Viele Jahre lang galt Finnland als Vorbild: Gute Schulen, super Schüler. Nun bröckelt der Mythos.
Finnland, Ende des Bildungswunders, Zeit, 23.3. von Thomas Kerstan
Schulexperten und
Politiker pilgerten daraufhin gen Norden, von der damaligen
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) bis zum bayerischen
Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU).
Wenn sie zurückkehrten, wirkten vor allem Sozialdemokraten und Grüne wie
beseelt. Die niedersächsischen Grünen wollten "Schulen nach finnischem
Vorbild schaffen". Die hessische SPD bot sogar einen deutschen Experten
aus dem finnischen Bildungsministerium als Schatten-Kultusminister auf.
Doch der Mythos bröckelt. Laut der neuesten
Pisa-Studie aus dem Jahr 2015 haben die finnischen 15-Jährigen im Lesen und in
Mathematik inzwischen fast den Stoff eines Schuljahrs weniger gelernt im
Vergleich zu den 15-Jährigen im Jahr 2000. Die Welt am Sonntag meldete gar: "Finnlands
Pisa-Wunder entpuppt sich als Irrtum." Anlass ist eine 2015
veröffentlichte Studie des schwedischen Bildungsökonomen Gabriel Heller
Sahlgren. Er zieht darin die finnische Erfolgsgeschichte fundamental in
Zweifel.
Was ist nur los mit
Finnland? Warum waren die Schüler dort so gut? Womit ist ihr Leistungsabfall zu
erklären? Sind die vielen Finnland-Fahrer gar einem Trugbild aufgesessen?
Ein Rückblick: Was
Finnland in den Augen der Deutschen zum Pisa-Sieger machte, war in der gängigen
Lesart die Gesamtschule. "Die Gesamtschule ist das Erfolgsmodell der
finnischen Pisa-Sieger", hieß es im Spiegel. Die Welt
am Sonntag analysierte:
"Dank ganztägiger Gesamtschulen sind Finnlands Schüler die besten Europas."
Auch die ZEIT berichtete vom "Erfolgsgeheimnis Gesamtschule".
Es gab Gegenstimmen wie die des
damaligen Chefs der deutschen Pisa-Studie, Manfred Prenzel, der darauf hinwies,
dass Länder mit einem gegliederten Schulsystem ebenfalls Bestwerte erreichten.
Auch die finnische Geschichte wurde als Erfolgsfaktor angeführt. Das Land wurde
jahrhundertelang von Schweden und Russen beherrscht, die eigene Sprache
sicherte die Identität der Finnen; die lutherische Kirche verbot Analphabeten
zu heiraten. Zudem rückte die strenge Lehrerauswahl ins Blickfeld, nach der nur
die besten zehn Prozent der Bewerber zum Zuge kommen.
Das große Bild jedoch,
das hängen blieb, war: Das Bildungswunder verdankt sich der Gesamtschule, die
kein Kind zurücklässt. In den Siebzigern löste sie das gegliederte Schulsystem
ab; in einer zweiten Reform in den Neunzigern wurde die staatliche
Schulaufsicht abgeschafft, und die Schulen wurden autonomer.
Der Bildungsforscher
Sahlgren behauptet nun das Gegenteil der herrschenden Lehre: Die guten
Ergebnisse bei der ersten Pisa-Studie habe es nicht wegen der Reformen gegeben,
sondern ihnen zum Trotz. Sie seien eine Nachwirkung der alten finnischen
Schule, eines zentralisierten Systems mit autoritären Lehrern, das die Schüler
auch früher schon zu Spitzenleistungen geführt habe. Viele Reformen hätten erst
in den neunziger Jahren eingesetzt, deswegen hätten das hierarchische System
und der alte Lehrertypus noch nachwirken können. Dass die Finnen danach
zurückgefallen seien, liege daran, dass im Zuge der viel besungenen Reformen
das hierarchisch-autoritäre System erodiert sei.
Man
muss unter die Oberfläche schauen
Wer in Finnland auf
Wahrheitssuche geht, der kann schnell die Begeisterung für die moderne
finnische Schule teilen. Ein milder Tag im Februar, Besuch an der Viikki-Schule
in Helsinkis Nordosten: Ein großer Glasbau, auch innen sind viele Wände aus
Glas, der Bau strahlt Offenheit aus. In der Bibliothek hängen Gemälde der
ehemaligen Schulleiter, in den Regalen stehen noch richtige alte Bücher, in
einer einladenden Kantine wuseln Schüler herum.
Schöpferisches Chaos ist
in einem Arbeitsraum zu erleben. Grundschüler üben sich im Umgang mit
Computern. Ein Mädchen hat aus Kabeln und Metallfolie eine Art elektronische
Orgel gebastelt. Zwei Jungs bringen einem Roboterauto das Fahren auf einem
Parcours bei. Noch hält es die Spur nicht sicher, aber das wird es noch lernen.
