"Zu dumm fürs Gymnasium?" steht über dem Artikel, schon in den
ersten Sätzen fließen Tränen. Die zwölfjährige Felicia hat gerade erfahren,
dass sie nicht aufs Gymnasium kommen wird, die wochenlange
Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung war umsonst. Alles bricht in diesem Moment
zusammen. Aber nicht nur für Felicia. Auch ihre Mutter, die wie sie aus
Deutschland kommt, sinkt auf einen Stuhl und beginnt zu weinen.
Ab der siebten Klasse in sechs Jahren zur Matura, Bild: Nino Gloor
In der Schweiz gehen nur die Besten aufs Gymnasium, Süddeutsche Zeitung, 21.3. von Charlotte Theile
|
Die Szene stammt aus einem Übungstext, der vor einigen Wochen am Zürcher
Gymnasium Rämibühl geschrieben wurde. Tabea und Jael, 16 Jahre alt,
haben darin die Geschichte einer guten Freundin verarbeitet. "Uns ist
aufgefallen, dass die deutschen Eltern anders sind, wenn es um das Gymnasium
geht", sagt Tabea. "Da gilt fast die Gleichung: Wer nicht aufs
Gymnasium geht, ist dumm." Im Kanton Zürich, wo Tabea und Jael leben, ist
die Situation eine andere: Hier treten nur 15 Prozent aller
Sechstklässler das sogenannte Langzeitgymnasium an. Dahinter steht ein
Schulsystem, wie es viele noch von früher kennen. Es wird stark ausgesiebt, nur
die Besten gehen aufs Gymnasium.
Stefan Wolter ist Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern
und Direktor der Schweizer Koordinationsstelle für
Bildungsforschung. Er hat schon oft versucht, den Deutschen das Schweizer
Bildungssystem nahezubringen. Er glaubt: Wenn die Hälfte eines Jahrgangs Abitur
macht, kippt etwas. Nicht dabei zu sein, wird dann zum Stigma. In der Schweiz
sei die Aufgabe des Gymnasiums anders definiert, sagt Wolter: "Es dient
der Vorbereitung auf das Studium." Dass jemand, der Matura habe, nicht auf
die Hochschule gehe, komme praktisch nicht vor.
Daraus ergebe sich auch ein anderer Blick auf diese Schule.
Sie soll konzentriert und wissenschaftlich sein. Wolter nennt als Beispiel das
Fach Psychologie und Pädagogik. "Es soll nicht so sein,
dass man einfach angeregt über Freud diskutiert." Das sei eine schlechte
Vorbereitung. "Wenn die Schüler erst an der Universität zum ersten Mal
begreifen, dass zur Psychologie vor allem Stochastik und Statistik gehören, ist
das falsch." Das heißt: Schon Schüler sollen sich durch
Statistik quälen.
Mit diesem starken Uni-Bezug habe das Gymnasium auch Nachteile, sagt
Jael. Sie kann gut verstehen, wenn Gleichaltrige nicht bereit für "so viel
Stress", für Leistungsdruck und Deadlines sind. An der Sekundarstufe, die
vergleichbar mit einer Gesamtschule aus Real-und Hauptschule ist, sei die
Atmosphäre "familiärer und persönlicher", glaubt Tabea. Neben dem
Langzeitgymnasium gibt es andere Wege zur Matura, in Zürich zum Beispiel können
Schüler auch später noch über das Kurzzeitgymnasium zur Hochschulreife kommen.
So kommt es, dass in dem Kanton am Schluss nicht nur 15, sondern etwa 20 Prozent
eines Jahrgangs Matura machen.
In Deutschland ist das Schulsystem durchlässiger, doch für viele Eltern
und Schüler zählt nur das klassische Gymnasium. Die Fragen, welche Schule wie
viel Leistung fordern darf und wie viele Jahre zum Abitur führen sollen,
beschäftigen das ganze Land. Wenn sich deutsche Eltern beschweren, ihr Kind
werde durch den Stoff gehetzt und könne ihn nur dank teurer Nachhilfe
bewältigen, dann zuckt der typische Schweizer mit den Schultern und denkt bei
sich: Dann ist das Kind ja wohl auf der verkehrten Schule. Das hohe Niveau der
Gymnasien wird ebenso wenig infrage gestellt wie der Wert anderer Bildungsabschlüsse.
