28. Mai 2017

Schüler als Versager

Remo Largo über die perfekte Schule, die Fehler der 68er-Bewegung und Alternativen zur Leistungsgesellschaft.
Gesellschaft radikal überdenken: Remo Largo. Bild: Daniel Ammann
"Wir haben jetzt schon Kinder mit Burn-out", Sonntagszeitung, 28.5. von Matthias Meili

In Ihrem neuen Buch geht es erstmals um das Leben der Erwachsenen. Warum jetzt Erwachsene?
Ich hätte das Buch nie schreiben können, wenn ich mich nicht ein Leben lang mit Kindern beschäftigt hätte. Denn vieles, was die Erwachsenen ausmacht, habe ich erst durch das Studium der kindlichen Entwicklung begriffen.

Zum Beispiel?
Bei jedem Kind kann man erleben, wie sich Schritt für Schritt die Fähigkeiten herausbilden – etwa die Motorik, das Sprachverständnis oder die mathematisch-logischen Konzepte. Dabei kommt es zu einem einzigartigen Zusammenspiel. Diese Entwicklung verläuft über etwa 20 Jahre und macht dann den erwachsenen Menschen aus.

Sie beschreiben, dass der Mensch nur glücklich sein kann, wenn er sein Leben ent­sprechend seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen führen kann. Was meinen Sie damit?
Ich nenne es das «Fit-Prinzip». Fit bedeutet hier, dass etwas zueinanderpasst, also dass wir ein Leben führen, in dem unsere Bedürfnisse und Fähigkeiten einigermassen in Übereinstimmung mit der Umwelt sind, in der wir uns bewegen, vor allem auch der sozialen. Dies ist eigentlich ein Grundprinzip der Evolution. Jedes Lebewesen vom Bakterium bis zum Menschen bemüht sich genau darum. Da jeder der fast acht Milliarden Menschen ein Unikat ist, kann jeder Mensch nur sein eigenes Leben leben. Wir haben aber auch alle Schwächen und Defizite, an denen wir arbeiten müssen. Jeder von uns besteht aus Stärken und Schwächen. Dabei gibt es riesige Unterschiede zwischen den Menschen – zum Beispiel bei der Lesekompetenz –, die sich überall auf der Welt gleich zeigen: So gibt es Menschen, die drei Bücher pro Woche lesen, andere können kaum lesen und informieren sich über das Fernsehen.

In einem hoch entwickelten Land wie der Schweiz mit seinem hervorragenden ­Bildungssystem ist das doch ein kleineres Problem.
Auch in der Schweiz leiden zwischen 500 000 und 800 000 Menschen daran, dass ihre Lesekompetenz so eingeschränkt ist, dass sie selbst einfache Texte nicht verstehen, die Steuererklärung nicht ausfüllen können. Das ist keine Lappalie. Diese Vielfalt gibt es aber in allen Bereichen. So gibt es Menschen, die komplexe mathematische Gleichungen verstehen, und dann solche, deren Zahlenverständnis lediglich einem frühen Erstklässler entspricht. Es gibt keine Eigenschaft, die bei allen gleich angelegt ist.

Nun ist es doch die Aufgabe des Bildungssystems und der Schule, den Kindern die ­Fähigkeiten beizubringen, die sie nicht so gut beherrschen.
Das Problem ist, dass das Kind ­dabei überfordert wird. Es gibt kein Förderprogramm, das ein Kind, das mit seiner Lesekompetenz an seine Grenzen stösst, darüber ­hin­aus fördern kann. Etwa jeder sechste Schüler verfügt nach neun Schuljahren über eine Lesekompetenz, die lediglich der 4. bis 5. Klasse entspricht. Das ist kein Versagen der Lehrer, sondern teilweise des Lehrplans. Die Aufgabe der Schule ist es, jedem Kind dazu zu verhelfen, seine individuellen ­Fähigkeiten auszubilden, ohne es dabei zu überfordern.

Damit ziehen Sie dem ganzen Förderhype den Boden unter den Füssen weg.
Mir geht es doch vor allem um die Kinder. Überforderung macht die Kinder nicht klüger, sondern schädigt ihre Lernmotivation und ihr Selbstwertgefühl. Aber es geht ja noch weiter bei den Erwachsenen, wo es nicht mehr so sehr um die Entwicklung, sondern um die Leistungsfähigkeit geht. Auch diese ist begrenzt. Kein Erwachsener kann sein Leistungspotenzial übersteigen, auch mit den besten Weiterbildungskursen nicht. Man kann sich neue Techniken und Wissen aneignen, aber immer nur so weit, wie es das individuelle Begabungspotenzial zulässt.

