Trotz Erzählnächten und sonstigen Förderprogrammen hat die Schweiz beim
Pisa-Lesetest erneut schlecht abgeschnitten. Vielleicht sollte man die Eltern
statt die Schulen in die Pflicht nehmen.
Ein Fünftel aller 15-Jährigen kann diesen Text kaum verstehen. Wie ist das möglich? NZZsA, 11.12. von Daniel Meier
Das «Buch ohne Bilder» ist in den USA ein Grosserfolg. Auf manchen der 52
Seiten steht nur ein Wort. Es ist ein Vorlesebuch mit einer einzigen Regel: Die
Eltern müssen wirklich jedes Wort laut vortragen – auch wenn das Wort zum
Beispiel «HABDIbudiBUbaaaaaao» heisst. So machen sie sich im Kinderzimmer
lächerlich. Aber sie helfen mit, ein ernstes Problem zu lösen.
Diese Woche sind die neuen Pisa-Resultate vorgestellt worden. Seit 2000
wird der internationale Schülervergleich alle drei Jahre durchgeführt. Nicht
zum ersten Mal ziehen Bildungspolitiker die Daten reflexartig in Zweifel und
behaupten, sie seien nicht vergleichbar. Doch es bleibt dabei: Die Schweiz ist
Spitze in Mathematik, gut in den Naturwissenschaften – aber nur mittelmässig
beim Lesen. «Das ist ein spannender Befund, den man unbedingt zur Kenntnis
nehmen sollte», sagt Urs Moser, Bildungsforscher an der Universität Zürich und
zudem Mitglied der nationalen Projektleitung von Pisa.
Ein reiches, innovatives, kultiviertes, hoch entwickeltes Land mit einer
chronischen Leseschwäche – leicht zu schlucken ist das nicht. Aber Leute an der
Front bestätigen den Eindruck. Lilo Lätzsch, seit 1978 Sekundarlehrerin in der
Stadt Zürich, erzählt: «Ich stelle oft fest, dass unsere Schüler zwar schön
vorlesen können. Aber wenn sie das Blatt umdrehen müssen und erzählen sollen,
was sie gerade gelesen haben, tun sie sich schwer.» Es deckt sich mit der
Pisa-Diagnose, wonach 20 Prozent der Schweizer Schüler Mühe bekunden, einen
einfachen Text zu verstehen.
Gegenüber früher habe sich die Lesefähigkeit weder verbessert noch
verschlechtert, sagt Lätzsch. Doch: «Vor zehn Jahren brachten die Schüler
häufig einen Artikel aus ‹20 Minuten› mit, über den wir dann diskutiert haben.»
Heute komme das nicht mehr vor, die Schüler haben ständig ihre Mobiltelefone in
der Hand. «Darauf lesen sie auch, aber wahrscheinlich keine Zeitungsartikel.»
Schön war die Zeit, als die Jugendlichen noch Gratiszeitungen lasen.
Migrantenkinder unter Verdacht
Vor 16 Jahren schlug der erste Pisa-Test wie eine Bombe ein. In der
Schweiz verfiel man kurzzeitig in Panik und dann in Aktivismus. Alle schauten
auf den klaren Pisa-Sieger Finnland. Ganz aufgeregt stellte man zum Beispiel
fest, dass dort im Fernsehen keine synchronisierten Filme laufen. Alles wird
untertitelt. Lag darin das Geheimnis der überragenden finnischen Lesekunst?
Zwei Jahre lang brütete der Bund über Konzepten und schnürte schliesslich ein
dickes Massnahmenpaket. Mit Zusatzausgaben von bis zu 1,9 Milliarden Franken
pro Jahr sei zu rechnen, hiess es.
Natürlich wurde nur ein kleiner Teil davon wirklich ausgegeben. Klein
blieben allerdings auch die Fortschritte. Die Schweiz verbesserte sich bei der
Lesefähigkeit stetig, aber langsam (siehe Grafik). Das Interesse flachte ab,
der Wille zu Reformen ebenso. Doch nun der Absturz: Teilweise bedingt durch
Änderungen in der Methodik, schneiden unsere Schüler beim Lesen noch schlechter
ab als beim ersten Test.
Rasch hat man die Schuldigen gefunden. Es sind die gleichen, die schon
damals unter Verdacht gerieten: die Migrantenkinder. Wer schlecht Deutsch
könne, habe eben auch Mühe beim Lesen. Und weil der Ausländeranteil in der
Schweiz hoch sei, drücke das unseren Durchschnitt. Klingt plausibel, stimmt
aber nicht mehr. «Die Kinder von Einwanderern haben stark aufgeholt», sagt
Moser. «An sich sagt der Migrationshintergrund gar nichts über den
Bildungserfolg aus.»
Was hingegen richtig ist: Die soziale Herkunft wirkt sich direkt auf die
Lesefähigkeit aus. Kinder aus Haushalten, in denen viel kommuniziert wird und
Bücher wichtig sind, lesen später besser. Wer hingegen vor dem Kindergarten
kaum je ein Buch gesehen hat, wird wahrscheinlich kein grosser Leser.
