlich
verpflichtet, zu handeln. Ein gewisser Ermessensspielraum steht ihnen
allerdings wohl zu, vor allem in Bezug auf den Zeitpunkt des Eingreifens», sagt
der Professor der Uni St. Gallen.
Doch weil der richtige Zeitpunkt heikel ist, bleibt es in
Bundesbern vor der Zürcher Abstimmung seltsam still. Einzig die SP macht Druck:
Nach dem Thurgauer Parlamentsentscheid forderte die Partei vor zwei Wochen, der
Bund müsse nun seine verfassungsmässigen Kompetenzen wahrnehmen und «die
notwendigen Vorschriften» erlassen. Wenn auch noch die Zürcher Initiative
angenommen werde, müsse der Bund «unverzüglich reagieren», sagt der Walliser
SP-Nationalrat Mathias Reynard. Und sein Berner Parteikollege Matthias
Aebischer zeigt sich besorgt: «Verschiebt der Thurgau das Französisch und
Zürich das Englisch auf die Oberstufe, dividieren sich die Kantone maximal
auseinander. Östlich der Reuss entstünde ein sprachliches Flickwerk.» Auch für
Berset selbst wäre die Umsetzung des Zürcher Volksbegehrens erklärtermassen
eine rote Linie.
Indes: Berset müsste mehrere Hürden nehmen, um eine
Bundesintervention tatsächlich durchzusetzen. Die erste wäre der Bundesrat.
Dort scheint gemäss gut unterrichteter Quellen zurzeit eine knappe Mehrheit
möglich. Der Freiburger dürfte neben seiner Parteikollegin Simonetta Sommaruga
wohl auch auf die Unterstützung der beiden welschen Magistraten Didier
Burkhalter (FDP) und Guy Parmelin (SVP) zählen. Letzterer steht in dieser Frage
zwar parteiintern unter Druck, weil die SVP in den Kantonen an vorderster Front
für die Abschaffung des Frühfranzösisch kämpft. Doch Parmelin fühlt sich wie
Burkhalter auch seiner Herkunft verpflichtet. Selbst wenn es Berset mit dieser
welschen Solidarität für einen Interventionsbeschluss reichte: Dem Vorhaben
stünden gewichtige Bedenken gegenüber. Neben Ueli Maurer (SVP) und Doris
Leuthard (CVP) ist pikanterweise ausgerechnet Bildungsminister Johann
Schneider-Ammann (FDP) dagegen. Bleibe die Mehrheit im Bundesrat so knapp,
werde der gewiefte Taktiker Berset sich hüten, mit einer staatspolitisch derart
heiklen Vorlage ins Parlament – und später vors Volk – zu gehen, sind sich
Dossiervertraute einig.
So dürfte der Bundesrat das Problem auch nach einem Zürcher Ja
vorerst aussitzen. «Niemand hat wirklich Lust darauf, diese Debatte auf
nationaler Ebene zu führen», sagt die Zürcher CVP-Nationalrätin Kathy Riklin.
Und FDP-Ständerat Joachim Eder fragt stellvertretend für einen Grossteil der
Bundespolitiker: «Lohnt es sich, dafür das Zerwürfnis in der Bevölkerung in
Kauf zu nehmen?»
Laut Artikel 15 des Sprachengesetzes müssen Bund und Kantone in erster Linie dafür sorgen, dass die Unterrichtssprache (Deutsch) besonders gepflegt wird. Ausserdem müssen sie gewährleisten, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen, damit den kulturellen Aspekten unseres mehrsprachigen Landes Rechnung getragen wird. Von Frühfremdsprachen steht hier kein Wort.
AntwortenLöschenDie Frühfremdsprachen mit dem Konzept „je früher, desto besser“ – welches nur in Ausnahmefällen zutrifft - sind gescheitert. Das Unterrichtsfach Deutsch, Grundlage für jedes Lernen, ist mit 20% funktionalen Analphabeten (Pisa 2015) bei den Schulabgängern in einem nicht tolerierbaren Zustand.