11. März 2017

Helden oder Nieten?

Es geschah während einer Stadtführung in La Chaux-de-Fonds. Die Führerin mühte sich redlich ab, den Anwesenden die phänomenale Städtestruktur der Uhrenmetropole im Jura zu erklären. Etwa die Hälfte der 20 Schülerinnen und Schüler hörte interessiert zu. Zwei Mädchen redeten miteinander, zwei andere lachten laut, weil sie bemerkten, dass einer ihrer Kollegen nicht mehr anwesend war. Eine von ihnen griff zum Hörer, um den Vermissten aufzuspüren. Lautes «Aha», Wegerklärungen, saloppe Sprüche und ein Gekichere waren die Folge. Die Städteführerin musste dies bemerken, fuhr aber tapfer weiter.
Nieten oder Helden des Alltags, Basler Zeitung, 11.3. von Alain Pichard


Der Klassenlehrer blickte zurück, verzog aber keine Miene. Am Schluss sollten die vier Mädchen nach einem freien Ausgang sagen, dass es eine doofe Stadt gewesen sei. Man habe einen Coiffeursalon gesucht, nicht einmal das gäbe es an diesem komischen Ort. Und eine meinte, Stadtführungen interessierten sie eh nicht.

Man könnte dieses Ereignis abbuchen unter dem beliebten Thema der ach so unmotivierten heutigen Schülergeneration. Die Krux ist allerdings, dass es sich bei dieser Gruppe nicht um eine Oberstufenklasse mit einem peinlich berührten Klassenlehrer handelte, sondern um einen Kollegiumsausflug. Die vier Schülerinnen waren allesamt Lehrkräfte, darunter eine Geschichtslehrerin, der Klassenlehrer war der Schulleiter. Es ist bekannt: Die Schulmeister des Landes können sich ab und zu an Fortbildungsanlässen, Konferenzen oder Seminarien genauso verhalten wie unmotivierte Schulklassen. Sie kommen zu spät in den Kurs, sprechen mit dem Tischnachbarn, fallen einander ins Wort, tippen auf dem Handy herum, korrigieren ihre Schularbeiten, hören nicht zu und stellen Fragen, die vor fünf Minuten bereits beantwortet wurden. Ich mache da übrigens keine Ausnahme, doch davon später!
Die Disziplin hat sich zwar gegenüber früher massiv verbessert, aber wenn die Öffentlichkeit über Schulthemen spricht, stehen die Lehrkräfte immer in einem etwas kritischen Fokus. Es ist ein wenig unser aller Problem, das Problem der Lehrkräfte, die man einerseits bespöttelt, als «faule Säcke» beschimpft, als weltfremde wandelnde Klagesäulen, um sie dann andererseits wieder zu den Helden des Alltags zu machen, zu den unverzichtbaren Trägern jeglicher Bildungsformate und Integrationsbemühungen.Und beide Images wurden hart erarbeitet!
Was alles erfüllt sein will
Aktuell haben wir allerdings wieder etwas Oberwasser. Seit der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Megastudie über die Wirkung von Schule festgestellt hat, dass das Können und die Persönlichkeit der Lehrkräfte ein zentraler Gelingensfaktor ist, stolzieren wir wieder mit breiterer Brust durch die bildungspolitische Landschaft. Das zeigt sich jetzt vor allem bei der Diskussion um den Lehrplan 21. Gegner wie Promotoren reisen durch die Bildungslandschaft und erklären: «Auf den Lehrer kommt es an!» Bei aller Empfänglichkeit für öffentlichen Beifall, dessen Warmbadwirkung sich wohl niemand entziehen kann, beschleichen mich angesichts solch lobender Aussagen immer wieder die altbekannten Zweifel eines Praktikers, der nach 40 Jahren Schuldienst eines weiss: Ich war nicht immer ein guter Lehrer. Es gab und gibt auch bei mir Phasen, in denen ich nachlasse. Ich spreche da nicht von unvermeidlichen Fehlern, sondern von persönlichen Krisen, zu viel Politik oder phasenweiser Überforderung.

«Wer John Hattie genau liest, der kann sich nicht auf die Formel verlassen: «Es kommt auf den Lehrer an.» Nein, er sagt, es kommt auf die Qualität seines Unterrichts an. Die hat zwar durchaus mit der Persönlichkeit zu tun, aber auch mit Fleiss, Professionalität, Hingabe und – nicht zu unterschätzen – Erfahrung.

