21. Dezember 2016

Zauberwort "Kompetenz"

Befasst man sich zurzeit mit unserem schweizerischen Schulwesen, so stolpert man unweigerlich über den Begriff Kompetenz. Es ist das neue Zauberwort, das die Lehr- und Studienpläne umkrempeln soll. Die Kompetenztheorie ist die Grundlage für die teilweise grotesken Bewertungsbögen, die selbst Kindergärtnerinnen für jedes Kind ausfüllen müssen, und für die standardisierten Tests, die zunehmend in der Kritik der Lehrkräfte stehen.
Der neue Lehrplan ist ein Blindenführer, Thurgauer Zeitung, 20.12. von Mario Andreotti


Auch Wissenschaftler kritisieren die Kompetenzorientierung im Bildungswesen. Einer der Prominentesten ist Konrad Paul Liessmann, Philosophieprofessor an der Universität Wien. In seinem 2014 erschienenen Buch «Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung» erklärt er, woher die Kompetenzorientierung stammt: nicht etwa aus der Pädagogik, sondern aus der Ökonomie. In der Wirtschaft wurden Modelle entwickelt, um die Arbeitsleistungen von Mitarbeitenden messbar und vergleichbar zu machen und so deren Einsatz im Unternehmen zu optimieren. Genau diesen Gedanken verfolgt laut Liessmann nun auch das Bildungswesen: Alles, was Schüler lernen, muss unmittelbar brauchbar sein, damit sie erfolgreich Probleme lösen können. Statt in der Schule nur totes Wissen zu pauken, soll doch, so die neue Doktrin, das gelernt werden, was zur Lebenswelt der Schüler gehört, «was mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist». Wozu sich also noch mit so «unnützen» Dingen wie Platons Höhlengleichnis oder Goethes Naturbegriff beschäftigen?

Auf die Spitze getrieben wird die Kompetenztheorie im Lehrplan 21. Der neue Lehrplan wurde im November 2014 veröffentlicht und soll in den kommenden Jahren in den deutschsprachigen Kantonen eingeführt werden. Er ist 470 Seiten lang und listet über 2000 Kompetenzstufen auf. Früher war der Lehrplan für die Lehrkräfte ein Wegweiser, heute ist er ein Blindenführer, ohne den sie keinen Schritt mehr machen dürfen. Das führt dazu, dass jede noch so selbstverständliche Fähigkeit wie «Die Schülerinnen und Schüler können ihre Aufmerksamkeit auf sprechende Personen und deren Beitrag richten» benannt werden muss. Und zu kaum verständlichen Zielvorgaben wie: «Die Schülerinnen und Schüler können in kooperativen Situationen über ihre Texte ihr Repertoire an Schreibstrategien reflektieren und ausbauen.» Oder gar zu so absurden Formulierungen wie jene im standardisierten Lernbericht für den Kindergarten, in dem Kinder wie Arbeitnehmer behandelt werden: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig» und «Das Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt.»
Doch was Kompetenzen genau sind und inwiefern sie den Unterricht verändern werden, darüber streitet man sich selbst in Fachkreisen. Sicher ist nur eines: Die Kompetenzorientierung ist auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet und nicht auf die der Kinder. Das gilt insbesondere für den Lehrplan 21. Anstatt den Schülern eine breite Bildung zu vermitteln, werden sie auf das Lösen von standardisierten Prüfungsaufgaben getrimmt, vergleichbar den Kreuzchentests für den Fahrausweis: Büffelt man die Fragen auswendig, dann besteht man.


Hinter all dem steckt die Vorstellung der Bildungspolitiker, Wissen sei ein Luxus, der sportliche Bedürfnisse befriedige, im besten Fall ein bisschen Prestige bringe, aber im Alltag kaum verwertbar sei. Was heute zähle, sei nicht Wissen, sondern Kompetenz, lautet ihr Mantra. Gefragt sei nicht Bildung, verlangt seien konkrete Fähigkeiten. Die Welt gehört nicht dem, der weiss, sondern dem, der kann. Und wenn man doch etwas wissen muss: Google macht’s leicht. Ein paar Mausklicks genügen, und man hat das Wissen der ganzen Welt auf dem Bildschirm. Darum sollen Schüler und Studenten kein unnötiges Wissen anhäufen, sondern lernen, wie man sich Wissen beschafft. Von dieser Haltung ist auch der Lehrplan 21 durchdrungen. Ein erstaunliches Credo für eine Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft bezeichnet und Bildung als ihren wichtigsten Rohstoff preist. 

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