Manche Deutsche, die grenznah in der Schweiz wohnen, ziehen es deswegen vor,
ihr Kind in Deutschland zum Gymnasium zu schicken.
Stefan Wolter versteht das: "Wenn man nicht in der Schweiz bleiben
will, kann es sinnvoll sein, ein deutsches Gymnasium zu besuchen." Denn in
Deutschland fragen auch viele Lehrstellenanbieter nach der Hochschulreife. Sie
wissen nicht um die Unterschiede und unterschätzen den Berufsbildungsabschluss
der Sekundarstufe. Umgekehrt wechselt es sich leichter: Wer mit einem deutschen
Abitur in der Schweiz studieren will, stellt fest, dass fast alle Fächer ohne
Numerus Clausus auskommen.
Wie weit man dann gelangt auf diesem Weg, ist fraglich. Wolter, seit 20 Jahren
im Erziehungsausschuss der OECD tätig, sagt: "Ein Schweizer Durchschnittsabiturient
ist einfach besser als ein deutscher Durchschnittsabiturient." Die einen
seien gut auf Schweizer Universitäten vorbereitet, die anderen hätten aufgrund
ihres vergleichsweise mittelmäßigen Abiturs eher schlechte Chancen.
Der Bildungsexperte führt die Entwicklung in der Schweiz auf eine
historische Besonderheit zurück: Die 68er-Bewegung habe in dem Land keine
besondere Rolle gespielt. Deshalb sei auch ihre Forderung, die Universitäten
für möglichst viele Menschen zu öffnen, weitgehend folgenlos geblieben. Bis
heute beschreiten Schweizer Jugendliche klar abgegrenzte Ausbildungswege. Im Gymnasium Rämibühl
fragen sich Lehrer, ob sie streng genug aussieben. Dass jemand "einfach
nicht auf das Gymnasium gehört", ist hier ein normaler Satz.
Der schwache Widerhall der 68er-Unruhestifter geht mit einer
konservativen Grundgesinnung einher. Auch in der Schweiz werden
Bildungsreformen ausgearbeitet und den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt - wo
sie leicht an der Vorliebe für das Bewährte und Bekannte scheitern. Außerdem
entscheiden die 26 Kantone, die zum Teil nur einige Zehntausend
Einwohner haben, eigenständig, wie sie die Bildung organisieren wollen. So
blieb der Status quo, nur die besten Schüler aufs Gymnasium zu lassen, über die
Jahrzehnte erhalten.
Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 zeigt sogar: Viele Schweizer
finden, die Maturitätsquote, die im Durchschnitt der Kantone bei 20 Prozent
liegt, sei zu hoch. Noch in den Siebzigerjahren betrug sie nämlich weniger als
zehn Prozent. Die Verdoppelung hat einen einfachen Grund: Vor 40 Jahren
war das Gymnasium vor allem Jungen vorbehalten. Inzwischen lernen dort mehr
Mädchen als Jungen.
Stefan Wolter glaubt an die trennscharfen Angebote: Sie würden den
Schülern in ihren Neigungen gerechter als eine Schule,
die irgendwie für die schlauere Hälfte der Bevölkerung da sei. Es gebe viele Schweizer
Schüler, die auf dem Gymnasium locker mithalten könnten, sich aber bewusst für
eine Ausbildung entscheiden würden. "Wenn Sie dann mit 17 eine
abgeschlossene Banklehre haben und noch einen Bachelor draufsetzen, stehen
Ihnen mit Anfang alle Türen offen."
Schülerinnen wie Felicia, die in den Vornoten umgerechnet eine Zwei plus
hatte, ist das schwierig zu vermitteln. In der Westschweiz oder im Kanton Basel
Stadt, wo 30 Prozent eines Jahrgangs die Matura ablegen, wäre das
Mädchen aus Deutschland vermutlich ohne Selbstzweifel und Tränen aufs Gymnasium
durchgewinkt worden.
Inzwischen hat es auch im Kanton Zürich geklappt, erzählen Tabea und
Jael. Ihrer Freundin Felicia ist der Sprung an ein Kurzzeitgymnasium gelungen.
Sie sei "überglücklich", noch mehr aber ihre Eltern. Bei einer Lehre
würden die sie wohl auch unterstützen, glauben die Mädchen, "aber
wahrscheinlich nicht so stark".
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen