Es geschah während einer Stadtführung in La
Chaux-de-Fonds. Die Führerin mühte sich redlich ab, den Anwesenden die
phänomenale Städtestruktur der Uhrenmetropole im Jura zu erklären. Etwa die
Hälfte der 20 Schülerinnen und Schüler hörte interessiert zu. Zwei Mädchen
redeten miteinander, zwei andere lachten laut, weil sie bemerkten, dass einer
ihrer Kollegen nicht mehr anwesend war. Eine von ihnen griff zum Hörer, um den
Vermissten aufzuspüren. Lautes «Aha», Wegerklärungen, saloppe Sprüche und ein
Gekichere waren die Folge. Die Städteführerin musste dies bemerken, fuhr aber
tapfer weiter.
Nieten oder Helden des Alltags, Basler Zeitung, 11.3. von Alain Pichard
Der Klassenlehrer blickte zurück, verzog aber keine Miene. Am
Schluss sollten die vier Mädchen nach einem freien Ausgang sagen, dass es eine
doofe Stadt gewesen sei. Man habe einen Coiffeursalon gesucht, nicht einmal das
gäbe es an diesem komischen Ort. Und eine meinte, Stadtführungen interessierten
sie eh nicht.
Man könnte dieses Ereignis abbuchen unter dem beliebten Thema der
ach so unmotivierten heutigen Schülergeneration. Die Krux ist allerdings, dass
es sich bei dieser Gruppe nicht um eine Oberstufenklasse mit einem peinlich
berührten Klassenlehrer handelte, sondern um einen Kollegiumsausflug. Die vier
Schülerinnen waren allesamt Lehrkräfte, darunter eine Geschichtslehrerin, der
Klassenlehrer war der Schulleiter. Es ist bekannt: Die Schulmeister des Landes
können sich ab und zu an Fortbildungsanlässen, Konferenzen oder Seminarien
genauso verhalten wie unmotivierte Schulklassen. Sie kommen zu spät in den
Kurs, sprechen mit dem Tischnachbarn, fallen einander ins Wort, tippen auf dem
Handy herum, korrigieren ihre Schularbeiten, hören nicht zu und stellen Fragen,
die vor fünf Minuten bereits beantwortet wurden. Ich mache da übrigens keine
Ausnahme, doch davon später!
Die Disziplin hat sich zwar gegenüber früher massiv verbessert,
aber wenn die Öffentlichkeit über Schulthemen spricht, stehen die Lehrkräfte
immer in einem etwas kritischen Fokus. Es ist ein wenig unser aller Problem,
das Problem der Lehrkräfte, die man einerseits bespöttelt, als «faule Säcke»
beschimpft, als weltfremde wandelnde Klagesäulen, um sie dann andererseits
wieder zu den Helden des Alltags zu machen, zu den unverzichtbaren Trägern
jeglicher Bildungsformate und Integrationsbemühungen.Und beide Images wurden
hart erarbeitet!
Was
alles erfüllt sein will
Aktuell haben wir allerdings wieder etwas Oberwasser. Seit der
neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Megastudie über die
Wirkung von Schule festgestellt hat, dass das Können und die Persönlichkeit der
Lehrkräfte ein zentraler Gelingensfaktor ist, stolzieren wir wieder mit
breiterer Brust durch die bildungspolitische Landschaft. Das zeigt sich jetzt
vor allem bei der Diskussion um den Lehrplan 21. Gegner wie Promotoren reisen
durch die Bildungslandschaft und erklären: «Auf den Lehrer kommt es an!» Bei
aller Empfänglichkeit für öffentlichen Beifall, dessen Warmbadwirkung sich wohl
niemand entziehen kann, beschleichen mich angesichts solch lobender Aussagen
immer wieder die altbekannten Zweifel eines Praktikers, der nach 40 Jahren
Schuldienst eines weiss: Ich war nicht immer ein guter Lehrer. Es gab und gibt
auch bei mir Phasen, in denen ich nachlasse. Ich spreche da nicht von
unvermeidlichen Fehlern, sondern von persönlichen Krisen, zu viel Politik oder
phasenweiser Überforderung.
«Wer John Hattie genau liest, der kann sich nicht auf die Formel
verlassen: «Es kommt auf den Lehrer an.» Nein, er sagt, es kommt auf die
Qualität seines Unterrichts an. Die hat zwar durchaus mit der Persönlichkeit zu
tun, aber auch mit Fleiss, Professionalität, Hingabe und – nicht zu
unterschätzen – Erfahrung.
