Wann
entdeckte Kolumbus Amerika? 1492. Das weiss jedes Kind, man lernt es
schliesslich in der Schule. Und wann verübten serbische Schergen den Völkermord
in Srebrenica? 1995. Das wissen die wenigsten Sekundarschüler. Im Unterschied
zu den Abenteuern des genuesischen Seefahrers in kastilischen Diensten gehört
das Massaker an den muslimischen Bosniern im ehemaligen Jugoslawien in der
Schweiz nicht zum obligatorischen Schulstoff.
Kurt Hofer in einem historischen Schulzimmer des Schulmuseums Bern, Bild: Tomas Wüthrich
Kolumbus ja - Holocaust nein, NZZaS, 12.2. von Lucienne Vaudan und René Donzé
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Manche
Klassen thematisieren nicht einmal den Holocaust. Zu brutal und traumatisierend
könnte das für die Schüler sein, sagt eine Zürcher Lehrerin. Dabei hiess es
doch nach 1945: «Nie wieder!» Die Nazidiktatur und ihre Millionen Opfer sollten
niemals in Vergessenheit geraten, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Doch Nationalismus und Fremdenhass sind mittlerweile wieder salonfähig
geworden. Die Erinnerungen an die beiden Weltkriege und an die autoritären
Regime in Europa sind offenbar verblasst.
Tatsächlich
ist der Wissensstand der Jungen in Sachen Geschichte zum Teil prekär. «Ich bin
schon froh, wenn alle Studenten wissen, dass die Reformation vor der
Französischen Revolution stattgefunden hat», sagt Caspar Hirschi, Professor für
Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Der Zürcher SP-Kantonsrat
und Gymnasiallehrer Markus Späth stellt fest: «Die Lernziele für die
Sekundarschule sind derart vage, dass jeder Lehrer seine eigenen Schwerpunkte
setzen kann und muss.» Das führe im Fach Geschichte zu Schwierigkeiten beim Wechsel
der Schüler von der Sek ans Gymi. Besonders problematisch sei das geringe
Wissen über die jüngere Geschichte, sagt Professor Hirschi: «Geschichte kann
nur eine gesellschaftlich relevante Rolle spielen, wenn sie ein besseres
Verständnis unserer Gegenwart ermöglicht.»
Was
läuft falsch? Ein Besuch im Zürcher Schulhaus Neumünster bei der dritten
Sekundarklasse von Lehrerin Isabella Caballero. Die 23 Schülerinnen und Schüler
diskutieren gerade über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Für den
Zweiten Weltkrieg und die Ereignisse danach bleiben gerade noch fünf Monate.
Selbstverständlich werde sie auch den Holocaust behandeln, sagt Caballero.
Falls ein Schüler die Bilder als zu heftig empfinde, dürfe er das Klassenzimmer
verlassen. Das hat sie in sechs Jahren einmal erlebt. Sie hofft, mit ihrer
Klasse bis Ende Schulzeit noch zum Fall der Berliner Mauer 1989 zu kommen. Ein
ehrgeiziges Ziel. Der Vietnamkrieg, Srebrenica und die Terroranschläge von New
York sind definitiv nicht mehr drin.
Das
Dilemma mit der Vermittlung der Geschichte an unsere Jungen lässt sich grob
gesagt in drei Aspekte gliedern: zu wenig Zeit, zu viel Stoff – und
Grabenkämpfe zwischen Faktenfetischisten und Kompetenzgurus.
Im
Vordergrund der jüngsten Klagen von Historikern und Geschichtslehrern steht der
Abbau der Zeit für den Unterricht. Spätestens mit dem neuen Lehrplan 21, der
nun in den Deutschschweizer Kantonen eingeführt wird, verschwindet die
Geschichte definitiv aus den Stundentafeln und geht in der Oberstufe im neuen
Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» auf. Geschichtsdidaktiker
befürchten, dass der Geschichtsunterricht dadurch marginalisiert werde – auch
deshalb, weil man durch die Zusammenfassung von Geografie und Geschichte den
beiden Fächern keine fixen Stunden mehr zusichere. Das stimmt zwar, es ist aber
keine neue Erfindung der Lehrplanmacher. Der Trend zu übergreifenden
Fachbereichen hat schon viel früher eingesetzt. Bereits vor zehn Jahren haben
nur noch 6 der 21 Deutschschweizer Kantone in den Stundentafeln Geschichte und
Geografie separat aufgeführt.
Schleichender
Abbau
Historisch
betrachtet verliert das Fach schleichend, aber nicht dramatisch an Platz. Das
zeigt eine Nationalfondsstudie, die im Frühling publiziert wird. Karin Manz hat
dafür am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich die
Entwicklung des Bereichs Realien seit 1830 erforscht. «Der Anteil der Realien
an der gesamten Unterrichtszeit ist über die untersuchte Zeitdauer leicht
rückläufig», sagt die ehemalige Sekundarschullehrerin. Unter Realien
zusammengefasst sind Geschichte, Geografie, Naturkunde, Lebenskunde,
Staatskunde, Berufskunde. Im Kanton Zürich beanspruchte dieser Bereich 1960 in
der Oberstufe gut 19 Prozent der Unterrichtszeit, 2010 lag der Anteil bei 16
Prozent.
Im
Lehrplan 21 wird wiederum mit einer leichten Reduktion der Lektionenzahl
gerechnet. Manz versteht die Kritik der Geschichtsdidaktiker als
Ausdruck eines Verteilkampfes innerhalb dieses Konglomerats. «Es ist die Angst,
von anderen Themen an die Wand gedrängt zu werden.» Tatsächlich steht die
Geschichte als Teil eines Fachbereichs schon länger unter Druck. Je nach
Schulhaus erscheint Geschichte zwar noch separat auf den Stundenplänen,
anderenorts ist sie bereits verschwunden.