Die Stimmung ist spielerisch, aber konzentriert. Das alles geschieht unter der
zurückhaltenden, aber bestimmten Führung des Lehrers, eines Mittdreißigers mit
Nerdbrille. So eine Schule wünscht man seinen Kindern.
Gut vorstellbar, dass eine solche Einrichtung die Besucher aus Deutschland in
den vergangenen Jahren begeistert hat. Doch die Schule ist die Übungsschule der
Universität Helsinki, an der Lehrer ausgebildet werden, eine Schule, die man
gern vorzeigt. Haben sich viele Besucher von solchen Musterschulen verzaubern
lassen? Stand hier die Anschauung der Erkenntnis im Weg?
Ein anderes Bild
zeichnet etwa eine Unicef-Studie: In keinem anderen OECD-Land gehen Kinder so
ungern zur Schule wie in Finnland.
Wer mehr begreifen will,
der muss unter die Oberfläche schauen. "Uns ist heute bewusst, dass die
leicht sichtbaren Eigenschaften der Schulen für das Lernen nicht so wichtig
sind", sagt der Psychologe Olaf Köller, der das Leibniz-Institut für die
Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel leitet, und bezieht
sich damit auf "die Schulform, die Größe der Klassen, Frontalunterricht
oder Gruppenarbeit" – eben das, was die Besucher aus Deutschland
wahrnahmen. Entscheidend sei das Unsichtbare im Unterricht, wie geistig
anregend zum Beispiel die Aufgaben seien.
Mit Unterricht kennt
sich Erno Lehtinen aus. Der Mittsechziger mit gepflegtem grauem Bart forscht an
der Universität Turku in Südwestfinnland, zwei Autostunden von Helsinki
entfernt. Der international angesehene Erziehungswissenschaftler hat daran
mitgewirkt, den Mathematikunterricht in Finnland umzugestalten. Denn Anfang der
neunziger Jahre befand man sich im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld.
"Wir machten uns
mit den Lehrern daran, den Unterricht zu modernisieren", sagt Lehtinen in
fließendem Deutsch. Vorher hätten die Lehrkräfte nur Mathematikaufgaben
formuliert und mit den Schülern gelöst. "Im neuen Unterricht lernen die
Schüler, auch die mathematischen Konzepte zu verstehen, die dahinterstehen,
beispielsweise wie man Probleme in der Sprache der Mathematik beschreibt und
löst." Die Lehrer lernten auf Fortbildungen, auf welchem Vorwissen man
aufbauen könne, wie die Motivation gesteigert werden könne. Im Ergebnis gingen
die Mathematikleistungen der Finnen dann bei Pisa durch die Decke.
Die
Pisa-Studie betreibt keine Ursachenforschung
Die finnischen Schüler
sind also im Zuge der Reformen in Mathematik deutlich besser geworden. Sahlgren
hat das unterschlagen, weil es nicht zu seinem Lob der alten finnischen Schule
passt. Allerdings ist die Ursache wohl eher in der Modernisierung des
Unterrichts zu finden als in den viel besungenen Strukturreformen.
Doch wie erklärt sich
der Leistungsabfall der finnischen Schüler nach 2006? Haben da die Lehrer in den
Klassenräumen das Zepter aus der Hand gegeben, wie Sahlgren behauptet?
"Die Lehrer waren
früher gut, und sie sind es heute", sagt Erno Lehtinen. Eigentlich habe
sich in der Schule gar nicht viel geändert – aber im Umfeld der Schule, in der
Gesellschaft. Er lenkt den Blick zurück auf den Anfang der neunziger Jahre.
Damals durchlitt Finnland eine schwere Wirtschaftskrise, weil durch den
Zusammenbruch der Sowjetunion ein wichtiger Handelspartner von der Bühne
verschwand. "Viele, vor allem junge Leute waren lange arbeitslos",
sagt Lehtinen. "Wir nennen sie die verlorene Generation." Die Kinder
dieser verlorenen Generation, so erklärt Lehtinen die schlechteren
Testergebnisse, seien vor ein paar Jahren im Pisa-Alter angekommen. "Die
Eltern bieten den Kindern keinen Halt, keine positiven Visionen", sagt
Lehtinen. Verschärfend wirke die aktuelle Jugendarbeitslosigkeit von rund 20
Prozent. Die Schüler hätten ein Motivationsproblem.
Noch eine weitere
Erklärung für den Leistungsabfall drängt sich in Turku auf. Die Übungsschule
der Universität liegt in einem Neubaugebiet – in das in den vergangenen Jahren
viele Einwanderer aus dem Irak, aus Somalia und Russland gezogen sind.
