In seinen „Schulmeistereien“ erzählt Peter Bichsel, wie er
augenblicklich in seine Erstklasslehrerin verliebt gewesen sei. Der kleine
Knirps mochte sie, die passionierte Person, und noch Jahre später konnte er ihr
Kleid beschreiben. [1] Das sei für ihn, so Bichsel, die einzige Erklärung,
warum er kein Schulversager wurde. Vielen erging es ähnlich. Auch dem grossen
Philosophen Sir Karl R. Popper. Darum widmete er die Autobiografie seiner
Lehrerin Emma Goldberger. Ihr und ihrer pädagogischen Leidenschaft verdanke er
sein ganzes Denken und damit eigentlich alles, schreibt er.
Was pädagogische Leidenschaft bewirken kann, Journal 21, 5.3. von Carl Bossard
Von dem, was immer gilt
Eines wird bei beiden Lehrerinnen sofort spürbar: das leidenschaftliche
pädagogische Ethos für ihren Beruf und die jungen Menschen oder – vielleicht
etwas pathetisch formuliert – die Liebe zur Aufgabe. Die zwei Geschichten
erzählen vom inneren Impetus, der diese Pädagoginnen zu ihrem Handeln bewegt.
Es sind veraltete Begriffe, entsorgt in der pädagogischen Mottenkiste.
Die aktuelle Bildungssprache kennt sie kaum; im Diskurs um die professionellen
Lehrer-Kompetenzen kommen sie nicht vor. Doch es sind Werte ohne Verfallsdatum
– alt zwar, das sei zugegeben, doch unbeschadet ihres Alters nicht veraltet.
Ganz im Gegenteil. Aktuelle Studien aus der Wirkungsforschung und der
Neurobiologie rehabilitieren sie.
Der unterschätzte Einfluss der Lehrkräfte
Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie untersuchte über viele
Jahre rund 800 Metastudien. Sie alle kreisen um die kardinale Frage, welches
die wichtigsten Grössen für guten Unterricht sind. Der Hochschullehrer ordnet
den einzelnen Faktoren Effektwerte zu. Die Sprengkraft erhält Hatties Studie
„Visible Learning“ zum einen aus ihrer einmaligen wissenschaftlichen Breite:
Hatties Forscherarbeit liegen mehr als 80‘000 Einzelstudien zugrunde. In seine
Ergebnisse fliessen die Erfahrungen mit 250 Millionen Schülern ein. Darum kann
er empirisch nachweisen, was er normativ einfordert. [2]
Zum anderen zeigt sich eine fast schon verwirrende Klarheit an
Ergebnissen, die Hatties Mammut-Studie zutage fördert. Die Euphorie um
eigenverantwortliches Arbeiten oder ums Lernen ohne Lehrperson (LoL) ist
kritisch zu hinterfragen. Was zählt, ist die einzelne Lehrkraft, sagt John
Hattie, die vital präsente Lehrerin, der vertrauenswürdige Lehrer und ihr
Unterricht. Wie bereiten sie den Stoff auf? Erreichen sie die Kinder und
ermutigen sie? Wie stringent lenkt die Lehrerin durch die Lektion, und wie
genau gibt sie Feedback? Kann sich der Lehrer für das, was er unterrichtet,
selber begeistern?
Der Praxistest
Wem dies zu theoretisch klingt, frage bei Dichtern nach. Auch bei ihnen
taucht es immer wieder auf, dieses Zauberwort: begeistern, entflammen.
