8. Dezember 2016

Grosser Ärger nach PISA

Der weltweit wichtigste Schülervergleichstest weise methodische Mängel auf, kritisieren Bund und Kantone. Anstatt die Resultate zu interpretieren, fordern sie die OECD zum Handeln auf.

Die Schweiz weigert sich, den Pisa-Test auszuwerten, Basler Zeitung, 7.12. von Raffaela Birrer


Eigentlich hätte die Schweiz wenig Grund zur Klage: Die hiesigen Schüler sind in Europa Klassenbeste – zumindest in der Mathematik. Im weltweiten Pisa-Vergleich, der 72 Länder und über eine halbe Million Schüler umfasst, erreichen sie einen Platz unter den ersten zehn. In den Naturwissenschaften, dem Schwerpunkt des Tests im Jahr 2015, liegen die Fähigkeiten der Schweizer 15-Jährigen ebenfalls über dem OECD-Durchschnitt. Einzig bei den Lesekompetenzen liegt die Schweiz erneut nur im Mittelfeld.

Und doch ist der Ärger bei den Schweizer Pisa-Verantwortlichen gross: Weil die OECD ihre Erhebungsmethode stark verändert habe, seien die Resultate des Jahres 2015 nicht mit den früheren Ergebnissen vergleichbar, kritisierten Vertreter von Bund, Kantonen und der Lehrerschaft an der gestrigen Medienkonferenz in Bern. So mussten die Schüler den Test erstmals am Computer lösen – und durften dabei nicht zu Fragen zurückkehren, sondern mussten sie fortlaufend beantworten. Das seien sie nicht gewohnt, sagt Stefan C. Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. «In Schweizer Schulen lernen die Kinder, zuerst die ganze Prüfung anzuschauen, um die einfachen Aufgaben prioritär zu lösen.»

Die Forschung belege zudem, dass Knaben bei computerbasierten Tests besser abschneiden als Mädchen. Doch solche Effekte seien in der aktuellen Pisa-Studie nicht adäquat berücksichtigt worden. «Wir wissen daher nicht: Messen wir hier die Computer- oder tatsächlich die Naturwissenschaftskompetenzen?» Vergleichstests mit Papier und Bleistift hätten in der Schweiz gezeigt, dass die Computerresultate signifikant schlechter ausfielen, sagt Wolter.

Zu viele Migrantenkinder
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die neue OECD-Stichprobe. Die Schweiz hat 6600 Schüler anhand dieser modifizierten Vorgaben getestet; 2012 waren es noch 20’000 gewesen. Der Anteil fremdsprachiger Jugendlicher nahm mit der Verkleinerung der Stichprobe um zehn Prozentpunkte auf 31 Prozent zu, wie Wolter sagt. Die offizielle Statistik weist hingegen keinen solchen Wandel aus. Es sei daher unklar, ob das Resultat repräsentativ für die 15-Jährigen in der Schweiz sei, bemängelt Christoph Eymann, Präsident der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Und schliesslich hat die OECD wegen der Umstellung auf die Computertests auch die Punkteskala neu geeicht. Die Differenz gegenüber der alten Skala beträgt minus 8 Pisa-Punkte – das entspreche etwa einem Vierteljahr Schulstoff, sagt Jürg Brühlmann vom Schweizerischen Lehrerverband. «Wie diese Berechnungen zustande kommen und welche Auswirkungen sie haben, ist völlig unklar.»

Schweiz ist bei der OECD abgeblitzt
Fakt ist: Die Leistungen der Schweizer Schüler sind im Vergleich zu 2012 in allen Bereichen schlechter geworden. Die Lesekompetenzen sind gar wieder auf das Niveau von 2000 zurückgefallen, als die Pisa-Ergebnisse hierzulande einen Schock auslösten. Die EDK will diese Resultate allerdings nicht bewerten, weil sie «schlicht nicht interpretierbar sind», wie Eymann sagt. Wegen der methodischen Mängel verzichtete die EDK sogar darauf, einen Bericht zu den Resultaten zu verfassen. Und setzte stattdessen ein Schreiben an die OECD auf, in dem sie das «massive Qualitätsproblem» und dessen «unabschätzbare Konsequenzen» kritisiert. Hintergrund der dezidierten Worte ist das Verhalten der OECD: Mehrfach hatten die Schweizer Pisa-Verantwortlichen ihre Vorbehalte eingebracht – und waren stets abgeblitzt. «Die OECD behauptet, es gebe keine offenen Fragen zur Messmethode. Mit dieser Haltung wird sie die Probleme bis zum nächsten Test 2018 nicht beheben können», sagt Wolter. Und das würde der Marke «Pisa» irreparablen Schaden zufügen, ist der Bildungsexperte überzeugt.

Ausstieg aus Pisa?
Die Schweizer Verantwortlichen hoffen nun, dass in anderen Ländern ebenfalls Kritik an der Methode laut wird und sich der Druck auf die OECD erhöht. «Wenn wir schon so viel Geld in die Hand nehmen, wollen wir auch vergleichbare Resultate», sagt Eymann. 3,3 Millionen Franken kostet ein Pisa-Zyklus die Schweiz. Der Lehrerverband stellt diesen Betrag sogar grundsätzlich infrage: «Wenn sich die OECD dieser Diskussion nicht stellt, drängt sich ein Ausstieg der Schweiz auf. Die Pisa-Millionen könnten in Zukunft für das Bildungsmonitoring in der Schweiz ausgegeben werden», sagt Brühlmann. Doch eigentlich will das niemand, denn der Nutzen einer methodisch korrekten Pisa-Studie ist auch für die Schweiz gross: Der weltweit wichtigste Schülervergleichstest ermöglicht es, Schlussfolgerungen für das eigene Schulsystem zu ziehen und die Bildungspolitik entsprechend zu justieren. Das hat die Schweiz in der Vergangenheit auch getan: Als die 15-Jährigen bei der ersten Durchführung im Jahr 2000 überraschend schlechte Lesekompetenzen aufwiesen, investierte sie in die Leseförderung in den Schulen. Angesichts der unklaren Aussagekraft des aktuellen Tests wollen Bund und Kantone nun aber keine Massnahmen ergreifen – trotz der nach wie vor schwachen Lesekompetenz vieler Schüler. 20 Prozent der Schulabgänger können nicht ausreichend gut lesen. «Methodik hin oder her: Das ist für ein Land wie die Schweiz ein viel zu hoher Wert. Wir haben zu wenige Jobs, die keine Lesekompetenz erfordern», sagt Brühlmann. Umso unverständlicher findet er es, dass in diesem Bereich gespart wird. So werden etwa die Lektionen für Deutsch als Zweitsprache abgebaut oder die Klassengrössen heraufgesetzt. Brühlmann ist überzeugt: «Die Folgekosten solcher Sparmassnahmen sind enorm – zum Beispiel steigende Sozialhilfeabgaben.»


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