"Das ist neu für Finnland", sagt Lehtinen. Bei der ersten Pisa-Studie
waren unter den getesteten 15-Jährigen fast keine Einwandererkinder. Inzwischen
ist ihr Anteil in Finnland auf vier Prozent gewachsen. Das ist im Vergleich zu
Deutschland (in dem es nach OECD-Kriterien 17 Prozent Einwandererkinder gibt)
immer noch wenig, erklärt jedoch einen Teil des Leistungsabfalls. Aber gilt in
Finnland nicht das Prinzip, "keinen zurückzulassen"? Ist das Land
nicht stolz darauf, schwache Schüler so gut zu fördern, dass alle das Lernziel
erreichen? "Das gelingt uns bei den finnischstämmigen Schülern gut",
sagt Erno Lehtinen. "In Multikulti sind wir aber noch nicht so
geübt."
Marjo Kyllönen, die
freundlich-energische Bildungschefin der Stadt Helsinki, bestätigt das.
"Wichtig ist, dass die Familie das Lernen unterstützt", sagt sie.
Viele Eltern mit Migrationsgeschichte seien dazu nicht in der Lage. "Und
auch wir müssen lernen, dass diese Kinder dazugehören", sagt sie.
"Wir müssen ein neues Wir finden." Die finnische Schule lebt
traditionell davon, dass die Gesellschaft sie trägt. Das scheint zu bröckeln.
Auf der Suche nach
Ursachen für das Auf und Ab der finnischen Schule landet man jenseits der
gängigen Erklärungsmuster: bei einem neuen Mathematikunterricht, bei den
Spätfolgen einer Wirtschaftskrise und bei den für Finnland noch frischen Folgen
der Globalisierung. Das ist nicht die ganze Geschichte; es sind neue
Mosaiksteine, die das Bild bunter machen.
Einfache Antworten gibt
es allein deshalb nicht, weil die Pisa-Studie keine Ursachenforschung betreibt.
"Wenn wir über die Ursachen guter oder schlechter Leistungen nachdenken,
dann bewegen wir uns oft im Spekulativen", sagt die
Erziehungswissenschaftlerin Christine Sälzer, die das Pisa-Team an der School
of Education der TU München leitet.
Was kann man aus alldem
lernen? Vermutlich war der Hype um die finnische "Schule für alle"
übertrieben. Viele haben sich zu sehr vom leicht Sichtbaren beeindrucken
lassen. Sie sind keinem Trugbild aufgesessen, denn in Finnlands Schulen ist
Beeindruckendes zu sehen. Doch sie haben einen Bildausschnitt zu stark vergrößert.
Die These aber, dass die alte finnische Schule den Erfolg gebracht habe,
überzeugt nicht. Dagegen spricht schon die Leistungssteigerung in Mathematik
seit den neunziger Jahren.
Lohnt sich der Blick ins
Ausland für uns denn noch? "Inspirationen sollte man dort unbedingt
suchen", sagt Christine Sälzer, aber Konzepte direkt zu übernehmen bringe
nichts, weil das Umfeld sich zu sehr voneinander unterscheide.
Selbst die
Sozialdemokraten schauen inzwischen ernüchtert nach Norden. "Die ungestüme
Begeisterung für Finnland hat sich zu einer neugierig-kritischen Haltung
gewandelt", sagt Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, der die Arbeit der
SPD-Kultusminister koordiniert. Dazu beigetragen hat sicher der deutsche Erfolg
in der Pisa-Studie. In Mathematik liegt Deutschland inzwischen auf finnischem
Niveau.
Bis 1991 gab es Klassenunterricht mit viel Üben und Lehrer als Fachautorität, Leistungsförderung, war das massgebliche Prinzip wie heute in Asien. Dann wurde das alte zentralisierte, staatlich organisierte Schulsystem mehr oder minder abgeschafft.
AntwortenLöschen1990er Einführung des Systems der «Lehrkoordinators» [ = LP21 - Lernbegleiter]: Organisator von Gruppenarbeit, die Schüler anregen, von anderen Schülern, zu lernen und wenig Hausaufgaben vergeben. 1990 nationaler Lehrplan wird kompetenzorientiert/konstruktivistisch (The finish National Board of Education, 2004). Abkehr von leistungsfähigem Schulsystem um «zeitgemässer» zu werden.
Bildungsforschung: mindestens 10 bis 15 Jahre bis Veränderungen sichtbar werden. Die PISA-Erfolge waren dem Nachwirken des alten Systems geschuldet.
Nach dem tiefen PISA-Fall begann Finnland um 2015 sein scheinbar so hervorragendes System zu reformieren: Das längere gemeinsame Lernen wurde wieder aufgebrochen. Für Förderschüler wurden Spezialklassen eingerichtet.
Es ging aber nicht immer bergab, interessant ist die Steigerung in Mathe und Naturwissenschaften im Jahr 2006.
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