Ihr Buch ist sehr gesellschaftskritisch. Ist es die Botschaft eines Vertreters der 68er-­Bewegung?
Natürlich erlebte ich diese Be­wegung sehr intensiv mit, ich war selbst im Grossen Rat der Stu­dentenschaft an der Universität Zürich. Christoph Blocher war auch dabei, er spaltete sich aber ab und bildete seinen eigenen Rat – das war damals schon so.

Heute kritisieren Sie diese Bewegung.
Die 68er-Bewegung war im Grunde ein Aufstand gegen ein System von Autoritäten, das sich überlebt hatte. Doch diese Befreiung war naiv, fast trotzig auf eine kindliche Art im Sinne von «Bis jetzt sagten uns immer die Eltern, was wir tun müssen – und jetzt leben wir einmal so, wie wir wollen». Es ging immer um einen selber, darum, dass es einem gut ging. Leider ­wurde Freiheit auch als eine Laisser-faire-Haltung missverstanden, was vor allem den Kindern geschadet hat, da sie oft emotional vernachlässigt wurden.

Oder es war noch schlimmer, wie der Fall Jegge zeigt.
Das tat mir sehr weh. Solche Vorkommnisse können der Reformpädagogik sehr schaden. Jürg ­Jegge hat sich für die Kinder eingesetzt, die in unserer Gesellschaft zu kurz kommen. Dieses Verdienst kann man ihm nicht absprechen. Indem er seiner sexuellen Neigung nachgab, hat er nun den Jugendlichen und seinen eigenen Anliegen ­geschadet.

Was ist die Kernbotschaft Ihres Buches?
Ich bin der festen Meinung, dass wir unsere Gesellschaft radikal überdenken sollten. Aus meiner Sicht ist eine ideale Gesellschaft so gestaltet, dass möglichst viele Menschen ihre Individualität leben können. Das ist leider immer weniger der Fall. Wir leben in einer anonymen Massengesellschaft. Das Leben wird immer fragmentierter. Wir rennen von Auftrag zu Auftrag und sind hochgradig fremdbestimmt. So können wir gar nicht mehr selbstbestimmt und aus unseren Erfahrungen heraus leben. Wir machen unseren Job und hoffen dann, dass wir eine Befriedigung finden im Konsum und in der Unterhaltung.

Sind Sie nicht zu pessimistisch? Die junge Generation lernt doch, mit diesen Erfahrungen zu leben, und kann sie positiv umsetzen.
Ich kann das leider nicht glauben. Man sieht das am Phänomen Burn-out. Zuerst litten die Manager und Menschen mittleren Alters daran, dann beobachteten wir plötzlich, dass immer mehr junge Erwachsene ein Burn-out erlitten, dann kamen die Jugendlichen dazu und neuerdings haben wir auch Kinder mit Burn-out. Das Bild ist immer das gleiche: Die Menschen stehen einfach still, machen nichts mehr.

Was wäre denn die Alternative?
Am meisten leiden wir daran, dass unser Bedürfnis nach Geborgenheit und sozialer Anerkennung, aber auch nach Selbstentfaltung nicht mehr erfüllt wird. Wir sollten Lebensformen finden, in denen ein vertrauter Umgang über alle Generationen hinweg möglich wird. Dies ist die Urform des menschlichen Zusammenlebens.

Wie könnte eine solche ­Lebensgemeinschaft konkret aussehen?
Ich stelle mir das so vor, dass etwa 300 Menschen zusammenleben wollen. Da hätte man natürlich auch Aufgaben, Verpflichtungen, die man in dieser Lebensgemeinschaft erfüllen müsste – ohne das ginge es nicht. Man wäre mit dem anderen so vertraut, dass man sich für ihn auch verantwortlich fühlte, zum Beispiel für die Kinder oder die alten Menschen. Menschen jeden Alters fühlen sich emotional aufgehoben und sozial eingebunden. Sie können wieder vermehrt ihre Fähigkeiten entfalten und wären weniger fremdbestimmt.

Ist eine solche fast utopische Lebensform heute überhaupt praktikabel?
Eine solche Form des Zusammenlebens kann man den Menschen natürlich nicht verordnen. Ich glaube aber, man sollte sie denjenigen Menschen ermöglichen, die so leben wollen. Wir sind nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht. Wir müssen unsere Grundbedürfnisse ernst nehmen und uns überlegen, wie wir sie befriedigen können. Sonst schreitet die Desintegration der Gesellschaft immer weiter. Immer häufiger haben wir es mit Erwachsenen, Jugendlichen und selbst Kindern zu tun, die sich nicht mehr integrieren lassen.