Wissenschaftliche Studien bestätigen das regelmässig. Für Bildungsexperte Moser
ist klar: «Lesen lernt man nicht erst in der Schule.»
Das Wunder des Lesens entsteht viel früher. Oder eben nicht. Zwischen
null und sechs Jahren passiert enorm viel. Das Kind entwickelt sogenannte
Vorläuferfertigkeiten, es entdeckt Laute, Silben, erste Wörter, später Sätze.
Der Wortschatz wird aufgebaut und mit Wissen in Verbindung gebracht. Wenn es
gelingt, diesen Funken zu zünden, stehen die Chancen gut, dass später ein guter
Leser heranwächst. Und zwar unabhängig davon, ob mit oder ohne
Migrationshintergrund.
Deshalb zielen viele Förderprogramme darauf ab, Lesefreude zu wecken.
Kaum war der erste Pisa-Schock verdaut, luden Schulhäuser im ganzen Land zu
Erzählnächten. Länger aufbleiben, in der Bibliothek oder im Singsaal im Kreis
auf den Boden sitzen und sich Geschichten anhören – die Kinder lieben es bis
heute. Allerdings kommen vor allem die Leseratten. Moser sagt: «Das eigentliche
Problem ist, an jene Kinder heranzukommen, die weder von sich aus lesen noch
die notwendige Unterstützung durch die Familie erhalten.» Oft fällt es schwer,
die Eltern zum Mitmachen zu motivieren. Zwingen kann man sie nicht.
Auch Erwachsene bekunden Mühe
Dass es beim Lesen hapert, zeigte sich indes schon früher. 1995 massen
sich Erwachsene aus verschiedenen Ländern. Das Fazit der Studie: «Die Schweiz
hat relativ viel inkompetente und wenig hoch kompetente Leser und Leserinnen.»
Mit Lauftexten bekundeten die Schweizer grosse Mühe, besser kamen sie mit
Tabellen, Formularen und Plänen zurecht.
Lesen ist eine derart elementare Fähigkeit, dass man sich fragen muss,
ab wann der Wohlstand und die Wettbewerbskraft gefährdet werden. Wer selbst
leichte Texte nicht versteht, hat schlechte Aussichten: Die Aus- und
Weiterbildung fällt schwer, die Berufswahl ist eingeschränkt, der Lohn bleibt
tief, das Risiko, arbeitslos zu werden, steigt. Das alles wird durch Studien
mehrfach belegt. Vieles spricht dafür, dass die jeweils rund 20 Prozent, die
beim Pisa-Lesetest durchfallen, später in Jobs arbeiten, die keine
Lesekompetenz voraussetzen. Offensichtlich finden sich in der Schweiz nach wie
vor genügend solche Stellen.
Gleichwohl sollte man das Fünftel mit Leseschwäche nicht aufgeben. Als
der Kampf nach dem Pisa-Schock aufgenommen wurde, lautete eine der Forderungen:
Statt erst mit sieben Jahren sollten die Kinder schon mit fünf in die erste
Klasse. In vielen Ländern ist das so. Dank der früheren Einschulung hätte die
Leseförderung besser greifen sollen, weil der Zugriff der Schule bereits auf
die Fünfjährigen erfolgt wäre. Aber es zeigt sich, dass dieser Plan in
kantonalen Abstimmungen chancenlos ist. Keine Verschulung des Kindergartens,
lautete der Schlachtruf der Gegner.
Ähnlich erging es dem Vorschlag, durchwegs Hochdeutsch zu sprechen, auch
im Turnen und im Singen. Manche Bildungspolitiker vermuten nämlich, unsere
Schüler hätten beim Pisa-Test ein Handicap, denn schliesslich müssten sie dort
Texte in einer Fremdsprache lesen – eben in Hochdeutsch. Deshalb sollte in der
Schule ausschliesslich diese Sprache verwendet werden. Aber auch diese Idee hat
das Volk versenkt. In mehreren Kantonen wurde sogar beschlossen, im
Kindergarten müsse immer Dialekt gesprochen werden.
Die Bildungspolitik scheint hier festgefahren zu sein. Vielleicht ist
beim Leseproblem aber gar nicht die Schule gefragt. Während wir in der
Mathematik fast alles über die Lehrer lernen, sind bei der Sprache zumindest in
der frühen Phase vor allem die Eltern gefragt. Sie sind es, die ihre Kinder zum
Lesen heranführen und die Freude daran wecken müssen. Das sollte so
selbstverständlich sein, wie den Kindern schwimmen beizubringen oder sie impfen
zu lassen – als Rüstzeug fürs Leben.
Wirklich besorgniserregend ist deshalb der Umstand, dass Eltern ihren
Kindern immer weniger vorlesen. Eine Studie in Deutschland hat das jüngst
wieder bestätigt. Zum Glück ist dieser Tage «Das Buch ohne Bilder» auf Deutsch
erschienen. Eine gute Gelegenheit, mit dem Vorlesen anzufangen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen