8. Dezember 2016

PISA zeigt weiterhin Nachholbedarf bei der Chancengerechtigkeit

Unisono kritisieren Vertreter der EDK, der Bildungsforschung und der Lehrerverbände die vorgestern veröffentlichten Resultate der jüngsten PISA-Studie. Dabei wird auch mehr oder weniger laut über eine Umlenkung der finanziellen Mittel nachgedacht: Weg von PISA, hin zu den nationalen Vermessungsgrössen, sprich Wolter oder Moser. Ob dies angesichts deren Nähe zur Bildungspolitik klug ist, bleibt jedoch unbeantwortet. (uk)
Lilo Lätzsch, die Präsidentin des ZLV, sieht Nachholbedarf, Bild: Doris Fanconi
"Wir müssen uns fragen, ob die Pisa-Studie das Geld noch wert ist", Tages Anzeiger, 7.12. von Marisa Eggli


Die Pisa-Studie vergleicht alle drei Jahre die Leistung von Schülern und erhält international viel Beachtung. Welche Schlüsse ziehen Sie aus der diesjährigen Studie?
Für mich sind zwei Dinge wichtig: Die Resultate der Studie sind für die Schweiz nach wie vor sehr gut. Das freut mich. Es zeigt, dass unsere Schulen funktionieren. Allerdings ist die Pisa-Studie kein Skirennen mit einer internationalen Rangliste. Sie zeigt lediglich auf, wo es Schwachpunkte gibt und wo die Schülerinnen und Schüler stark sind. Gegenüber der jüngsten Pisa-Studie bin ich aber durchaus auch kritisch eingestellt.

Inwiefern?
Der Pisa-Studie 2015 liegt eine neue Methodik zugrunde, die merkwürdig scheint. Sie geht zum Beispiel davon aus, dass in der Schweiz plötzlich zehn Prozent mehr Kinder mit Migrationshintergrund leben. Woher kommt diese Zahl? Von diesen offenen Fragen gibt es viele. Deshalb finde ich, die Schweiz muss sich ernsthaft fragen, ob die Studie das Geld noch wirklich wert ist.

Was schlagen Sie vor? Keinen Test?
Jahrelang scheuten wir uns vor Tests, die die Leistung vergleichen. Inzwischen scheint mir, wir haben zu viele davon. Der Schulalltag umfasst viel mehr als Bildungsstoff. Er schult zum Beispiel auch in Sozialkompetenz. Solche Eigenschaften werden in Studien wie dem Pisa-Test kaum berücksichtigt. Um zu sehen, wie gut die Schweizer Schulen sind, müssten wir sowieso andere Tests machen. Unser Gradmesser ist, wie die Schülerinnen und Schüler später im Berufsleben bestehen. In diesem Punkt ist die Schweiz mit der sehr tiefen Jugendarbeitslosigkeit gut dran.

Von Wirtschaftvertretern tönt es jeweils anders. Sie monieren, dass die Jugendlichen zu wenig fit sind für das Arbeitsleben.
Diese Kritik hören wir seit Jahren, gar Jahrzehnten immer wieder. Jede Jugend ist jene, die am schlechtesten erzogen und dazu am faulsten ist.

Die jüngste Pisa-Studie zeigt: Schweizer 15-Jährige sind Spitze in der Mathematik, doch beim Lesen hapert es. Wieso?
Die Leseschwäche kann ich mir leider nicht erklären. Die Schulen haben in diesem Bereich viel unternommen, seit eine der ersten Pisa-Studien zeigte, wie schlecht die Jugendlichen lesen können. Dennoch mangelt es oft daran, einen gelesenen Text auch wirklich zu verstehen. Das erlebe ich mit Schülerinnen und Schülern im Alltag. Wenn ich sie einen Text lesen lasse und anschliessend Kontrollfragen stelle, fällt es ihnen schwer, diese zu beantworten. Da frage ich mich grundsätzlich: Unterrichten wir die deutsche Sprache zu wenig?

Die Resultate in Mathematik und den Naturwissenschaften sind viel besser. Hat Sie das überrascht?
In diesen Fächern sind die Schülerinnen und Schüler oft sehr stark. Besorgniserregend finde ich jedoch, dass rund 20 Prozent von ihnen in Mathematik ein grosses Defizit haben. In diesem Bereich müssten die Schulen unbedingt mehr machen und die Schwachen fördern.

Die Pisa-Studie spricht auch das Problem der Chancengleichheit an. Im Ländervergleich steht die Schweiz schlecht da.
Bei diesem Thema sind wir tatsächlich in der Steinzeit. Bisher schaffen wir es nicht, das Niveau zwischen sehr guten und sehr schwachen Schülern auszugleichen. Im Gegenteil: Bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit wächst der Graben zwischen guten und schwachen Schülern – die guten sind am Schluss sehr viel besser und die schwachen haben nicht aufgeholt. Hier müsste in der Schweiz unbedingt viel mehr gemacht werden. Ein Lichtblick ist hingegen, dass es zum Beispiel im Kanton Zürich 21 verschiedene Wege gibt, einen Hochschulabschluss zu machen. Das heisst, auch eine schwache Schülerin kann später noch eine höhere Ausbildung machen.

Was müsste getan werden, damit die Chancengleichheit besser wird?
Die schwachen Schülerinnen und Schüler brauchten zum Beispiel mehr Aufgabenhilfe, mehr Möglichkeiten, ihre Lese- und Rechenfähigkeiten zu verbessern. Im Kanton Zürich gibt es zum Beispiel das Projekt «ALLE». Daran beteiligen sich mehrere Schulen im Kanton, die spezielle Programme für lernschwache Schülerinnen und Schüler entwickeln. Diese sollen gezielt in Mathe und Deutsch gefördert werden.

Die jüngste Pisa-Studie stand im Vorfeld auch in der Kritik, weil sie zum ersten Mal mit Computern durchgeführt worden ist. Was halten Sie davon?
Ich finde es richtig, dass die Studie heute computerbasiert ist. Allerdings können noch längst nicht alle Jugendlichen gleich gut mit einem Computer umgehen. Hier gibt es von Schule zu Schule, von Gemeinde zu Gemeinde grosse Unterschiede. In vielen Klassenzimmern stehen heute noch kaum Computer. Das muss sich aber mit dem neuen Lehrplan 21 in den nächsten Jahren ändern.


1 Kommentar:

  1. Bereits bei Pisa 2009 hatte der Kanton Zürich 20% 15jährige Schüler mit ungenügenden Grundkenntnissen, die im Arbeitsmarkt kaum eine Stelle finden. Pisa 2015 zeigt, dass dies nun schweizweit über alle Fächern bei rund 20% der Schüler der Fall ist. Mit der Kompetenzorientierung und dem "selbstgesteuerten Lernen" beim Lehrplan 21 dürfte sich dies massiv verschlimmern, weil diese Methode nur etwa halb so effizient wie der bewährte Klassenunterricht ist und dadurch 50% weniger Stoff gelernt werden kann. Die Staaten, die die OECD-Kompetenzorientierung bereits eingeführt haben, sind bei Pisa 2015 noch weiter abgerutscht.

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