Die
Pisa-Studie offenbart eine hohe Zahl funktionaler Analphabeten unter den
Schulabgängern – inakzeptabel für eins der teuersten Schulsysteme der Welt,
sagen Experten.
Noch mehr Geld für unser Bildungssystem? Bild: Sonntagszeitung
Teuer und ungenügend, Sonntagszeitung, 11.12. von Nadja Pastega
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Ein
reich verziertes Gästezimmer in einem Schloss. Türen rechts und links, in der
Mitte das Wohnzimmer. Drei Männer im Smoking betreten die Bühne und unterhalten
sich darüber, wie schwierig es sei, ein Ʈheaterstück zu beginnen. «Teuflisch
schwer», sagt der Mann, der Turai heisst. «Es vergeht eine Ewigkeit, manchmal
eine ganze Viertelstunde, bis die Zuschauer herausfinden, wer wer ist und wer
was im Schilde führt.»
Der
Text leitet eine Aufgabe des internationalen Pisa-Schülertests ein. Getestet
wird die Lesefähigkeit der 15-jährigen Prüflinge. Aufgabe: Warum ist laut Turai
eine Viertelstunde «eine Ewigkeit»? Die Schüler müssen die richtige
Multiple-Choice-Antwort ankreuzen. Zur Auswahl stehen: A. Es dauert zu lange,
bis das Publikum in einem voll besetzten Ʈheatersaal ruhig ist. – B. Es scheint
ewig zu dauern, bis am Anfang des Ʈheaterstücks die Situation geklärt ist. – C.
Es scheint für einen Dramatiker immer sehr lange zu dauern, den Anfang eines Ʈheaterstücks
zu schreiben. – D. Es scheint, dass die Zeit viel langsamer vergeht, wenn in
einem Ʈheaterstück etwas wirklich Bedeutendes geschieht.
Der
Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe entspricht der Kompetenzstufe 2 – die
magische Grenze auf der sechstufigen Pisa-Skala: Wer darunter liegt, gehört zu
den funktionalen Analphabeten. Diese Schüler können zwar lesen, aber sie
verstehen nicht, was sie gelesen haben.
Ob 14 oder 20 Prozent: Zu viel ist es auf
jeden Fall
Rund
6000 Schüler aus der Schweiz haben für den aktuellen Pisa-Test 2015 der OECD
ihre Fragebögen ausgefüllt. Das neue Länderranking, das am letzten Dienstag
vorgestellt wurde, sorgte bei Schweizer Bildungsexperten für Katerstimmung: Die
15-jährigen Schweizer Schulabgänger erreichten beim Lesen nur knapp den
OECD-Durchschnitt. Besonders ernüchternd: 20 Prozent der hiesigen Schüler sind
nach neun Schuljahren funktionale Analphabeten – also jeder fünfte. 24 Prozent
der Buben gehören laut Pisa-Ergebnis zu dieser Gruppe, bei den Mädchen sind es
15 Prozent.
Seit
die neue OECD-Schulleistungsstudie erschienen ist, wird in der Schweiz heftig
debattiert, wie repräsentativ die getestete Schüler-Stichprobe ist. Der Anteil
der fremdsprachigen Jugendlichen, sagen die Kritiker, sei mit 31 Prozent zu
hoch. Das habe die Ergebnisse verzerrt. Der vorherige Pisa-Test 2012 habe den
Anteil der Lesebanausen tiefer ausgewiesen. Damals erzielten 14 Prozent der
Schweizer Prüflinge ein Ergebnis unter der Kompetenzstufe 2 – also jeder
siebte. Unstrittig und wichtiger als das Stichproben-Gezänk ist für die
Schweiz: Ein Analphabeten-Anteil von 14 bis 20 Prozent ist schlicht nicht akzeptabel.
«Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der
Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse unzureichend
schreiben und lesen», hat Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen
Koordinationsstelle für Bildungsforschung, das Ergebnis auf die einzelnen
Schulklassen umgerechnet.
Und
das, obwohl sich die Schweiz das zweitteuerste Schulsystem innerhalb der OECD
leistet. Laut internationaler Statistik gibt die Schweiz für einen
Primarschüler pro Jahr umgerechnet 15 930 Dollar aus, für einen Sekundarschüler
19 698 Dollar – nur Luxemburg investiert noch mehr.
