Bei allen grossen Schulleistungsstudien schneiden Buben im Lesen
schlechter ab als Mädchen. Der Kompetenzunterschied zwischen den Geschlechtern
zeigt sich bereits im Alter von zehn Jahren, und bei Fünfzehnjährigen kann er
sogar bis zu einem Jahr betragen. Doch dann ändert sich das wieder, und bei
Tests mit älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen verschwindet die
geschlechtsspezifische Differenz fast ganz.
Buben lesen anders, NZZaS, 26.2. von Regula Freuler
Oddny Judith Solheim und Kjersti Lundetræ von der Universität Stavanger
in Norwegen wollten herausfinden, weshalb das so ist. Sie verglichen die
Ergebnisse der Schulleistungstests Pirls für 10-Jährige und Pisa für 15-Jährige
mit dem PIAAC-Test für 16- bis 24-Jährige («Assessment in Education», online).
In diesen Tests wird geprüft, ob die Probanden geschriebene Texte verstehen und
nutzen können. Pisa und PIAAC sollen auch prüfen, ob das Gelesene reflektiert
und bewertet werden kann.
«Es geht nicht um die Frage, welches Geschlecht besser lesen kann», sagt
Oddny Solheim, «sondern warum der Unterschied in einem gewissen Alter so gross
ist». Ihrer Meinung nach hängt es mit dem Test-Design zusammen, also der Art
und Weise der Aufgabenstellung.
So kommt es auf Textsorte und Textform an. «Mädchen punkten mehr als
Buben bei fiktionalen Texten. Ebenso sind Mädchen im Vorteil, wenn es sich um
lange Texte handelt.» Im PIAAC-Test, wo die Männer besser abschneiden als bei
Pirls und Pisa, ist das Verhältnis von langen zu kürzeren Texten
beziehungsweise fiktionalen zu faktenbasierten Texten viel ausgewogener.
Ebenso haben Buben mehr Schwierigkeiten mit sogenannten
Constructed-Response-Aufgaben, also mit offenen Fragen, bei denen man die
Antworten selbst formulieren muss. Leichter fällt ihnen das
Multiple-Choice-Verfahren, bei dem sie vorgegebene Antworten ankreuzen können.
Solheim und Lundetræ stellten fest, dass sowohl im Pirls- als auch im Pisa-Test
etwa bei der Hälfte der Fragen die Antwort selbst formuliert werden muss und in
über zwei Dritteln dieser Aufgaben längere schriftliche Antworten verlangt
sind. Weil solche Aufgaben mit bis zu dreimal mehr Punkten belohnt werden als
Multiple-Choice-Aufgaben, fallen Buben besonders hinter den
schreibkompetenteren Mädchen zurück: «Buben haben nicht nur mehr
Schwierigkeiten mit offenen Fragen», sagt Solheim, «sie neigen auch dazu, diese
auszulassen.»
Dass Buben schwierige Aufgaben eher einmal umgehen, offenbart sich auch
bei ihrem Leseverhalten. Gemäss zwei englischen Studien, bei denen Daten von
850 000 Schülerinnen und Schülern ausgewertet wurden, lesen Buben nicht nur
weniger sorgfältig als Mädchen, sie überspringen auch häufiger Seiten («Reading
Psychology», online). Ausserdem wählen sie lieber Bücher, die sie unter- statt
überfordern. Zwar entschieden sich die Buben bei den Tests viel häufiger für
nichtfiktionale Texte als die Mädchen, also jener Textsorte, die ihnen leichter
zu verstehen fällt. Aber selbst dort schnitten sie schlechter ab als die
Mädchen.
Für das abweichende Leseverhalten von Buben und Mädchen gibt es
verschiedene Begründungsversuche. So werden kognitive Unterschiede wie das
grössere Vokabular bei Mädchen ins Feld geführt. Doch ab einem Alter von
ungefähr fünf, sechs Jahren haben die Buben den Vorsprung wettgemacht. Als eine
weitere Begründung wird die sogenannte Feminisierung der Schulen mit vorwiegend
weiblichen Lehrkräften herangezogen. Studien zeigen allerdings, dass weniger
die Schulen als die allgemeinen sozialen und kulturellen Umstände die
Lesemotivation und damit die Leseleistung beeinflussen. Dasselbe gilt für die
Kritik an neuen didaktischen Methoden, die Mädchen angeblich besser liegen als
Buben.
Eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Leseleistung sehen
Solheim und Lundetræ jedoch im Umstand, dass sowohl im Pirls- wie auch im
Pisa-Test Lesehäufigkeit und -motivation eng mit der Leseleistung verbunden
wird. Und bei der Motivation hapert es bei den Buben häufiger. «Buben lassen
sich schwerer motivieren, um in Lesetests ihr Bestes zu geben. Es ist für sie
viel wichtiger als für Mädchen, sich mit dem Inhalt identifizieren oder einen
persönlichen Bezug herstellen zu können.» Ist beispielsweise die Hauptfigur des
zu interpretierenden Textes ein Mädchen, schneiden Buben deutlich schlechter ab
als bei Texten mit männlichen Protagonisten.
Warum Mädchen mit fiktionalen Texten besser umgehen können als Buben,
haben die norwegischen Forscherinnen noch nicht untersucht. «Möglicherweise
liegt es daran, dass Mädchen generell mehr lesen als Buben. Sie haben auch viel
mehr Vorbilder: Frauen lesen mehr Bücher als Männer.»
Aus demselben Grund dürfte es Mädchen auch leichterfallen, an längeren
Texten dranzubleiben. An einem körperlichen oder kognitiven Defizit der Buben
liege es jedenfalls nicht, sagt Solheim. «Sie haben kein Konzentrationsproblem.
Das sieht man an der Ausdauer, die sie in anderen intellektuellen Fächern wie
Mathematik beweisen.»
Bedeutet das nun, dass man das Test-Design der Pirls- und der
Pisa-Studien ändern sollte? «Nicht unbedingt», sagt Oddny Solheim, «zuerst
sollte man untersuchen, ob jene Lesekompetenz, die in diesen Tests gefragt ist,
für das spätere Leben wichtig sind oder nicht.» Derzeit sieht es nicht danach
aus, als ob Männer einen Nachteil daraus ziehen: Auf dem Arbeitsmarkt besetzen
sie nach wie vor die Mehrheit der Spitzenpositionen.
In der gleichen NZZ heisst es an anderer Stelle: "Die Studie kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die Pisa-Tests von den Schweizer Zuständigen scharf kritisiert werden. Die kantonalen Erziehungsdirektoren bemängeln die neue Erhebungsmethode am Computer. Einmal übersprungene Fragen können nicht mehr beantwortet werden".
AntwortenLöschenDen "Schweizer Zuständigen" kommt diese Studie gerade gerecht. Sie suchen seit längerer Zeit Gründe, damit sie bei Pisa 2018 nicht mehr mitmachen müssen. Dabei spielen die Resultate dieser Studie keine Rolle beim Ländervergleich, weil ja alle Länder die gleichen Testvoraussetzungen haben. Was die Schweizer Zuständigen und Medien gerne verschleiern, ist die Tatsache, dass sich die Schweiz seit Pisa 2012 in allen Fächern ständig verschlechtert. Warum ist das so? Der IQB-Ländervergleich in Deutschland zeigt, dass diejenigen Bundesländer mit den meisten Reformen auf dem "absteigenden Ast" sind, wie der ehemalige Spitzenreiter Baden-Württemberg mit seiner "Gemeinschaftsschule". In der Schweiz wird seit Jahrzehnten reformiert. Seit 1990 wird in immer mehr Schulstuben der "Wochenplan" mit dem "selbstgesteuerten Lernen" eingeführt. Das "selbstgesteuerte Lernen" ist die "Unterricht"sebene der "Kompetenzorientierung" beim Lehrplan 21 und soll den gemeinsamen Klassenunterricht völlig verdrängen. Die Schweizer Zuständigen befürchten offenbar, dass sich dieser Paradigmawechsel bei Pisa 2018 noch schlimmer auswirken wird und versuchen nun alles, dass "nicht alle Welt sehen" soll, wie das bewährte Schweizer Bildungswesen an die Wand gefahren wird. Ist das bewährte Bildungsporzellan einmal zerschlagen, sinkt die Qualität der Volksschule unwiderruflich auf billiges Plastikniveau