Wissenschaftlich geschulte Experten, zentrale Steuerung und
professionelle Führung prägen die Entwicklung im Schulbereich zunehmend. Die
öffentliche Schule ist aber mehr als eine pädagogische Veranstaltung.
Ohne Politik keine Volksschule, NZZ, 10.1. von Walter Bernet
Die Schule missachtet die Bedürfnisse der Knaben sträflich. Diese
brauchen mehr Handarbeit und Werken statt einer zweiten Fremdsprache in der
Primarschule. Und wenn sie älter werden, hilft ihnen Naturwissenschaft und
Technik mehr als ein eher den Mädchen gerecht werdender Sprachunterricht. Diese
Diagnose ist in den laufenden Diskussionen um die Volksschule oft zu hören. Sie
ist nicht ganz falsch. Offen ist aber, ob mehr Handwerk und weniger Sprache die
wirksamsten therapeutischen Massnahmen sind. Diagnosen wie diese sind
zahlreich. Die Widersprüche unter ihnen sind es auch. Kindgerecht soll die
Schule sein. Wer würde nicht zustimmen? Jedem Kind könne die Schule nicht
gerecht werden, heisst es aber, wenn die Forderung nach freier Schulwahl
begründet werden soll. Es waren am Ende die Stimmbürger verschiedener Kantone,
die diesem Anliegen vor wenigen Jahren eine wuchtige Absage erteilten.
Babylonische Verhältnisse
Eine neue Welle von Abstimmungen über bildungspolitische
Volksinitiativen rollt derzeit durch die Deutschschweiz. Sie sind das Echo auf
die Harmonisierung der kantonalen Volksschulen mit dem Sprachenkompromiss von
2004 – Fremdsprachenunterricht ab der 3. und der 5. Klasse der Primarschule –
und dem in Einführung begriffenen Lehrplan 21. Bisher hat die real existierende
Volksschule trotz allen Kontroversen eine erstaunliche Beständigkeit bewiesen.
Das gilt auch für das neue Zeitalter der Wutbürger, Kampfeltern und Shitstorms.
Zuletzt haben 70 Prozent der St. Galler Stimmenden die Fremdsprachendebatte mit
einem Ja zum Verbleib im Harmos-Konkordat mindestens vorläufig beendet. Noch
grössere Mehrheiten fanden sich in Schaffhausen und im Thurgau gegen das
Ansinnen, den Lehrplan 21 vor das Parlament und allenfalls das Volk zu bringen.
Im Februar stimmt der Aargau über den Lehrplan 21 ab, im Mai der Kanton Zürich
über die zweite Fremdsprache.
An Podiumsdiskussionen dazu wähnt man sich oft in Babylon. Kinderärzte,
Psychologen, Pädagogen, Eltern, aktive und pensionierte Lobbyisten, Politiker
und – selten – Lehrer präsentieren ihre Befunde und ihre Lösungen, ohne ein Ohr
für andere und den Blick fürs Ganze zu haben. «Schade, dass die zürcherische
Politik die berechtigten Anliegen der Lehrerschaft punkto
Fremdsprachenunterricht einfach negiert», stellte der Zürcher Lehrerinnen- und
Lehrerverband (ZLV) nach der Ablehnung seiner Volksinitiative durch den
Kantonsrat fest. Offenbar ist man sich über die Berechtigung des Anliegens,
sich in der Primarschule auf eine Fremdsprache zu beschränken, nicht einig. Wer
liegt richtig?
Die Fremdsprachenfrage ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Frage
nicht so einfach zu beantworten ist. Die naheliegende Antwort lautet: «Nur wenn
es pädagogisch Sinn ergibt, ist eine zweite Fremdsprache für Primarschüler
legitim. Die Politik soll sich so lange heraushalten, als ihre Forderung nach
Unterricht in einer zweiten Landessprache am Ende der obligatorischen Schulzeit
erfüllt wird.» Dass Mittelstufenlehrern der Ertrag ihres Französischunterrichts
angesichts des Aufwands bescheiden erscheint, ist nachvollziehbar. Eltern aber
sind schon stolz, wenn ihr Sprössling in den Ferien für sie mit Erfolg einen
Café au Lait bestellen kann. Auch was pädagogisch als sinnvoll erachtet wird,
hängt von der Perspektive ab. Umso erstaunlicher ist es, dass der ZLV nicht in
erster Linie mit den Erfahrungen der Praktiker argumentiert – diese sind
vielleicht zu uneinheitlich –, sondern mit ausgewählten Studien von
Wissenschaftern, einer Gruppe, welcher Lehrer sonst gerne Praxisferne
vorwerfen. Entstanden ist daraus ein Hickhack zwischen Lehrern und
Erziehungsdirektoren um die richtige Interpretation und Bewertung von Studien.
