11. Dezember 2016

Ein Bildungsdesaster

Was wurde schon darüber gestritten: Wann sollen unsere Kinder Französisch lernen? Früh, spät – oder doch lieber erst Englisch?
Funktionale Analphabeten ohne Lobby, Sonntagszeitung, 11.12. Kommentar von Andrea Bleicher


Nur zeigt sich jetzt: Der Sprachenstreit zielt am eigentlichen Problem vorbei. Oder an der eigentlichen Problemsprache. Die Pisa-Studie hat es an den Tag gebracht: 20 Prozent der getesteten Schweizer Schüler sind nicht in der Lage, einen einfachen deutschen Text zu verstehen.

Sie sind 15 Jahre alt, haben die neun obligatorischen Schuljahre fast hinter sich, müssen sich eine Lehrstelle suchen – und scheitern an Primarschulaufgaben. Ein Bildungsdesaster.
Doch während bei der Diskussion um das Frühfranzösisch die Emotionen hochkochten, der Bundesrat «den nationalen Zusammenhalt» gefährdet sah, nahm man das verheerende Ausmass der Leseunfähigkeit gelassen hin. Lieber kritisierten Erziehungsdirektoren und der Lehrerdachverband Qualität und Vergleichbarkeit des Pisa-Tests. Aber im Grunde war man ganz zufrieden mit sich. SP-Nationalrat Matthias Aebischer glaubte gar: «Statt wie andere Länder die Bildung voll auf Rankings auszurichten, bringen wir unseren Kindern die Kompetenzen bei, die sie im Alltag und später im Beruf auch wirklich brauchen.»

Lesen, so kann man aus den Worten des Politikers und dem Schweigen seiner Kolleginnen und Kollegen schliessen, gehört nicht dazu. Die nationale Leseschwäche – eine vernachlässigbare Petitesse.

Ein Irrtum. Selbst wenn man die neuen Pisa-Ergebnisse anzweifelt: Schon der Bund stellte fest, dass ein Sechstel der Erwachsenen in der Schweiz funktionale Analphabeten sind. Mit weitreichenden finanziellen und sozialen Konsequenzen. Viele der Betroffenen beenden nie eine Ausbildung, schotten sich aus Scham ab, gehen auch nicht wählen. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Leseschwäche betragen rund 1,1 Milliarden Franken pro Jahr, wie eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Statistik ergab.


Den funktionalen Analphabeten fehlt die Lobby. Sie demonstrieren nicht vor dem Bundeshaus, lassen sich ignorieren. Obwohl die Schweiz den Lehrplan eifrig überarbeitet, gelingt es immer noch nicht, diejenigen ausreichend zu fördern, die es ohnehin schon schwer haben. Und so produziert unser Schulsystem weiter, was kein Schulsystem produzieren darf: Bildungsverlierer.

2 Kommentare:

  1. 11. Dezember 2016
    Ein Bildungsdesaster

    …….
    ‚Und so produziert unser Schulsystem weiter, was kein Schulsystem produzieren darf: Bildungsverlierer‘.
    Das trifft leider auch heute noch zu. Und es wird sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern daran. Grund: Das Schulsystem kann den Auftrag nicht einlösen, allen Lernenden Grundkompetenzen in Lesen und Schreiben zu vermitteln.
    Das Problem besteht seit vielen Jahren, obschon immer wieder Versuche unternommen werden, die Anzahl betroffener Lernender zu reduzieren. Der Bund führt regelmässig Kampagnen durch, betroffene Erwachsene zu erfassen und ihnen Möglichkeiten zum Nachholen der Defizite zu anzubieten. Leider ohne Erfolg, trotz Investitionen in Millionenhöhe. Es wurde auch ein Gesetz geschaffen, speziell für Erwachsene mit Nachholbedarf in den Grundkompetenzen. Auch dieser Versuch scheiterte.
    Ohne vertiefte, ganzheitliche Standortbestimmungen werden weiterhin jedes Jahr rund 20% Lernende die Schule verlassen mit ungenügenden Fähigkeiten in Lesen und Schreiben.

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  2. Seit dem Artikel von Andrea Bleicher sind nun dreieinhalb Jahre vergangen und es ist so, wie Sie in Ihrem Kommentar geschrieben haben: Es ändert sich nichts. In der Zwischenzeit sind die Resultate von PISA 2018 eingetroffen. Die Quote der Bildungsverlierer, das sind Jugendliche, welche nicht lesen (und auch nicht schreiben) können ist von 20 auf 24 Prozent angestiegen. Aber es kümmert sich niemand darum. Schulpolitiker und Lehrerverbände, aber auch die Lehrer selbst scheinen im Dauerschlaf zu sein.
    Dieses Problem ist dort zu lösen, wo es auch entsteht: an den Schulen. Es braucht dazu auch keine grossen Investitionen, einzig einen besseren Unterricht. In den nächsten Tagen werde ich einen Artikel aufschalten, in dem ich mich mit dem Problem beschäftige. Danke für Ihre Reaktion!

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