24. März 2017

Kompetenzorientierung torpediert Studierfähigkeit in Deutschland

In einem offenen Brief an Bildungspolitiker der Länder und des Bundes schlagen 130 Professoren und Mathelehrer Alarm. Viele Abiturienten, die sich z. B. für Fächer wie Wirtschaft oder Informatik einschreiben würden, seien überfordert. Die Absender des Brandbriefes fordern daher entsprechende Maßnahmen an Schulen.
Trotz guter Noten - Viele Abiturienten für Uni ungeeignet, Welt, 22.3. 


Das Gymnasium ist die beliebteste Schulform, die Zahl der Studienanfänger steigt weiter – doch gleichzeitig sinkt das Niveau: In einem offenen Brief an Bildungspolitiker der Länder und des Bundes schlagen 130 Professoren und Mathelehrer Alarm. Viele Abiturienten, die sich für Fächer der Bereiche Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (WiMINT) einschreiben würden, seien heillos überfordert.

„Im Rahmen der Kompetenzorientierung … wurde der Mathematik-Schulstoff so weit ausgedünnt, dass das mathematische Vorwissen von vielen Studienanfängern nicht mehr für ein WiMINT-Studium ausreicht“, heißt es in dem Brief, den der Berliner „Tagesspiegel“ am Mittwoch veröffentlichte.

Dabei ginge es nicht unbedingt um hohe Mathematik, sondern um Grundwissen: „Den Studienanfängern fehlen Mathematikkenntnisse aus dem Mittelstufenstoff, sogar schon Bruchrechnung (!), Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen, Elementargeometrie und Trigonometrie.“
Davon sei die Studierfähigkeit massiv beeinträchtigt, wie im Januar eine Vorabiturklausur in Hamburg zeigte. Hierbei waren die Ergebnisse so schlecht ausgefallen, dass die Schulbehörde den Notenschnitt nachträglich von 4,1 auf 2,9 anhob, wie der „Spiegel“berichtete.

Reformen über die Köpfe hinweg
Das seien „alarmierende Symptome für die Krise der Mathematikausbildung an den Schulen“, heißt es in dem offenen Brief. An den Universitäten seien diese Defizite „längst kaum mehr aufholbar – weder in Vorkursen noch in Brückenkursen“. Zwar gebe es in der Studieneingangsphase „fast überall mathematische Alphabetisierungsprogramme“. Allerdings zur Frustration jener Studenten, „die mit guten Noten und hohen Erwartungen an die Hochschulen kommen“.

Als einen Grund sehen die Mathematiker Reformen, die ohne ausreichende Einbeziehung erfahrener Lehrkräfte der Schulen und Hochschulen durchgesetzt worden seien. So seien mathematische Ausdrucksweisen und abstrakte Aufgaben durch sperrige Textgebilde und konstruierte Modellierungsaufgaben ersetzt worden.

Physik, Mathe, Chemie? Geht so!
 „Entsprechend sehen kompetenzorientierte Lehrbücher aus – wie ein Kaleidoskop oder ein Panorama, in dem mit jeder Doppelseite ein neues Thema angefangen wird. Man sieht viel Text und bunte Bilder, aber keinen roten Faden mehr“, lautet die Kritik. „Der Mathematikstoff wird nur häppchenweise ‚angeboten‘ und nicht ausreichend vernetzt: Aushöhlung, Entfachlichung, Entkernung des Mathematikunterrichtes sind das Resultat.“

Warnung vorm Hamburger Modell
Mit Blick auf das Hamburger Klausurdesaster wird konkret bemängelt, dass die Aufgaben einen „teilweise absurd konstruierten“ Realitätsbezug hätten. Diese „Verpackung“ müsse von den Schülern erst einmal zeitaufwendig entfernt werden, um zum mathematischen Kern vorzudringen.
„Nach dem Willen der Hamburger Abituraufgabensteller soll dieser Aufgabenstil eine Vorreiterrolle für ganz Deutschland übernehmen“, beklagen die Experten. „Diese Planung wird nach dem jüngsten Skandal hoffentlich nicht umgesetzt.“

Konkret fordern die Absender des Brandbriefes sechs Maßnahmen. So sollten die Schulen unter anderem zu einer an fachlichen Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren und mehr Wert auf Grundrechenarten, Übung und Wiederholung legen. Und auch der Taschenrechner solle nicht mehr so oft zum Einsatz kommen.

In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Kritik an der Studieneignung von Abiturienten geäußert. Dem Statistikportal „Statista“ zufolge haben 2010 nur 74,9 Prozent aller Studienanfänger den Abschluss geschafft. 2006 waren es noch 79 Prozent.

Ein wachsender Teil der Schulabgänger bringe schlicht die Kompetenzen nicht mit, die ihnen in den Zeugnissen attestiert würden, stellt eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung im vergangenen Jahr fest. Deshalb seien die Universitäten „zunehmend mit Studienanfängern konfrontiert, die ihre Begabungen offenbar auf ganz anderen Feldern als in der Wissenschaft haben“.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen