14. März 2017

"Primarlehrer müssten eigentlich geeignete Kinder ohne private Nachhilfe ans Gymnasium bringen"

Der Übertritt in die Oberstufe ist ein wichtiger Schritt im Leben von Kindern. Die Zeit davor in der Primarschule verbringen sie im Spannungsfeld zwischen Lehrern und Eltern, die häufig Bestleistungen fordern. Die Diskussion um Voraussetzungen und Bedingungen erfolgreichen Förderns in der Schule wird deshalb stets hitziger geführt. Wie sieht optimale Förderung aus – und wer kommt in ihren Genuss? In unserer dreiteiligen Serie zum Thema «Fördern und Fordern» beleuchten wir heute die Situation in der Primarschule.

"Das System belohnt den angepassten Schüler", Tages Anzeiger 13.3. von Philippe Zweifel (Text und Umfrage) und Klaudia Meisterhans (Grafik)


Wir haben mit einer Lehrerin gesprochen und Eltern von Schülern zu ihrer Haltung gegenüber dem System befragt. Die Umfrageergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. 54 Prozent der Teilnehmer finden, dass schlechte Schüler besser unterstützt gehörten. Aber auch begabte Schüler werden für eine Mehrheit nicht genügend gefördert. Diese Resultate passen zur Debatte rund um die Gymiquote beziehungsweise die Gymiprüfungen, die eben stattgefunden haben. 27 Prozent der Umfrageteilnehmer geben entsprechend an, ihr Kind in einen privaten Vorbereitungskurs geschickt zu haben.

Die Onlineumfrage beinhaltete auch Fragen zum Kindergarten. Überrascht hat hier die hohe Akzeptanz von Waldkindergärten: 75 Prozent der Teilnehmer könnten sich einen solchen für ihr Kind vorstellen – derzeit sind öffentliche Waldkindergärten aber eine Randerscheinung; es gibt in der Stadt Zürich einen einzigen der öffentlichen Hand – als Pilotversuch – und einzelne private.

Am Freitag werden die Gymiprüfungsresultate bekannt. Welche Schüler bestehen?

Früher hätte man gesagt: jene, die gut in Mathe und Sprache sind, eine schnelle Auffassungsgabe und Lernwillen besitzen. Natürlich sind diese Eigenschaften auch heute noch wichtig, aber die Vornoten und die Vorbereitungen sind entscheidender denn je.

Laut unserer Umfrage besuchen 27 Prozent der Gymiaspiranten private Vorbereitungskurse. Wie schätzen Sie diesen Wert ein?

Diese Quote entspricht in etwa meinen Erfahrungen.

Ist die Aufnahme ohne teure private Vorbereitungskurse überhaupt zu schaffen?

Primarlehrerinnen und -lehrer müssten eigentlich geeignete Kinder ohne private Nachhilfe ans Gymnasium bringen.

«Müssten» – wieso der Konjunktiv?

Weil die zwei Stunden Vorbereitung, die der Klassenlehrer mit Gymiaspiranten zur Verfügung hat, knapp sind. Der Stoff, der im März an der Gymiprüfung abgefragt wird, wird erst Ende der 6. Klasse vermittelt. Ein Lehrer muss sich also überlegen, wie er dieses Wissen vorher vermittelt. Gerade das Schreiben von Aufsätzen kann man nicht kurz vor der Prüfung erlernen. Damit sollte man viel früher beginnen, idealerweise in der 4. Klasse. Mathematik lässt sich während des halbjährigen Vorbereitungskurses eher trainieren, Dramaturgie und Ausdruck eines Textes jedoch nicht. Aufsatztraining ist auf­wendig. Das ist wohl insbesondere für Lehrer ein Problem, die finden: Nur die allerbesten gehören ins Gymnasium – also jene, die es ohne Hilfe schaffen.

Vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund bedeutet dies eine Chancenungleichheit. 

Richtig, die eigentliche Chancenungleichheit setzt nicht im Unterricht an, sondern zu Hause. Ausschlaggebender als die Lehrperson ist das Elternhaus. Dies spiegeln ja auch die Gymiquoten in den verschiedenen Stadtkreisen wider. An meiner früheren Stelle im Kreis 5 hatte ich eine Quote von 15 Prozent, da, wo ich jetzt arbeite, im Kreis 6, sind es 60 Prozent.

Im Projekt «Chagall» des Zürcher Gymnasiums Unterstrass werden begabte und motivierte Sekschüler mit Migrationshintergrund auf die Gymiprüfung vorbereitet. Bräuchte es etwas Ähnliches für die Primarschule?

Wie gesagt, an sich muss die schulische Vorbereitung reichen. Die Aufgabe und die Pflicht der Lehrpersonen ist es, jedes Kind optimal zu fördern, unabhängig von seinem Hintergrund und dem Vorhaben, ans Gymnasium zu gehen.