Sind diese Auswüchse nicht gerade die Folge eines ­überbordenden Selbstverwirklichungsdrangs und grenzen­loser Individualisierung?
Ich glaube, dass eben gerade das Gegenteil der Fall ist. Sie sehen das an den Biografien von Terroristen, die allmählich bekannt werden. Sie haben keine Geborgenheit und ausreichende soziale Anerkennung erfahren, sie haben keinen festen sozialen Status und fühlen sich an den Rand gedrängt. Sie fühlen sich völlig fremdbestimmt. Wenn sie zum IS gehen, sind sie endlich jemand. Das ist noch nicht einmal ein neues Phänomen, man beobachtete dies bereits im 17. Jahrhundert während des Dreissigjährigen Kriegs. Die Menschen waren existenziell total verunsichert, hatten keine feste soziale Stellung in der Gemeinschaft und waren zudem noch hungrig und krank. So zogen sie in den Krieg.

Im Vergleich zu damals leben wir doch in einer überaus friedlichen Gesellschaft.
Stimmt, aber immer mehr Kinder verlassen die Schule nicht mit einem guten Selbstwertgefühl. Sie fühlen sich als Versager und ­glauben nicht mehr daran, dass sie in dieser Gesellschaft bestehen können.

Die Schule produziert ­Versager?
Leider. Nicht mit Absicht, aber das macht es auch nicht besser. Auswendig lernen, Hausaufgaben und Noten sind uns sehr wichtig, nützen aber nichts. Trotzdem macht die Schule unbeirrt weiter. Ich wünschte mir von einer kindgerechten Schule, dass sie die enorme Vielfalt unter den Schülern endlich akzeptiert und die Kinder dort abholt, wo sie entwicklungsmässig stehen.

Wie lernen Kinder wirklich gut?
Die wichtigsten Faktoren für den Lernerfolg sind: Das Kind fühlt sich von den Lehrerinnen und Lehrern und von seinen Mitschülern angenommen. Es darf selbstbestimmt in seinem Tempo und auf seine Weise lernen. Und es hat Vorbilder, denen es nacheifern kann.

Sie bezeichneten unser ­Bildungswesen auch schon als eine Art Planwirtschaft. Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt in unserem liberalen Land?
Aber es ist so. In einer Planwirtschaft werden Anforderungen oben festgelegt und nach unten durchgesetzt – ohne Rücksicht auf die Menschen. Genau das passiert im Bildungswesen. Von den Bildungspolitikern, vor allem von der Konferenz der Erziehungsdirektoren, wurden Lernziele im Lehrplan 21 formuliert, die sich hauptsächlich an der Wirtschaft und kaum an den Kindern und Lehrern orientieren. Von den Lehrern wird verlangt, dafür zu sorgen, dass ihre Schüler die vorgegebenen Leistungen erbringen. Schliesslich wird ein Kontrollsystem installiert, um den Erfolg sicherzustellen.

In vielen Abstimmungen, kan­tonalen oder eidgenössischen, wurde diese Schulpolitik immer wieder gutgeheissen. Das heisst doch, dass das System vielleicht genau so gewollt ist. 
Richtig, aber das macht es nicht besser. Jede Form von Planwirtschaft ist eine grobe Missachtung der Individualität, ja der Würde des Menschen. Aus der Sicht des Fit-Prinzips orientiert sich eine kindgerechte Schule an der kindlichen Entwicklung und der Vielfalt unter den Kindern. Selbst der Gesellschaft und der Wirtschaft wäre mit einer solchen Schule am meisten gedient. Sie fördert die Kreativität und macht die Kinder zu selbstbewussten Menschen.

Was wäre eine optimale Schule?
Kennen Sie die Schule Villa ­Monte in Galgenen?

Eine Montessori-Schule im Kanton Schwyz.
Die gibt es seit über 30 Jahren. Diese Schule hat die Lehrer de facto abgeschafft. Da kommen die Kinder am Morgen und überlegen sich, was sie machen sollen. Das sind über 100 Schüler vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Es gibt keinen Tagesplan, keinen Wochenplan, keinen Jahresplan. Dann geht die eine Gruppe Schüler in den Wald, die andere arbeitet im Garten, die dritte Gruppe liest und andere rechnen. Wenn sie Hilfe brauchen, sind Erwachsene da.

Können die Kinder so die Leistungen ­erbringen, die verlangt werden?
Ihre Leistungen sind zwar nicht besser als jene in der Volksschule, aber es gehen auch nicht weniger Kinder ins Gymi. Und sie haben zwei riesige Vorteile: Sie sind sozial ausgesprochen kompetent, weil sie den ganzen Tag selbst­bestimmt lernen müssen, miteinander umzugehen. Kürzlich besuchte eine Gruppe Lehrer aus Potsdam die Schule. Wissen Sie, was für die Besucher das Eindrücklichste war? Sie sagten, sie hätten noch nie eine Schule erlebt, in der es so ruhig ist.

Das freut natürlich die Lehrer.
Das Zweite – und das ist enorm wichtig – ist: Die Kinder haben ein gutes Selbstwertgefühl. Es ist doch entscheidend, dass die Kinder nach der Schule überzeugt sind, in der Gesellschaft bestehen zu können.


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