Der Lehrerberuf ist anspruchsvoll. Neben dem Unterricht kommen da
nämlich noch einige wichtige Dinge dazu: Klassenführung, Elterngespräche,
Zusammenarbeit mit den Behörden, Umgang mit Absentismus, Umgang mit Multikulturalität,
Umgang mit Facebook und iPhone, Vorbereitungen von Schulreisen, Skilagern und
Landschulwochen, durchstehen eines 24-Stunden-Betriebs, Coaching bei der
Berufswahl, Planen von Betriebsbesichtigungen, Begründen von
Selektionsentscheiden, Klassenkonferenzen, Kenntnisse im Schulrecht, Führen
eines Klassenkontos, Organisation von Schulanlässen, persönliche
Beziehungsarbeit, Umgang mit schwierigen Schülern, Ordnung und Sauberkeit des
Klassenzimmers, Kollegiumszusammenarbeit. Dazu sollen die Lehrpersonen offen,
optimistisch, belastbar, innovativ und vor allem gerecht sein.
Jeder, der einmal in die Schule gegangen ist, weiss, dass es «den
Lehrer» oder «die Lehrerin» ohnehin nicht gibt, genauso wenig wie «den
Schüler». Es gibt miserable und schlechte Lehrpersonen und es gibt
hervorragende und gute Lehrkräfte, und dazwischen eine grosse Mitte, genau wie
bei den Schülern. Ein sehr guter Lehrer ist übrigens fast unbezahlbar. Er
ersetzt teure Fachinstitutionen, Psychologen, Case Manager, Sozial- und Jugendarbeiter
und entlastet Arbeitslosenprogramme.
Rückmeldungen
sind zentral
Um das fragile Können der Lehrkräfte zu stützen, haben wir gewisse
Korrektive. Da wären einmal die Schulleitungen, die allerdings nicht nur
verwalten, sondern auch eine Ahnung von Pädagogik haben sollen. Und – das ist
wichtig – heute ist es möglich, sich von schlechten Lehrpersonen zu trennen.
Für die Lehrkräfte aber immer noch der verlässlichste Anzeiger für
ihr berufliches Können sind Rückmeldungen ihrer Schülerinnen und Schüler. Diese
können genau abschätzen, wer da vor ihnen steht. Und auch Hattie weist nach,
dass Rückmeldungen für die Lehrer und die Schüler zentral sind. Ich führe zum
Beispiel Klassenkonferenzen durch, in denen die Schülerinnen und Schüler mir
sagen können, wenn sie etwas stört.
An meiner letzten Sitzung wurde ich kritisiert, dass ich die
Proben viel zu lange bei mir behalte, schnell «hässig» werde, und manchmal
abwesend sei. Als ich meiner Frau etwas zerknirscht diese Rückmeldungen gezeigt
hatte, meinte sie erbarmungslos: «Die haben völlig recht, das beobachte ich
hier zu Hause genauso.» Eine Folge davon, dass ich in meiner unterrichtsfreien
Zeit im Stadtrat sitze und solche Artikel schreibe?
Nun denn, ich kandidierte nicht mehr für den Stadtrat und
investiere mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Denn eines ist klar: Auch
als Lehrer mit 40 Jahren Schulerfahrung, muss der Unterricht gründlich
vorbereitet werden, wenn er nicht monoton, sondern gut sein soll. Solche
Erkenntnisse kosten nicht viel. Sie erfordern etwas Mut (von beiden Seiten),
Kritikfähigkeit und ein wenig Unterrichtszeit. Natürlich gibt es auch bei
Rückmeldungen Qualitätsunterschiede.
Als ich als ganz junger Lehrer mit einer ziemlich schwierigen
Klasse einmal mit dem Bus zur Schlittschuhbahn gefahren bin, erwies sich ein
rüstiger Senior, der per Zufall im Bus sass, als genauer Beobachter. Die
Busfahrt war ein Desaster. Die Schüler tanzten mir und den anderen Passagieren
auf der Nase herum. Ich schämte mich in Grund und Boden. Der betagte Rentner
diskutierte indes im Bus vorne intensiv mit einer meiner Schülerinnen. Als wir
aus dem Bus gestiegen waren, kam die Schülerin grinsend zu mir und sagte: «Ich
soll Euch einen Gruss von dem alten Mann ausrichten. Er sagte, Ihr seid eine
Niete!»
Alain Pichard ist Bieler Oberstufenleherer und Lokalpolitiker
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