„Ansteckend [und] mitreissend“ sei er gewesen, schreibt der Zuger
Schriftsteller Thomas Hürlimann über seinen Physiklehrer an der Stiftsschule
Einsiedeln, Pater Kassian Etter, „verliebt [und] verbohrt in sein Fach“. Darum
verstand er es, „sogar mich für physikalische Vorgängen und Formeln zu
begeistern. Er war ein exzellenter Lehrer, weil er uns mit seiner Leidenschaft
ansteckte.“ [3] Und Hürlimann fügt bei: P. Kassian führte uns Jugendliche „aus Platons
Höhle nach oben, zu den Sternen, zu den Göttern.“
Das Geheimnis dieses Erfolgs lässt sich wahrscheinlich auch neurologisch
erklären – mit den Spiegelneuronen. Der Hirnforscher und Mediziner Joachim
Bauer schreibt, die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns würden in
erster Linie durch „Beachtung, Interesse, Zuwendung und Sympathie anderer
Menschen aktiviert. Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der
andere Mensch.“ [4]
Von der Leidenschaft für die Welt
Die Leidenschaft für den pädagogischen Auftrag resultiere aus der
Leidenschaft für die Welt und aus einem lebendigen Interesse an der Sache und
am jungen Menschen. Davon war Hannah Arendt, die kluge Politphilosophin und
Publizistin, zutiefst überzeugt. Das lebte und verkörperte der Physiklehrer P.
Kassian.
In dieser Leidenschaft zeigt sich die alte Idee der Pädagogik: die
Lehrerin als Brückenbauerin zur Welt, der Lehrer als Expeditionsleiter, als
Chauffeur ins Leben. Denn es gehört zu den Merkwürdigkeiten der modernen
Medien, dass die vielen Informationen nicht unbedingt das Verständnis fördern.
Im Gegenteil! Es braucht Personen, die uns zu Verstehenden machen und uns die
Welt nahebringen.
Pädagogisches Ethos als Triebfeder
Emma Goldberger wie P. Kassian würden ihren lernwirksamen und schülergerechten
Unterricht ganz ohne spiegelneuronalen Überbau erklären, sonst aber ziemlich
das Gleiche sagen wie der Wissenschaftler Joachim Bauer: Entscheidend für ihr
Wirken seien fachlicher Anspruch und charmante Autorität, Energie und Empathie,
Leidenschaft und Liebe gewesen, eben: spürbare Passion für ihren Beruf und
wertschätzender Respekt den Schülerinnen und Schülern gegenüber.
Bichsels und Camus‘ leidenschaftliche Lehrer
Ein solches Lehrerporträt zeichnet der Literaturnobelpreisträger Albert
Camus in seinem autobiografischen Werk „Der erste Mensch“. Von Monsieur Bernard
sagt Camus, er sei „aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf
leidenschaftlich liebte, ständig interessant“ gewesen. In seiner Klasse fühlten
die Kinder „zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster
Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.“ Monsieur
Bernards Methode bestand darin, „im Betragen nichts durchgehen zu lassen und
seinen Unterricht lebendig und amüsant zu machen“. [5] Straff-locker war dieser
Unterricht, eingebettet in ein unterstützendes Lernklima, geleitet von einer
lehrerzentrierten Schülerorientierung.
Albert Camus verehrte seinen Lehrer; Peter Bichsel war in seine Lehrerin
verliebt und Thomas Hürlimann vom Physikdozenten fasziniert. Camus‘ Lehrer,
Bichsels Lehrerin und Hürlimanns Pater wirkten auf ihre Schülerinnen und
Schüler. Und wie! Auf sie kam es an und auf ihren Unterricht. Die drei Porträts
machen es sichtbar, wie wirksam sie mit ihrer Leidenschaft für die Welt und die
jungen Menschen waren. Solche Lehrer würde jede Schulleitung engagieren, und
John Hattie gäbe allen drei maximale Werte. Von den Kindern und Jugendlichen
ganz zu schweigen.
Leidenschaft – ein veralteter Begriff, doch zeitlos und darum
zeitgemäss.
[1] Peter Bichsel (1985). Schulmeistereien. Darmstadt: Hermann
Luchterhand Verlag, p. 15
[2] John A. C. Hattie (2014), Lernen sichtbar machen. Überarbeitete und
erweiterte deutschsprachige Ausgabe von "Visible Learning", besorgt
von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren
[3] „Die pädagogische Provinz“, in: Thomas Hürlimann (2008), Der Sprung
in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Amann
Verlag, p. 109f.
[4] Ludger Kowal-Summek (2016), Neurowissenschaften und Musikpädagogik.
Klärungsversuche und Praxisbezüge. Köln: Springer, p. 141
[5] in: Albert Camus, Der erste Mensch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
Verlag GmbH 1997, p. 125, 128
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