Befasst
man sich zurzeit mit unserem schweizerischen Schulwesen, so stolpert man
unweigerlich über den Begriff Kompetenz. Es ist das neue Zauberwort, das die
Lehr- und Studienpläne umkrempeln soll. Die Kompetenztheorie ist die Grundlage
für die teilweise grotesken Bewertungsbögen, die selbst Kindergärtnerinnen für
jedes Kind ausfüllen müssen, und für die standardisierten Tests, die zunehmend
in der Kritik der Lehrkräfte stehen.
Der neue Lehrplan ist ein Blindenführer, Thurgauer Zeitung, 20.12. von Mario Andreotti
Auch
Wissenschaftler kritisieren die Kompetenzorientierung im Bildungswesen. Einer
der Prominentesten ist Konrad Paul Liessmann, Philosophieprofessor an der
Universität Wien. In seinem 2014 erschienenen Buch «Geisterstunde. Die Praxis
der Unbildung» erklärt er, woher die Kompetenzorientierung stammt: nicht etwa
aus der Pädagogik, sondern aus der Ökonomie. In der Wirtschaft wurden Modelle
entwickelt, um die Arbeitsleistungen von Mitarbeitenden messbar und
vergleichbar zu machen und so deren Einsatz im Unternehmen zu optimieren. Genau
diesen Gedanken verfolgt laut Liessmann nun auch das Bildungswesen: Alles, was
Schüler lernen, muss unmittelbar brauchbar sein, damit sie erfolgreich Probleme
lösen können. Statt in der Schule nur totes Wissen zu pauken, soll doch, so die
neue Doktrin, das gelernt werden, was zur Lebenswelt der Schüler gehört, «was
mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist».
Wozu sich also noch mit so «unnützen» Dingen wie Platons Höhlengleichnis oder
Goethes Naturbegriff beschäftigen?
Auf die
Spitze getrieben wird die Kompetenztheorie im Lehrplan 21. Der neue Lehrplan
wurde im November 2014 veröffentlicht und soll in den kommenden Jahren in den
deutschsprachigen Kantonen eingeführt werden. Er ist 470 Seiten lang und listet
über 2000 Kompetenzstufen auf. Früher war der Lehrplan für die Lehrkräfte ein
Wegweiser, heute ist er ein Blindenführer, ohne den sie keinen Schritt mehr
machen dürfen. Das führt dazu, dass jede noch so selbstverständliche Fähigkeit
wie «Die Schülerinnen und Schüler können ihre Aufmerksamkeit auf sprechende
Personen und deren Beitrag richten» benannt werden muss. Und zu kaum
verständlichen Zielvorgaben wie: «Die Schülerinnen und Schüler können in
kooperativen Situationen über ihre Texte ihr Repertoire an Schreibstrategien
reflektieren und ausbauen.» Oder gar zu so absurden Formulierungen wie jene im
standardisierten Lernbericht für den Kindergarten, in dem Kinder wie
Arbeitnehmer behandelt werden: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und
vollständig» und «Das Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem
Produkt.»
Doch was
Kompetenzen genau sind und inwiefern sie den Unterricht verändern werden,
darüber streitet man sich selbst in Fachkreisen. Sicher ist nur eines: Die
Kompetenzorientierung ist auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet und
nicht auf die der Kinder. Das gilt insbesondere für den Lehrplan 21. Anstatt
den Schülern eine breite Bildung zu vermitteln, werden sie auf das Lösen von
standardisierten Prüfungsaufgaben getrimmt, vergleichbar den Kreuzchentests für
den Fahrausweis: Büffelt man die Fragen auswendig, dann besteht man.
Hinter
all dem steckt die Vorstellung der Bildungspolitiker, Wissen sei ein Luxus, der
sportliche Bedürfnisse befriedige, im besten Fall ein bisschen Prestige bringe,
aber im Alltag kaum verwertbar sei. Was heute zähle, sei nicht Wissen, sondern
Kompetenz, lautet ihr Mantra. Gefragt sei nicht Bildung, verlangt seien
konkrete Fähigkeiten. Die Welt gehört nicht dem, der weiss, sondern dem, der
kann. Und wenn man doch etwas wissen muss: Google macht’s leicht. Ein paar
Mausklicks genügen, und man hat das Wissen der ganzen Welt auf dem Bildschirm.
Darum sollen Schüler und Studenten kein unnötiges Wissen anhäufen, sondern
lernen, wie man sich Wissen beschafft. Von dieser Haltung ist auch der Lehrplan
21 durchdrungen. Ein erstaunliches Credo für eine Gesellschaft, die sich als
Wissensgesellschaft bezeichnet und Bildung als ihren wichtigsten Rohstoff
preist.
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