Der weltweit wichtigste Schülervergleichstest weise methodische Mängel auf, kritisieren Bund und Kantone. Anstatt die Resultate zu interpretieren, fordern sie die OECD zum Handeln auf.
Die Schweiz weigert sich, den Pisa-Test auszuwerten, Basler Zeitung, 7.12. von Raffaela Birrer
Eigentlich hätte die
Schweiz wenig Grund zur Klage: Die hiesigen Schüler sind in Europa Klassenbeste
– zumindest in der Mathematik. Im weltweiten Pisa-Vergleich, der 72 Länder und
über eine halbe Million Schüler umfasst, erreichen sie einen Platz unter den
ersten zehn. In den Naturwissenschaften, dem Schwerpunkt des Tests im Jahr
2015, liegen die Fähigkeiten der Schweizer 15-Jährigen ebenfalls über dem
OECD-Durchschnitt. Einzig bei den Lesekompetenzen liegt die Schweiz erneut nur
im Mittelfeld.
Und doch ist der Ärger bei
den Schweizer Pisa-Verantwortlichen gross: Weil die OECD ihre Erhebungsmethode
stark verändert habe, seien die Resultate des Jahres 2015 nicht mit den
früheren Ergebnissen vergleichbar, kritisierten Vertreter von Bund, Kantonen
und der Lehrerschaft an der gestrigen Medienkonferenz in Bern. So mussten die
Schüler den Test erstmals am Computer lösen – und durften dabei nicht zu Fragen
zurückkehren, sondern mussten sie fortlaufend beantworten. Das seien sie nicht
gewohnt, sagt Stefan C. Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle
für Bildungsforschung. «In Schweizer Schulen lernen die Kinder, zuerst die
ganze Prüfung anzuschauen, um die einfachen Aufgaben prioritär zu lösen.»
Die Forschung belege
zudem, dass Knaben bei computerbasierten Tests besser abschneiden als Mädchen.
Doch solche Effekte seien in der aktuellen Pisa-Studie nicht adäquat
berücksichtigt worden. «Wir wissen daher nicht: Messen wir hier die Computer-
oder tatsächlich die Naturwissenschaftskompetenzen?» Vergleichstests mit Papier
und Bleistift hätten in der Schweiz gezeigt, dass die Computerresultate
signifikant schlechter ausfielen, sagt Wolter.
Zu viele Migrantenkinder
Ein zweiter Kritikpunkt
betrifft die neue OECD-Stichprobe. Die Schweiz hat 6600 Schüler anhand dieser
modifizierten Vorgaben getestet; 2012 waren es noch 20’000 gewesen. Der Anteil
fremdsprachiger Jugendlicher nahm mit der Verkleinerung der Stichprobe um zehn
Prozentpunkte auf 31 Prozent zu, wie Wolter sagt. Die offizielle Statistik
weist hingegen keinen solchen Wandel aus. Es sei daher unklar, ob das Resultat
repräsentativ für die 15-Jährigen in der Schweiz sei, bemängelt Christoph
Eymann, Präsident der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Und
schliesslich hat die OECD wegen der Umstellung auf die Computertests auch die
Punkteskala neu geeicht. Die Differenz gegenüber der alten Skala beträgt minus
8 Pisa-Punkte – das entspreche etwa einem Vierteljahr Schulstoff, sagt Jürg
Brühlmann vom Schweizerischen Lehrerverband. «Wie diese Berechnungen zustande
kommen und welche Auswirkungen sie haben, ist völlig unklar.»
Schweiz ist bei der OECD
abgeblitzt
Fakt ist: Die Leistungen
der Schweizer Schüler sind im Vergleich zu 2012 in allen Bereichen schlechter
geworden. Die Lesekompetenzen sind gar wieder auf das Niveau von 2000
zurückgefallen, als die Pisa-Ergebnisse hierzulande einen Schock auslösten. Die
EDK will diese Resultate allerdings nicht bewerten, weil sie «schlicht nicht
interpretierbar sind», wie Eymann sagt. Wegen der methodischen Mängel
verzichtete die EDK sogar darauf, einen Bericht zu den Resultaten zu verfassen.
Und setzte stattdessen ein Schreiben an die OECD auf, in dem sie das «massive
Qualitätsproblem» und dessen «unabschätzbare Konsequenzen» kritisiert.
Hintergrund der dezidierten Worte ist das Verhalten der OECD: Mehrfach hatten
die Schweizer Pisa-Verantwortlichen ihre Vorbehalte eingebracht – und waren
stets abgeblitzt. «Die OECD behauptet, es gebe keine offenen Fragen zur
Messmethode. Mit dieser Haltung wird sie die Probleme bis zum nächsten Test
2018 nicht beheben können», sagt Wolter. Und das würde der Marke «Pisa»
irreparablen Schaden zufügen, ist der Bildungsexperte überzeugt.
Ausstieg aus Pisa?
Die Schweizer
Verantwortlichen hoffen nun, dass in anderen Ländern ebenfalls Kritik an der
Methode laut wird und sich der Druck auf die OECD erhöht. «Wenn wir schon so
viel Geld in die Hand nehmen, wollen wir auch vergleichbare Resultate», sagt
Eymann. 3,3 Millionen Franken kostet ein Pisa-Zyklus die Schweiz. Der
Lehrerverband stellt diesen Betrag sogar grundsätzlich infrage: «Wenn sich die
OECD dieser Diskussion nicht stellt, drängt sich ein Ausstieg der Schweiz auf.
Die Pisa-Millionen könnten in Zukunft für das Bildungsmonitoring in der Schweiz
ausgegeben werden», sagt Brühlmann. Doch eigentlich will das niemand, denn der
Nutzen einer methodisch korrekten Pisa-Studie ist auch für die Schweiz gross:
Der weltweit wichtigste Schülervergleichstest ermöglicht es, Schlussfolgerungen
für das eigene Schulsystem zu ziehen und die Bildungspolitik entsprechend zu
justieren. Das hat die Schweiz in der Vergangenheit auch getan: Als die
15-Jährigen bei der ersten Durchführung im Jahr 2000 überraschend schlechte
Lesekompetenzen aufwiesen, investierte sie in die Leseförderung in den Schulen.
Angesichts der unklaren Aussagekraft des aktuellen Tests wollen Bund und
Kantone nun aber keine Massnahmen ergreifen – trotz der nach wie vor schwachen
Lesekompetenz vieler Schüler. 20 Prozent der Schulabgänger können nicht
ausreichend gut lesen. «Methodik hin oder her: Das ist für ein Land wie die
Schweiz ein viel zu hoher Wert. Wir haben zu wenige Jobs, die keine
Lesekompetenz erfordern», sagt Brühlmann. Umso unverständlicher findet er es, dass
in diesem Bereich gespart wird. So werden etwa die Lektionen für Deutsch als
Zweitsprache abgebaut oder die Klassengrössen heraufgesetzt. Brühlmann ist
überzeugt: «Die Folgekosten solcher Sparmassnahmen sind enorm – zum Beispiel
steigende Sozialhilfeabgaben.»
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