30. Mai 2017

Über die auseinanderklaffende Theorie und Praxis der integrativen Schule

Florian trieb alle zum Wahnsinn: seine Lehrerinnen, seine Pultnachbarn, die ganze Klasse. Er war ständig in Bewegung, an seinem Pult, oft aber auch im ganzen Schulzimmer unterwegs. Kommentierte lautstark, was gerade seine Aufmerksamkeit erregte. Der Schulstoff, den die Lehrerin gerade behandeln wollte, war selten darunter. Sein Benehmen war störend. Und zwar durchgehend, pausenlos. Und er steckte damit zwei, drei für derlei Abwechslung höchst dankbare Kollegen an – schliesslich blieb ja vieles von dem, was er tat, ohne Sanktion, also durften sie auch.
Integration - der nächste Hype der Reformer, Luzerner Zeitung, 30.5. von Gottlieb F. Höpli


Kurz: Der Unterricht wurde massiv gestört; die lernwilligen Kinder immer wieder abgelenkt, die Klassenlehrerin ein Nervenbündel. Ein zufälliger Ausschnitt aus dem Schulalltag von heute. Ich habe ihn selbst erlebt. Und war nach dem zweistündigen Schulbesuch völlig geschafft.

Früher wäre Florian – seinen Namen haben wir natürlich geändert – in einer Sonderschul- oder Kleinklasse unterrichtet worden. Heute wird diese auf verhaltensauffällige oder behinderte Kinder zugeschnittene Unterrichtsform nach Möglichkeit vermieden. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen verlangt schliesslich, dass die unterzeichnenden Staaten – die Schweiz gehört seit 2014 dazu – «ein integratives Bildungssystem bereitstellen». Mit anderen Worten: Alle Kinder sollen in Regelklassen integriert, sollen am «normalen» Unterricht teilnehmen dürfen. Ein Bild auf einer einschlägigen Website zeigt, wie ernst es dem Bildungsgesetzgeber damit ist: Kinder im Rollstuhl im Sportunterricht, zusammen mit nichtbehinderten Klassenkollegen in einer Turnhalle.

Nun ist Integration («Eingliederung») oder noch besser: die Inklusion («Jedem seinen Platz im Klassenzimmer») zwar ein hehres Ziel: totale Gleichbehandlung aller Menschen im Bildungssystem. Und etwa so schwer zu erreichen wie die Egalité der Französischen Revolution. Die bekanntlich ihr Ziel krachend verfehlte, weil die Menschen nicht so waren, wie es sich der Wohlfahrtsausschuss vorstellte. Mit anderen Worten: Es kündigt sich eine neue Sturmfront am Bildungshorizont an. Nachdem der Lehrplan 21 und der Früh-Fremdsprachenunterricht gegen grosse Widerstände über die politische Bühne gebracht worden sind, wendet sich die Bildungspolitik der integrativen Schule zu. Die Bildungsbürokratie ist in den Startlöchern; Anfänge sind gemacht; Kleinklassen werden aufgelöst, Problemkinder zunehmend in Regelklassen integriert. Lehrer und Eltern, die erste Erfahrungen mit Integration oder gar Inklusion gemacht haben, stöhnen bereits vernehmlich. Denn der Unterricht – wen wundert’s – leidet.

Ziemlich kaltschnäuzig kontert der Bildungsexperte, der wohl kaum je in einem Schulzimmer gestanden hat, die sich anbahnende Kritik: «Das ist ein politischer Auftrag, dem man sich nicht entziehen kann.» Es gehöre zum «professionellen Berufsverständnis der Lehrer, dass man diesen Auftrag auch umsetzt». Wer kritisiert, dass niemand etwas davon habe, wenn ein Kind mit ADHS dauernd den Unterricht störe, dem hält der Leiter des Instituts für Bildungsevaluation der Uni Zürich entgegen: «Das hat doch mit der Integration nichts zu tun. Das ist ein Problem aus dem Schulalltag, das auch in jeder anderen Klasse vorkommt.» Alles kein Problem? Vielleicht sollte man an dieser Stelle an den Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen von Mitte Mai erinnern. Die Wahlschlappe der rot-grünen Koalition, so las man, habe nicht zuletzt mit «Bildungsthemen» zu tun. Kein Schweizer Journalist hat sich bisher gefragt, welche Bildungsthemen da wohl gemeint sein könnten. Einer der Hauptgründe war nämlich die von der grünen NRW-Bildungsministerin von oben dekretierte Inklusion. Alle Klagen über die Undurchführbarkeit unter den gegebenen Umständen wurden von ihr so kaltschnäuzig weggewischt, wie es Teile der Bildungsbürokratie auch in der Schweiz tun. Bildungspolitiker sollten angesichts des Rumorens unter Eltern und Lehrerschaft (die Kinder werden ja eh nicht gefragt) daran denken, dass auch in der Schweiz nicht mehr jedes Mal mit Volksmehrheiten für den jeweils neuesten Hype der Bildungsreformer gerechnet werden kann.


1 Kommentar:

  1. Abschaffung der Sonderschulen ist nicht im Sinne der UN-Konvention

    Die Vertreter der Total-Integration/Inklusion beziehen sich gerne auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. In internationalen Abkommen wird immer der kleinste gemeinsame Nenner angestrebt. Die UN-Konvention verlangt deshalb, dass die Staaten „Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden dürfen“ und die „Anerkennung der Notwendigkeit, die Menschenrechte aller Menschen mit Behinderungen, einschliesslich derjenigen, die intensivere Unterstützung benötigen, zu fördern und zu schützen.“ Das heisst, dass sie behinderten Kinder wie die übrigen Kinder (gratis) unter dem Dach der Volksschule beschulen, aber nicht, dass Länder, die bereits spezielle Fachleute und Einrichtungen über die UN-Konvention hinaus haben, diese (aus Spar- oder ideologischen Gründen) abschaffen und auf das tiefe gemeinsame Niveau herunterfahren. Die spezialisierten Sonderschulen und Kleinklassen, die jetzt bereits grösstenteils abgeschafft wurden, haben bisher in einzigartiger Weise, die „intensivere Unterstützung, Förderung und Schutz“ der behinderten Kinder gemäss UN-Konvention gewährleistet. Was nun offenbar bei der Total-Integration in die Regelklassen nicht mehr gewährleistet ist.

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