In einem auf privater Basis getragenen Schulsystem läge der Entscheid am
Ende aber weniger bei den Lehrern als vielmehr bei den Eltern. Sie wählten die
Schule ihrer Wünsche für ihre Kinder aus. Hierzulande ist der Konsens – siehe
Volksabstimmungen der letzten Jahre – aber gross, dass mindestens die
elementare Bildung ein öffentliches Gut und dementsprechend auch öffentlich zu
verhandeln sei. Konfliktfrei ist das nie gegangen. Entstanden ist die moderne laizistische
Volksschule als liberales Projekt, das gegen konservativen Widerstand erkämpft
werden musste und darauf abzielte, Jugendliche zu selbständigen Arbeitskräften,
Stimmbürgern und Soldaten zu erziehen. Ihre heutige Akzeptanz als zentrale
Bildungseinrichtung und ihre erstaunliche Stabilität verdankt sie ihrer tiefen
Verankerung in einem dichten Geflecht von Akteuren aus Profession und Miliz,
kulturellen Traditionen in Stadt und Land sowie gesellschaftlichen Erwartungen.
Entsprechend resistent war sie stets gegen zu kühne Reformen und Versuche einer
zentralen Steuerung. So war der kantonale Schulinspektor eine Reizfigur,
derentwegen 1872 ein neues Schulgesetz scheiterte. Für Jahrzehnte blieb die
Volksschule eine rein lokale, nicht von einem kantonalen Schulinspektor,
sondern von (Bezirks-)Schulpflegen beaufsichtigte Institution.
Die Macht der Experten
Erst der beschleunigte wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel ab
den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts führte zum Ruf nach einer
Entwicklung der Volksschule, die bereits damals nicht mehr ohne Zuhilfenahme
von wissenschaftlichen Erkenntnissen, von Expertenwissen denkbar war. Erst nach
2000 nahm dieser Trend eine neue Dimension an. Die Schulen entwickelten sich zu
professionell geführten, teilautonomen Gebilden, ihre zentrale Steuerung wurde
zur Sache von Experten in der Verwaltung. Die neu gegründeten pädagogischen
Hochschulen nahmen ihre gesetzliche Verpflichtung ernst, Forschung zu betreiben
und Dienstleistungen zu erbringen. Zudem nahmen überkantonale Vereinbarungen
und international verbreitete Vorstellungen von Schulführung Einfluss auf die
Ausgestaltung des Volksschulwesens. Öffentliche Debatten über die Schule sind
davon nicht unberührt geblieben. Wer in der Frage der Fremdsprachen richtig
liegt, entscheiden zwar am Ende nicht Experten, sondern der kantonale Souverän,
aber im Wissen darum, dass er unter Umständen geltende Abkommen zwischen den
Kantonen verletzt und den eigenen Kanton politischem Druck aussetzt. Wie
gespannt das Verhältnis zwischen Praktikern aus der Schule, politischen
Akteuren und Bildungsexperten aus Hochschulen und Verwaltung sein kann, zeigen
die Querelen um den Lehrplan 21.
Die Professionalisierung der Führungsstrukturen und die nicht zu
leugnende Expertokratie im Schulbereich bringen die Gefahr mit sich, dass
namentlich Entscheide zur Organisation und Entwicklung der Schule der
vertrauten öffentlichen Debatte entzogen werden. So hat in Zumikon zwar die
Schulpflege den Entscheid über die Abschaffung des altersdurchmischten Lernens
getroffen, aber unter massgebender Mitarbeit des neuen Schulleiters. Die
Lehrerschaft hat dafür wenig Verständnis aufgebracht, zählt sie doch
Schulentwicklung im Rahmen der teilautonomen Volksschule zu einer ihrer
Kernaufgaben, in die sie sich nur ungern dreinreden lässt. Entsprechend bietet
die Pädagogische Hochschule Zürich ihre Expertenhilfe nicht der Öffentlichkeit,
sondern den einzelnen Schulen an. Von Kindern und Eltern war in Zumikon wenig
die Rede – eine Elterngruppierung hat allerdings mit einer Petition Druck
gemacht.
Welche Fragen in den Kompetenzbereich der kantonalen Politik, welche in
jenen von Expertengremien gehören und welche lokal zu lösen sind, ist zwar
gesetzlich geregelt. Die laufenden Volksinitiativen können durchaus als Proben
aufs Exempel gesehen werden, als Realitäts-Check für diese Regeln angesichts
der Verschiebungen im Verhältnis zwischen Politik, Schule, Bildungsverwaltung
und Wissenschaft. Verliert die Öffentlichkeit mit ihrem auf Durchsetzung und
Abgleich von Interessen ausgerichteten Diskurs tatsächlich an Einfluss auf die
Schule? Sind die wissenschaftlich geprägten Dienst- und Steuerungsleistungen
der Zentralen politisch wirklich so neutral, wie es ihre Erbringer glauben?
Erst das Bestehen in der politischen Debatte gibt der Volksschule ihre
Legitimation und sichert das Vertrauenskapital, über das sie nach wie vor
verfügt. Es hängt nicht zuletzt von einer vernünftigen Gesprächskultur zwischen
Experten, Schulpraktikern und Öffentlichkeit ab. Da gibt es recht viel Luft
nach oben. Die Volksschule darf nicht zur Klinik der Gesellschaft werden, in
der Eltern und Kinder wie Patienten im Spital der geballten Expertise der
Fachleute ausgesetzt sind und wenig mehr als Danke sagen können.
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