Christian
Thörig unterrichtet eine erste Sekundarklasse im Zürcher Schulhaus Döltschi.
Geschichte fällt bei ihm unter das Fach «Mensch und Umwelt», für das
wöchentlich sechs Lektionen reserviert sind. Neben Geschichte muss der Lehrer
in diese sechs Lektionen auch Geografie, Physik, Chemie, Biologie und
Berufskunde packen. «Zusätzlich dazu rechne ich Zeit für aktuelle Fragen ein,
wie vor kurzem die Wahlen in den USA», sagt Thörig. «Mit diesen sechs Lektionen
kommt man nirgends hin, man muss sich wirklich einschränken.» Natürlich würde
er mit den Schülern auch gerne über den Nahostkonflikt oder die jüngere
Balkangeschichte sprechen, damit sie aktuelle Meldungen in den Medien besser
verstehen. Dennoch fände er es wenig sinnvoll, in der ersten Sek schon mit dem
20. Jahrhundert in die Geschichte einzusteigen. 13-Jährige könne man mit den
Entdeckungen der Seefahrer noch begeistern. Beginne man gleich mit der jüngsten
Geschichte, gebe man die Trümpfe aus der Hand, mit denen man das Interesse der
15-jährigen Schüler in der dritten Sek wecken könne.
1600
Seiten Schulstoff
Das
Problem der Lehrerschaft liegt neben dem Zeitmangel in der schieren Fülle an
Stoff, aus dem sie auswählen können. Allein das heute im Kanton Zürich
verwendete Standard-Lehrmittel «Durch Geschichte zur Gegenwart» für die
Sekundarstufe umfasst vier Bände zu je fast 400 Seiten. Viele Oberstufen
überspringen den ersten Band von der Zeit der Entdeckungen bis zur
Französischen Revolution und beginnen mit der Industrialisierung und dem
Imperialismus im 19. Jahrhundert. Band vier reicht zwar bis in die jüngste
Vergangenheit mit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Irakkrieg, doch so weit
schaffen es die wenigsten. Spätestens beim Zweiten Weltkrieg kommen viele in
Zeitnot.
Genauso
umfangreich wie die Materialien sind auch die Anforderungen, die an den
Geschichtsunterricht gestellt werden. Und sie wachsen weiter. Im Lehrplan 21
lautet ein einziges Kompetenzziel: «Die Schüler können darlegen, warum das 20.
Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet wird.» Als zwingende Themen
werden aufgelistet: «Weltkriege, Faschismus, Kommunismus, Holocaust, Kalter
Krieg, Unabhängigkeitsbewegung, Globalisierung, Bürgerkrieg, Terrorismus».
Gymilehrer Markus Späth schüttelt den Kopf: «Alleine dafür brauche ich mit
einer Gymiklasse eineinhalb Schuljahre.» Und das ist nur eine von 44
Kompetenzstufen zur Geschichte an der Oberstufe. Die Wunschliste der
Lehrplanmacher können die Lehrer in den drei Sekundarschuljahren also nie und
nimmer erfüllen.
Das
war früher anders, sagt Forscherin Karin Manz. «Bis etwa 1970 gab es einen
ziemlich stabilen Geschichtskanon, der von der politischen Schweizer Geschichte
dominiert war», sagt sie. Damit wurde nicht nur Wissen gelehrt, vielmehr ging
es auch um die Vermittlung von Werten und Einstellungen. So paukten etwa die
Lehrer im Kanton Schwyz noch bis in die siebziger Jahren mit ihren Schülern als
Geschichtslehrmittel ein Lesebuch durch. Jeder Bub und jedes Mädchen sollte
damit einen identischen Blick auf die Vergangenheit erhalten. Das Fach
Geschichte war lange in erster Linie ein Gesinnungsfach. Dorthin will kaum ein
Historiker zurück. Solche Forderungen kommen höchstens vonseiten jener, die
bemängeln, dass nicht mehr alle Schüler sämtliche Schlachten der Eidgenossen
auswendig aufzählen können. Die Kritik dieser Faktenfetischisten am Zerfall des
Wissens der jungen Schweizer wird oft verwechselt mit der Kritik der Experten
am Bedeutungsverlust des Fachs Geschichte.
Dabei
geht die neue Geschichtsdidaktik längst nicht mehr davon aus, dass die ganze
Stofffülle in der Schule behandelt werden muss. «Es braucht kein komplettes
Bild von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Solche Ideen sind unsinnig», sagt
Béatrice Ziegler, Präsidentin der Deutschschweizer Gesellschaft für
Geschichtsdidaktik. Natürlich brauche es ein gewisses Basiswissen, und natürlich
brauche es Fakten und Informationen, um ein Thema zu verorten. Im Mittelpunkt
des modernen Geschichtsunterrichts stehe aber das historische Denken. Zum
Beispiel könne ein Lehrer mit seinen Schülern einen Mittelaltermarkt besuchen
und dann mit ihnen diskutieren, wie viel dieser wirklich mit dem Mittelalter
gemein habe. «Wir wollen die Schülerinnen und Schüler zu mündigen Menschen im
Umgang mit Geschichte machen», sagt Ziegler.
Die
Jungen müssten lernen, wie Geschichte gemacht werde und welche Werte und
Interessen mit dem Erzählen von Geschichte verbunden seien. Das sei wichtig im
Umgang mit Populismus – und viel wirksamer als reines Faktenwissen. «Aber dafür
braucht es Zeit», sagt Ziegler. Und diese fehle eben zusehends.
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