Die umstrittene Volksinitiative “Nur eine
Fremdsprache in der Primarschule“ war im November 2013 bei der Standeskanzlei
des Kantons Graubünden in Form einer allgemeinen Anregung eingereicht worden;
sie muss also – wenn ihr das Stimmvolk dereinst den Segen erteilen sollte – vom
Regierungsrat und vom Grossen Rat im Detail ausgearbeitet und in ein Gesetz
gepackt werden. Die Fremdspracheninitiative, wie sie auch genannt wird, will
eine Abänderung des Volksschulgesetzes und verlangt, dass in der Primarschule
nur noch eine Fremdsprache obligatorisch ist, je nach Sprachregion Deutsch oder
Englisch. Die Primarschüler im deutschsprachigen Gebiet hätten demnach als
Fremdsprache Englisch und die Schüler im rätoromanischen im italienischen Teil
des Kantons müssten Deutsch lernen.
Bundesrichter erteilen Bündner Regierung eine Abfuhr, Südostschweiz, 4.5.
Verwaltungsgericht geschützt
Bereits im Grossen Rat war umstritten, ob die Initiative gültig ist oder
nicht. Im April 2015 beschloss der Grosse Rat mit 82 zu 34 Stimmen, die
Fremdspracheninitiative für ungültig zu erklären. Ein Rechtsgutachten von
Professor Ehrenzeller war zuvor zum Ergebnis gelangt, dass die
Fremdspracheninitiative unter anderem gegen das Diskriminierungsverbot
verstösst. Vor etwas mehr als einem Jahr hiess das Bündner Verwaltungsgericht
eine dagegen erhobene Beschwerde gut, erklärte die Initiative für gültig und
wies die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an den Grossen Rat zurück. Gestern
musste sich das Bundesgericht mit dem Streit befassen, nachdem insgesamt 18
Privatpersonen gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts in Lausanne
Beschwerde erhoben hatten. Mit knappen drei zu zwei Stimmen wies das
Bundesgericht die Beschwerde ab. Damit ist die Gültigkeit der
Fremdspracheninitiative besiegelt und das Bündner Stimmvolk kann darüber
abstimmen, ob künftig an der Primarschule nur noch eine Fremdsprache vermittelt
werden muss.
Berufliche und wirtschaftliche
Nachteile
Die Richter in Lausanne hatten insbesondere zu prüfen, ob die Initiative
gegen übergeordnetes Recht verstösst. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob
die Spracheninitiative die Schüler im rätoromanischen und im italienischen
Sprachgebiet diskriminiert, weil sie in der Primarschule Deutsch lernen müssen,
während die deutschsprachigen Schüler bereits in Englisch unterrichtet werden.
Zwei Richter sahen darin eine Diskriminierung, weil die deutsche Sprache
weltweit massiv weniger verbreitet ist als die englische Sprache. Die
italienisch- und rätoromanisch-sprachigen Schüler seien deshalb insbesondere im
beruflichen und wirtschaftlichen, aber auch im touristischen Bereich
benachteiligt, wenn sie erst in der Oberstufe Englisch lernen könnten.
Kein offensichtlicher Widerspruch
Die Mehrheit der Richter sah das nicht so eng. Ihrer Auffassung nach
hätte die Fremdspracheninitiative nur dann für ungültig erklärt werden dürfen,
wenn ein offensichtlicher Widerspruch zum übergeordneten Recht bestehen würde.
Bei Fragen bildungspolitischer Art könnten mit guten Gründen verschiedene
Standpunkte vertreten werden, meinte ein Richter. Um diskriminierend zu sein,
müsste der Widerspruch zur Bundesverfassung oder zur kantonalen Verfassung
geradezu ins Auge springen. Im Kanton Graubünden eine absolute Gleichbehandlung
aller Schüler zu erlangen, ist angesichts der verschiedenen Sprachen ein Ding
der Unmöglichkeit. Dem Kanton ist deshalb ein grosser Ermessenspielraum in
diesen Fragen zuzubilligen.
Freiwillig zweite Fremdsprache
Der Vorwurf der Beschwerdeführer, die Initiative stehe quer in der
Landschaft und führe zu einer Entharmonisierung mit den andern Kantonen, liess
die Mehrheit der Richter nicht gelten, zumal der Kanton Graubünden dem
Harmos-Abkommen, welches für die Primarschule zwei Fremdsprachen vorsieht,
nicht beigetreten ist. Im Übrigen wies ein Richter darauf hin, dass es die
Initiative nicht verbietet, auf freiwilliger Basis auf Primarschulstufe eine
zweite Fremdsprache anzubieten. Zudem schliesst die Initiative auch nicht aus,
dass bei entsprechender Umsetzung eine gleichwertige Sprachausbildung aller
Schüler am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit besteht. Das Gericht geht davon
aus, dass eine zweite Fremdsprache auf der Oberstufe relativ effizient erlernt
werden kann.
Diskussion dürfte weiter gehen
Mit der Gültigerklärung der Initiative steht nun fest, dass das Bündner
Stimmvolk über die Spracheninitiative abstimmen kann. Ein Ja würde aber nicht
heissen, dass die einzelnen Fremdsprachen postwendend eingeführt würden. Zuerst
müsste die Regierung ein entsprechendes Gesetz erarbeiten, welches später vom
Grossen Rat zu beraten ist. Nach der Verabschiedung des Gesetzes könnte mit
einem Referendum eine weitere Abstimmung erzwungen werden. Und auf juristische
Ebene könnte das Gesetz bzw. heikle Bestimmungen des Gesetzes im Rahmen einer
abstrakten Normenkontrolle erneut dem Bundesgericht unterbreitet werden. Und
last but not least: Würde ein Schüler dereinst in einem speziell gelagerten
Einzelfall durch das „Fremdsprachengesetz“ in seinen verfassungsmässigen
Rechten verletzt, könnte das Bundesgericht ebenfalls eingreifen.
Urteil 1C_267/2016 vom 3. Mai
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