Was, wenn ein Schüler zwar intelligent ist, aber nicht motiviert – weil Bildung in seinem Elternhaus nicht als wichtig erachtet wird? Fördern Sie solche Kinder? 

Ja, ich versuche seine Neugierde zu wecken und eine Gegenwelt aufzuzeigen, in der Wissen ein Werkzeug zur Erkenntnis von Weltzusammenhängen liefert.

Ein weiteres Resultat unserer Umfrage besagt: Schlechte Schüler sollten generell besser unterstützt werden. Wie sehen Sie das: Bräuchte es mehr Hilfestellungen?

Mehr Unterstützung kann nie schaden, aber es besteht auch die Gefahr, dass im integrativen Modell die Kluft gerade in der Mittelstufe zwischen schwachen und starken Schülern sehr gross wird, sodass man letztlich weder dem wirklich Starken noch dem Schwachen gerecht werden kann.

War die Sonderschule das bessere Modell?

Das heutige System ist aus sozialer Sicht besser. Die Kinder lernen Vielfalt als Normalität und Bereicherung kennen. Kognitiv sehe ich nicht nur Vorteile, und zwar für beide Seiten – dies vor allem ab der Mittelstufe.

Gerade von Expat-Eltern hört man immer wieder: Schweizer Schulen fördern Durchschnittlichkeit, gute Schüler langweilen sich und werden zu wenig gefördert.

In unserem Schulsystem ist eine bestimmte Form von Intelligenz, nämlich jene des angepassten, eifrigen Lerners, erfolgreicher als jene des schwierigeren, kritischeren oder komplexeren Schülers. Das hat zur Folge, dass der kreative Querdenker zu wenig gefördert wird.

Was ist ein guter Primarlehrer?

Er holt aus jedem Kind das Bestmögliche heraus, indem er es ganz leicht über­fordert. Das funktioniert aber nur mit einem Engagement, das über den eigentlichen Schulstoff hinausgeht. Eine Mittelstufenlehrerin oder ein Mittelstufenlehrer muss genau wissen, was in der Oberstufe verlangt wird, und die Schüler darauf vorbereiten: selbstständiges Arbeiten oder persönliche Stärke in den Schulalltag einbringen, damit schwierige Situationen gemeistert werden können. Auch die Beziehung zu den Eltern eines Kindes ist wichtig: In dem Moment, wo die Eltern der Lehrperson kein Vertrauen mehr schenken, hat das Kind verloren, nicht der Lehrer.

Angenommen, das Kind hat einen Lehrer, der bloss Stoffvermittlung macht und sich nicht um die einzelnen Bedürfnisse der Kinder kümmert: Was können Eltern dann tun?

Da es bei uns keine freie Schulwahl gibt, sind die Möglichkeiten begrenzt. Man kann das Kind in eine teure Privatschule oder Privatkurse schicken – aber da sind wir wieder bei der Chancen­ungleichheit.

Gibt es einen Zeitpunkt, wo Sie als Lehrerin merken, welche Kinder in der Oberstufe wohin kommen?

Das ist schwierig zu sagen. Hochbegabte erkennt man schon in der vierten Klasse. Aber es gibt viele Kinder, denen der Knopf erst später aufgeht. Eine frühe Selektion ist daher verheerend. Man sollte zu jeder Zeit fördernd wirken und die Entwicklung jedes einzelnen Kindes beobachten. Gleichzeitig sind ­allerdings bereits die Vornoten des zweiten Fünftklasszeugnisses sowie des ersten Sechstklasszeugnisses entscheidend für die Einteilung der Schüler in Sek A und Sek B; fürs Langzeitgymi zählt das erste Zeugnis der sechsten Klasse. Das ist sehr früh. Die Kinder müssen nach der Unterstufe einen Zacken zulegen. Wenn ein Kind dann noch keine persönliche Reife hat oder Stress nicht aushalten kann, wird der Übertritt in die Oberstufe zur Tortur. Zumal der Druck vieler Eltern enorm ist. Die meisten beteuern zwar, dass es ihnen nicht wichtig sei, dass ihr Kind ins Gymnasium oder die Sek A komme. Doch letztlich erwarten fast alle mindestens einen Übertritt in die Sek A.

Ein Drittel der Teilnehmer unserer Onlineumfrage könnte sich eine Primarschule ganz ohne Noten vorstellen. Würde ein solches Regime die aufgeheizte Situation beruhigen 

Ich persönlich verteile erst in der sechsten Klasse Noten für Prüfungen. Auf diese Weise gleiche ich mich dem Usus in der Oberstufe an. Vorher arbeite ich entweder mit Punktezahlen oder klar nachvollziehbaren Feedbacks. Es ist unerlässlich, dass die Kinder wissen, wo sie stehen; und Noten allein können Kindern nicht helfen, zu verstehen, wieso sie gut oder schlecht abgeschnitten haben.




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