25. April 2017

Hausaufgaben sind mehr als ein pädagogisches Ritual

Alle hatten sie, kaum jemand mochte sie: die Hausaufgaben. Bis heute sind sie eines der emotionalsten Themen in der Volksschule. Der bekannte Kinderarzt und Buchautor Remo Largo befand schon vor Jahren, sie hätten keinen Nutzen, schikanierten Lehrer und Kinder – und sollten daher abgeschafft werden. Im letzten Herbst brachte der Deutschschweizer Schulleiterverband diese bildungspolitisch brisante Forderung erneut auf. Als Begründung wurde angeführt: Hausaufgaben führten oft zu Streit innerhalb der Familien. Zudem könnten sich Schüler, deren Eltern arbeiteten oder aus bildungsfernen Schichten stammten, zu Hause an niemanden wenden und seien so in ihrer Entwicklung gefährdet. Die Diskussion über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben kochte in den Medien schnell auf, kühlte aber auch rasch wieder ab. Die zentralen Fragen sind geblieben: Welche Wirkung haben «Ufzgi» wirklich, und wie könnte das Hausaufgabenmodell der Zukunft aussehen?
Ohne "Ufzgi" nach Hause, NZZ, 25.4. von Marc Tribelhorn



Mehr als ein «pädagogisches Ritual»

Der Neuseeländer John Hattie, einer der derzeit einflussreichsten und meistzitierten Bildungsforscher der Welt, kommt nach der Auswertung unzähliger Studien zu einem durchzogenen Fazit: Hausaufgaben brächten in der Unterstufe wenig, in höheren Klassen förderten sie indes sehr wohl den Lernerfolg. Als reines «pädagogisches Ritual» kann man sie daher kaum bezeichnen, wie dies Kritiker gerne tun. In einer Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands wollte 2016 denn auch über die Hälfte der befragten Mitglieder an den Hausaufgaben festhalten; nur 23 Prozent sprachen sich für eine komplette Abschaffung aus: Um den Unterrichtsstoff einzuüben und sich selbständig zu organisieren, seien sie weiterhin gerechtfertigt, so der Tenor. Nun hat der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) ein Positionspapier zur Thematik veröffentlicht. Von einer Abschaffung will auch er nichts wissen, vielmehr fordert er eine betreute Hausaufgabenzeit für Kinder und Jugendliche an den Schulen. Das schaffe Chancengerechtigkeit, ist man beim LCH überzeugt: «Alle Schülerinnen und Schüler haben vergleichbare Arbeitsbedingungen, sie erhalten wenn nötig Unterstützung, und die Zeit zu Hause bleibt Freizeit.» Überdies entfielen dadurch «viele Diskussionen mit Eltern».

Konkret wird den Gemeinden und Schulen empfohlen, «mehrmals pro Woche niederschwellig zugängliche freiwillige Hausaufgabenbetreuung kostenlos anzubieten». Die Betreuung soll durch «fachlich und pädagogisch kompetente Personen» gewährleistet sein. Der Entscheid über die Teilnahme liege in erster Linie bei den Eltern bzw. den Schülerinnen und Schülern. Allerdings solle es auch möglich sein, dass Lehrpersonen den Besuch anordneten, wenn der Schulerfolg eines Kindes gefährdet sei.

Kein Zwang, sondern ein Korrektiv

LCH-Präsident Beat W. Zemp betont, dass es sich bei den vorgeschlagenen Massnahmen um keinen Zwang, sondern um ein Korrektiv handle. «Wir wollen den Eltern, die ihre Kinder gerne bei den Hausaufgaben betreuen und fördern möchten, nichts wegnehmen. Aber es gibt auch Eltern, die aus unterschiedlichsten Gründen keine Unterstützung bieten können, was deren Kinder benachteiligt. Hier sind die Schulen gefordert.» Zemp ist zuversichtlich, dass sich solche Angebote rasch durchsetzen werden. Die anfallenden Kosten für die betreute Hausaufgabenhilfe seien überschaubar, da der Aufwand für die Lehrpersonen deutlich geringer sei als für eine normale Unterrichtsstunde und daher auch tiefer verrechnet werden könne. Und: «Es gibt schweizweit schon unzählige gute Beispiele.»

Tatsächlich bieten bereits heute viele Schulen Hausaufgabenhilfen an, wie sie der Lehrerverband jetzt flächendeckend propagiert. Häufig sind sie in Tagesstrukturen integriert, was laut Zemp ohnehin das Hausaufgabenmodell der Zukunft sei. Dort aber liegt genau die Crux. Gerade in konservativ-ländlichen Gegenden gelten solche Angebote als erster Schritt in Richtung der politisch umstrittenen Ganztagesschulen. Während in vielen europäischen Staaten die Kinder ganz selbstverständlich auch ausserhalb der Unterrichtszeit in der Schule betreut werden, besteht in der Schweiz diesbezüglich längst kein Konsens. Die «Staatskinder»-Rhetorik der SVP verfängt noch immer. Dessen ist sich auch der LCH-Präsident bewusst: «Wir streben ja kein Obligatorium an, sondern setzen uns für Wahlfreiheit ein – im Sinne der Schülerinnen und Schüler.»


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