Der Lehrerberuf ist anspruchsvoll. Neben dem Unterricht kommen da nämlich noch einige wichtige Dinge dazu: Klassenführung, Elterngespräche, Zusammenarbeit mit den Behörden, Umgang mit Absentismus, Umgang mit Multikulturalität, Umgang mit Facebook und iPhone, Vorbereitungen von Schulreisen, Skilagern und Landschulwochen, durchstehen eines 24-Stunden-Betriebs, Coaching bei der Berufswahl, Planen von Betriebsbesichtigungen, Begründen von Selektionsentscheiden, Klassenkonferenzen, Kenntnisse im Schulrecht, Führen eines Klassenkontos, Organisation von Schulanlässen, persönliche Beziehungsarbeit, Umgang mit schwierigen Schülern, Ordnung und Sauberkeit des Klassenzimmers, Kollegiumszusammenarbeit. Dazu sollen die Lehrpersonen offen, optimistisch, belastbar, innovativ und vor allem gerecht sein.

Jeder, der einmal in die Schule gegangen ist, weiss, dass es «den Lehrer» oder «die Lehrerin» ohnehin nicht gibt, genauso wenig wie «den Schüler». Es gibt miserable und schlechte Lehrpersonen und es gibt hervorragende und gute Lehrkräfte, und dazwischen eine grosse Mitte, genau wie bei den Schülern. Ein sehr guter Lehrer ist übrigens fast unbezahlbar. Er ersetzt teure Fachinstitutionen, Psychologen, Case Manager, Sozial- und Jugendarbeiter und entlastet Arbeitslosenprogramme.
Rückmeldungen sind zentral
Um das fragile Können der Lehrkräfte zu stützen, haben wir gewisse Korrektive. Da wären einmal die Schulleitungen, die allerdings nicht nur verwalten, sondern auch eine Ahnung von Pädagogik haben sollen. Und – das ist wichtig – heute ist es möglich, sich von schlechten Lehrpersonen zu trennen.

Für die Lehrkräfte aber immer noch der verlässlichste Anzeiger für ihr berufliches Können sind Rückmeldungen ihrer Schülerinnen und Schüler. Diese können genau abschätzen, wer da vor ihnen steht. Und auch Hattie weist nach, dass Rückmeldungen für die Lehrer und die Schüler zentral sind. Ich führe zum Beispiel Klassenkonferenzen durch, in denen die Schülerinnen und Schüler mir sagen können, wenn sie etwas stört.

An meiner letzten Sitzung wurde ich kritisiert, dass ich die Proben viel zu lange bei mir behalte, schnell «hässig» werde, und manchmal abwesend sei. Als ich meiner Frau etwas zerknirscht diese Rückmeldungen gezeigt hatte, meinte sie erbarmungslos: «Die haben völlig recht, das beobachte ich hier zu Hause genauso.» Eine Folge davon, dass ich in meiner unterrichtsfreien Zeit im Stadtrat sitze und solche Artikel schreibe?

Nun denn, ich kandidierte nicht mehr für den Stadtrat und investiere mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Denn eines ist klar: Auch als Lehrer mit 40 Jahren Schulerfahrung, muss der Unterricht gründlich vorbereitet werden, wenn er nicht monoton, sondern gut sein soll. Solche Erkenntnisse kosten nicht viel. Sie erfordern etwas Mut (von beiden Seiten), Kritikfähigkeit und ein wenig Unterrichtszeit. Natürlich gibt es auch bei Rückmeldungen Qualitätsunterschiede.

Als ich als ganz junger Lehrer mit einer ziemlich schwierigen Klasse einmal mit dem Bus zur Schlittschuhbahn gefahren bin, erwies sich ein rüstiger Senior, der per Zufall im Bus sass, als genauer Beobachter. Die Busfahrt war ein Desaster. Die Schüler tanzten mir und den anderen Passagieren auf der Nase herum. Ich schämte mich in Grund und Boden. Der betagte Rentner diskutierte indes im Bus vorne intensiv mit einer meiner Schülerinnen. Als wir aus dem Bus gestiegen waren, kam die Schülerin grinsend zu mir und sagte: «Ich soll Euch einen Gruss von dem alten Mann ausrichten. Er sagte, Ihr seid eine Niete!»
Alain Pichard ist Bieler Oberstufenleherer und Lokalpolitiker


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