Schwänzen ist nicht mehr und Mama und Papa wissen
nun alles. Was für Pädagogen, die besser Polizisten hätten werden sollen und
für Helikoptereltern nach einer guten Nachricht klingt, ist eigentlich
himmeltraurig.
Ein neues Werkzeug zum Petzen, Basellandschaftliche Zeitung, 21.1. Kommentar von Anna Jungen
SAL, die Schuladministrationslösung: Was
technokratisch klingt und eine Lösung verspricht, kann auch zur Überwachung der
Schülerinnen dienen und verleitet die Lehrpersonen zum Rätschen. Das
Administrationstool, das seit letztem August an den Baselbieter Sekundarschulen
obligatorisch ist, verlangt von den Lehrern, dass sie alle Noten und Absenzen
der Schülerinnen sofort eintragen. Und: Die Eltern haben Zugriff auf die Daten
ihrer Jugendlichen. Klar, so eine SAL kann man praktisch finden und mit solchen
Argumenten wurde es auch eingeführt: Schaut her, nun könnt ihr online den
Computerraum reservieren! Toll!
Aber Überwachung kommt immer freundlich daher und
die Freundlichkeit kann sich als Trojanisches Pferd erweisen. SAL enthält
nämlich auch eine besonders fragwürdige Spalte: Beobachtungen. Da können
Lehrkräfte vermerken, wie sich Jan denn heute so angestellt hat in der Schule.
Auch das können sich die Eltern von Jan ansehen, sofern die Lehrperson den
Kommentar freigegeben hat. Du hast mit Deinem Banknachbar geredet?! Wehe Dir,
das schreib ich auf!
Lehrerinnen, die schon immer lieber über ihre
Schüler gelästert haben, statt deren guten Ruf zu verteidigen, haben nun das
passende Tool und die Legitimation von ganz oben dazu. Noch ist das Ausfüllen
der Beobachtungsspalte freiwillig und nur die besonders zum Denunziantentum
neigenden Lehrer schreiben da bisher rein. Lehrkräfte, die in vorauseilendem
Gehorsam jede Spalte ausfüllen würden, wahrscheinlich auch wenn nach der
vermuteten sexuellen Orientierung gefragt würde. Dürfte die Eltern schliesslich
auch brennend interessieren. Die mühsamen Seiten der Schüler werden nun also
nicht mehr einfach im Lehrerzimmer besprochen und gehen dann vielleicht auch
wieder vergessen. Nein, jetzt kann es einen offiziellen Eintrag geben, den Mama
und Papa sofort per Mausklick anschauen kann. Liebloser geht immer.
Bisher ist das Ausfüllen dieser Beobachtungsspalte
freiwillig. Was aber, wenn das im kommenden Sommer schon anders ist? Das läuft
doch meistes so. Gilt es, etwas Heikles neu einzuführen, dann ist es erst mal
freiwillig. Irgendwann hat man sich an den Gedanken gewöhnt, dass es da so eine
Beobachtungsspalte gibt und dann stört es einen auch nicht mehr, wenn das
Ausfüllen obligatorisch wird.
Die reine Existenz dieser Spalte ist doch schon ein
Hinweis darauf, dass sie künftig bitte auch genutzt werden soll. Warum wäre sie
sonst da? Verwaltungen machen nicht einfach so Spalten aus Freude an Spalten.
Die Verwaltung ist schliesslich nicht die Clownschule – was die sich ausdenken,
soll früher oder später auch Ergebnisse liefern.
Und wenn es dann obligatorisch ist, könnte es
plötzlich heissen, dass man bei Bewerbungen für eine Lehrstelle dem Zeugnis
auch noch den PDF-Ausdruck des eigenen SAL-Dossiers beilegen muss. Dann sind
das häufige Schwatzen mit dem Banknachbarn, das aus dem Fenster gucken und das
hin und wieder Schwänzen nicht mehr tempi passati, Strich drunter und neu
anfangen. Nein, dies ist dann festgehalten im unerbittlichen Gedächtnis, in das
nun auch der Lehrmeister Einblick hat.
Ja, das ist Zukunftsmusik. Aber schon heute sind
die Baselbieter Schüler ein Stück gläserner geworden. Eltern sehen sofort,
welche Note ihr Sohn im Mathetest hatte, ob er in Geo zu häufig schwatzte oder
ob die Tochter überhaupt in der Schule war. Nun könnte man achselzuckend
fragen, wo denn das Problem sei? Man kann die Jungen ja gar nicht früh genug an
die systematische Überwachung und Sanktionierung gewöhnen. Man könnte aber auch
die Pubertät verteidigen als Phase mit eigenen Gesetzen, irgendwo zwischen
ultracool und hochsensibel.
Eine Phase, die zu schützen ist vor dem Zugriff der
totalen Kontrolle durch Lehrkräfte oder Eltern. Und in Zeiten, in denen es als
progressiv gilt, als Schule selbst orientiertes Lernen zu praktizieren und
somit den Schülerinnen ständig vorzugaukeln, sie selbst steuerten ihren
Lernprozess, sie selber setzten sich ihre Lernziele, da entbehrt es nicht einer
gewissen Ironie, dass diese gleichzeitig so streng überwacht werden wie nie
zuvor. Man nennt das in der Psychologie glaubs Doublebind. Soll ungesund sein.
Und wenn jetzt Eltern sofort sehen, ob ihre Töchter
und Söhne in der Schule waren, dann ist nichts mehr mit Schwänzen. Und Hand auf
Herz, hin und wieder schwänzen war eines meiner Highlights in der Schulzeit.
Unterschriften der Eltern nachahmen und sich ureigene Zeit verschaffen, ein
kleines Stück Freiheit verteidigen. Die List und Abendteuerlust gewinnt gegen
den sanktionierenden Zugriff jener, die dir ständig sagen: «Tu dies!», «Lass
jenes!». Schwänzen ist in erster Linie ein Gefühl. An einem
Donnerstagnachmittag statt in der Geo am Rhein oder auf einem Dach zu sitzen
und dort tun und lassen, was man will und mit wem man will, ist wirklich schön.
Und Schwänzen lehrt einen Handlungsmacht, es lehrt
auch solidarisch zu sein, seine Gspänli nicht zu verraten, aber auch nicht dann
zu schwänzen, wenn die Gspänli auf einen angewiesen sind. Hängen lassen gilt
nicht. Und wenn es doch auskommt: Hinstehen, sich entschuldigen und die Strafe
absitzen.
Nun aber wissen die Mütter oder die Mütter der
Freunde, dass ihre Töchter oder die Freunde der Töchter nicht in der Geo waren,
noch bevor sich jemand eine Ausrede hätte einfallen lassen können, für sich
selber oder für seine Gspänli. War die Botschaft der Schule – neben all den
humanistischen Botschaften – schon immer auch: Spuren sollst du! Dann ist diese
Botschaft im Baselbiet nun lauter als je zuvor.
Liest man in der Schule eigentlich noch Orwell?
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