Analphabeten hängen auch in anderen Fächern
komplett ab
12 000
bis 17 000 Jugendliche pro Jahr verlassen dieses finanziell gut ausstaf- fierte
Schweizer Schulsystem nach neun Schuljahren als funktionale Analphabeten. Sie
können selbst aus kurzen Texten keine Informationen herausfiltern, sind nicht
in der Lage, Informationen zu verknüpfen und einfache Schlussfolgerungen zu
ziehen.
Von
einem «Systemversagen» spricht Bildungsforscher Wolter. Wegen ihrer massiven
Defizite im Lesen und Schreiben würden diese Schüler auch in anderen Fächern
«komplett abhängen» und jahrelang einfach mitgeschleppt, ohne Lernfortschritte
zu erzielen.
Kritik
kommt auch aus Wirtschaftskreisen. Das schlechte Lese-Resultat der Schweizer
Schüler im Pisa-Test sei «absolut unvereinbar mit dem Anspruch der Schweiz,
eines der besten Bildungssysteme der Welt zu haben», sagt Rudolf Minsch,
Geschäftsleitungsmitglied beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Für
Schulabgänger, die kaum lesen und schreiben könnten, gebe es in der Schweiz zu
wenig Jobs. Es sei daher zwingend, sagt Misch, «dass die Schulabgänger über
genügend sprachliche Kompetenzen verfügen, um ein selbstbestimmtes Leben führen
zu können».
Genau
das ist für funktionale Analphabeten schwierig. Mietverträge,
Versicherungspolicen, Fahrplaninformationen, Behördenschreiben – das sind
unüberwindliche Hürden im Alltag, wenn man kaum lesen kann. Manchmal treiben
die Sprachdefizite einen Betroffenen fast in den Ruin – wie beim bekanntesten
Steueropfer der Schweiz, Hilfsarbeiter Ernst Suter aus Dürnten ZH. Wegen seiner
Leseschwäche reichte er keine Steuererklärungen ein und wurde von den
Steuerbehörden eingeschätzt. Die Steuerrechnungen stiegen kontinuierlich an. Am
Schluss schätzten die Behörden das Einkommen des Hilfsarbeiters auf ein
Managerniveau von 480 000 Franken. Er zahlte widerspruchslos – und etwa eine
Viertelmillion Franken zu viel. Die überrissenen Steuerrechnungen frassen nicht
nur sein Jahreseinkommen auf, sondern auch seine Ersparnisse. Schliesslich
lenkten die Steuerkommissäre ein und zahlten 250 000 Franken zurück.
Funktionale Analphabeten verlieren häufiger
die Stelle
Rund
800 000 funktionale Analphabeten, auch Illettristen genannt, gibt es bei den
16- bis 65-Jährigen in der Schweiz. Fast die Hälfte ist hier geboren und hat
die obligatorische Schulzeit absolviert. Für sie sind nicht nur Steuerformulare
ein Albtraum. Auch Strafbefehle haben ihre Tücken. Wegen ihrer
Leseschwierigkeiten verstehen die Betroffenen oft nicht, dass sie sich mit
einer Einsprache wehren könnten – und verpassen die Eingabefrist. «Die formalistische
Sprache der Strafbefehlsformulare», stellte der emeritierte
Strafrechtsprofessor Martin Killias fest, «provoziert geradezu
Missverständnisse.»
Funktionale
Analphabeten haben es auch auf dem Arbeitsmarkt schwer. Sie sind in der
Berufswahl eingeschränkt und verlieren häufiger die Stelle. Auf die
Schulabgänger, die kaum lesen und schreiben können, wartet also eine düstere
Zukunft.
Nach
dem schlechten Pisa-Resultat forderten Lehrerverbände flugs mehr Geld. Aber wie
soll es eine Gewähr geben, dass das etwas nützen würde, wenn die zweithöchsten
Ausgaben in der OECD pro Schüler nicht reichen? «Dass so viele Schüler am Ende
der Schulzeit kaum lesen und schreiben können, ist eine Schande für unsere
Schulen», sagt Alain Pichard, Sekundarlehrer im Kanton Bern. Der «riesige
Betreuungsapparat», der in den letzten Jahren aufgebaut worden sei, bringe
offensichtlich nichts. «Wir brauchen nicht mehr Geld», sagt Pichard. «Aber man
muss es anders einsetzen – für eine echte Bekämpfung des Illettrismus.»
Interessant dass innert 7 Jahren kein einziger Kommentar vorliegt ...
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