Was
wurde schon darüber gestritten: Wann sollen unsere Kinder Französisch lernen?
Früh, spät – oder doch lieber erst Englisch?
Funktionale Analphabeten ohne Lobby, Sonntagszeitung, 11.12. Kommentar von Andrea Bleicher
Nur
zeigt sich jetzt: Der Sprachenstreit zielt am eigentlichen Problem vorbei. Oder
an der eigentlichen Problemsprache. Die Pisa-Studie hat es an den Tag gebracht:
20 Prozent der getesteten Schweizer Schüler sind nicht in der Lage, einen
einfachen deutschen Text zu verstehen.
Sie
sind 15 Jahre alt, haben die neun obligatorischen Schuljahre fast hinter sich,
müssen sich eine Lehrstelle suchen – und scheitern an Primarschulaufgaben. Ein
Bildungsdesaster.
Doch
während bei der Diskussion um das Frühfranzösisch die Emotionen hochkochten,
der Bundesrat «den nationalen Zusammenhalt» gefährdet sah, nahm man das
verheerende Ausmass der Leseunfähigkeit gelassen hin. Lieber kritisierten
Erziehungsdirektoren und der Lehrerdachverband Qualität und Vergleichbarkeit
des Pisa-Tests. Aber im Grunde war man ganz zufrieden mit sich. SP-Nationalrat
Matthias Aebischer glaubte gar: «Statt wie andere Länder die Bildung voll auf
Rankings auszurichten, bringen wir unseren Kindern die Kompetenzen bei, die sie
im Alltag und später im Beruf auch wirklich brauchen.»
Lesen,
so kann man aus den Worten des Politikers und dem Schweigen seiner Kolleginnen
und Kollegen schliessen, gehört nicht dazu. Die nationale Leseschwäche – eine
vernachlässigbare Petitesse.
Ein
Irrtum. Selbst wenn man die neuen Pisa-Ergebnisse anzweifelt: Schon der Bund
stellte fest, dass ein Sechstel der Erwachsenen in der Schweiz funktionale
Analphabeten sind. Mit weitreichenden finanziellen und sozialen Konsequenzen.
Viele der Betroffenen beenden nie eine Ausbildung, schotten sich aus Scham ab,
gehen auch nicht wählen. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Leseschwäche
betragen rund 1,1 Milliarden Franken pro Jahr, wie eine Studie im Auftrag des
Bundesamts für Statistik ergab.
Den
funktionalen Analphabeten fehlt die Lobby. Sie demonstrieren nicht vor dem
Bundeshaus, lassen sich ignorieren. Obwohl die Schweiz den Lehrplan eifrig
überarbeitet, gelingt es immer noch nicht, diejenigen ausreichend zu fördern,
die es ohnehin schon schwer haben. Und so produziert unser Schulsystem weiter,
was kein Schulsystem produzieren darf: Bildungsverlierer.
11. Dezember 2016
AntwortenLöschenEin Bildungsdesaster
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‚Und so produziert unser Schulsystem weiter, was kein Schulsystem produzieren darf: Bildungsverlierer‘.
Das trifft leider auch heute noch zu. Und es wird sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern daran. Grund: Das Schulsystem kann den Auftrag nicht einlösen, allen Lernenden Grundkompetenzen in Lesen und Schreiben zu vermitteln.
Das Problem besteht seit vielen Jahren, obschon immer wieder Versuche unternommen werden, die Anzahl betroffener Lernender zu reduzieren. Der Bund führt regelmässig Kampagnen durch, betroffene Erwachsene zu erfassen und ihnen Möglichkeiten zum Nachholen der Defizite zu anzubieten. Leider ohne Erfolg, trotz Investitionen in Millionenhöhe. Es wurde auch ein Gesetz geschaffen, speziell für Erwachsene mit Nachholbedarf in den Grundkompetenzen. Auch dieser Versuch scheiterte.
Ohne vertiefte, ganzheitliche Standortbestimmungen werden weiterhin jedes Jahr rund 20% Lernende die Schule verlassen mit ungenügenden Fähigkeiten in Lesen und Schreiben.
Seit dem Artikel von Andrea Bleicher sind nun dreieinhalb Jahre vergangen und es ist so, wie Sie in Ihrem Kommentar geschrieben haben: Es ändert sich nichts. In der Zwischenzeit sind die Resultate von PISA 2018 eingetroffen. Die Quote der Bildungsverlierer, das sind Jugendliche, welche nicht lesen (und auch nicht schreiben) können ist von 20 auf 24 Prozent angestiegen. Aber es kümmert sich niemand darum. Schulpolitiker und Lehrerverbände, aber auch die Lehrer selbst scheinen im Dauerschlaf zu sein.
AntwortenLöschenDieses Problem ist dort zu lösen, wo es auch entsteht: an den Schulen. Es braucht dazu auch keine grossen Investitionen, einzig einen besseren Unterricht. In den nächsten Tagen werde ich einen Artikel aufschalten, in dem ich mich mit dem Problem beschäftige. Danke für Ihre Reaktion!