Oft
könne man bei den Abituraufgaben „zwischen Realität und Realsatire kaum
unterscheiden“: Hans Peter Klein erforscht die Inflation der Bestnoten. Lehrer
würden „massiv unter Druck gesetzt“, sagt er.
Didaktikprofessor Hans Peter Klein: "Niemand will gegensteuern". Bild: zvg
"Abiaufgaben in Biologie können Neuntklässler lösen", Die Welt, 17.12. von Thomas Vitzthum
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Die Welt: Herr Klein, ist das Abitur heute
wirklich leichter als früher?
Hans
Peter Kein: Eindeutig ja. Machten 1970 noch keine zehn Prozent eines Jahrgangs
Abitur – in der DDR waren es bis 1989 ungefähr 13 Prozent – haben derzeit
mehrere Bundesländer die 60 Prozent längst ins Visier genommen. Das geht nur
mit einer deutlichen Absenkung der Anforderungen im fachlichen Bereich. Es ist
nicht davon auszugehen, dass es in den letzten Jahren zu einer Art
Evolutionssprung in der Verbreitung der Intelligenz in der Bevölkerung gekommen
ist.
In Berlin haben sich die 1,0-Schnitte in
kurzer Zeit vervierzehnfacht. Kann es nicht sein, dass das neue
Bildungsbürgertum dafür verantwortlich zeichnet?
Das
kann diese Explosion nicht erklären. Wir sind gerade dabei, die
Zentralabituraufgaben mehrerer Bundesländer in den Fächern Biologie und
Mathematik auf ihr fachliches Niveau hin zu analysieren. Das Ergebnis
entspricht dem gesunden Menschenverstand: Je fachlich anspruchsloser die
Zentralabiturarbeiten sind, desto höher die Abiturientenquote. Lesekompetenz
reicht hier weitgehend aus, um selbst Bestnoten zu erreichen. Und dies trifft
auf nahezu alle Fächer zu.
Wieso untersuchen Sie die Arbeiten nicht in
allen Ländern?
Weil
trotz mehrfacher schriftlicher Aufforderung und Verweis auf das
Informationsfreiheitsgesetz die Bildungsministerien in neun Bundesländern mit
fadenscheinigen Ausreden nicht dazu bereit waren, uns ihre
Zentralabituraufgaben und Lehrerhandreichungen zu Forschungszwecken zu
überlassen.
Gehört Berlin dazu?
Berlin
gehört leider auch dazu. Die eigenen Abiturarbeiten genau kennend befürchtet
man anscheinend eine kritische Berichterstattung. Oft kann man zwischen
Realität und Realsatire kaum noch unterscheiden. Die wenigen uns zugespielten
Zentralabituraufgaben aus Berlin im Fach Biologie können auch aufgeweckte
Neuntklässler mit Lesekompetenz in weiten Teilen lösen.
Inwiefern trägt die Kompetenzorientierung zum
Niveauverlust bei?
Kompetenzen
sind definiert als Fähigkeiten, mit denen sich Probleme lösen lassen, also
ausschließlich über ihren Nutzen. Es geht also nicht mehr um die Sache selbst,
ob sie interessant ist oder einen Wert in sich hat, sondern nur noch darum,
wozu sie uns nützen soll. Das Absinken des Niveaus ist lediglich eine Folge
dieses utilitaristischen Denkens. Wenn also das fachliche Niveau so weit
abgesunken ist, dass man selbst grundlegende Wissensbestände im Abitur nicht
mehr voraussetzen kann, kommt es halt zu derartigen Lesekompetenzaufgaben im
Zentralabitur mit bis zu fünf Seiten Text- und Grafikmaterial, in dem
weitgehend die Antworten enthalten sind. Der neue Abiturient begibt sich in den
von ihm zu bearbeitenden Aufgabenstellungen auf eine Art Ostereiersuche.
Fachwissen ist Schnee von gestern. Damit belastet man sich heute nicht mehr,
das googelt man.
Ist das Ende dieser Entwicklung abzusehen?
Eindeutig
nein. Schuld daran ist die Politik, die nichts anderes im Sinn hat, als die
völlig unsinnigen Forderungen der OECD nach hohen Abiturienten- und
Akademikerquoten entsprechend den Vorbildern Frankreich, Italien, Griechenland
und Spanien umzusetzen. Diese Quoten lassen sich nur durch ein gezieltes
Notendumping erreichen. So erreicht man Quantität auf Kosten der Qualität. Die
Bundesländer scheinen gerade darum zu wetteifern, wer möglichst schnell die
möglichst höchsten Abiturientenquoten generiert, damit sie nicht ins
Hintertreffen gelangen. Die inflationäre Notengebung führt zu inflationären
Bildungsabschlüssen und entwertet diese zunehmend, auch an den Hochschulen.
Schulen und Hochschulen werden auf Druck der Politik zum Zertifizierungsdiscounter
umfunktioniert. Wie sagte dazu ein bekannter Psychologe: Aus Sicht der
Psychologie ist die wundersame Vermehrung der Abiturientenquote auf das oben
bezifferte Niveau bei gleichzeitiger Erhöhung des Resultats die kognitive Form
der alchemistischen Goldherstellung.
Wird heute leichter oder leichtfertiger die
bessere Note gegeben als die schlechtere?
Die
Lehrer werden massiv unter Druck gesetzt. Nur der Lehrer ist ein guter Lehrer,
der möglichst Noten ab „befriedigend“ aufwärts generiert, wobei die Note
ausreichend hier und da auch noch akzeptiert wird. Infolgedessen erhalten
Schüler mit mangelhaften Leistungen ein „ausreichend“, und die Lehrer rücken
aus Gerechtigkeitsgründen die Noten der anderen Schüler ebenfalls nach oben.
Daher auch die ständige Zunahme der Note 1,0 oder sogar besser.
Trägt die langjährige Debatte über die
Aussagekraft von Noten ihren Teil dazu bei, dass Noten, gerade sehr gute, heute
inflationär vergeben werden?
Natürlich.
Zerreden können sie alles, auch sinnvolle Dinge. Teile der Reformpädagogik
wollen die Noten nach dem Vorbild Schweden am besten ganz oder möglichst bis
zur 10. Klasse komplett abschaffen oder propagieren aus Liebe zu den Kindern
das, was der ehemalige Kultus- und Wissenschaftsminister Mathias Brodkorb (SPD)
aus Mecklenburg-Vorpommern als Kommunismus für die Schule bezeichnet hat: den
Verzicht auf jedwede Form einer vergleichenden Notengebung zugunsten von
individualisierten Lernfortschrittsberichten und damit die Verabschiedung des
Leistungsprinzips aus der Schule. Schweden führt anscheinend den fulminanten
Absturz im Pisa-Ranking darauf zurück und rudert bereits wieder in die
Gegenrichtung. Die Schüler haben dort die Schule und den Unterricht in weiten
Teilen nicht mehr ernst genommen.
Was müsste denn geschehen, um die Entwicklung
zu stoppen?
Die
Fehlentwicklung ist nicht zu stoppen, weil niemand sie wirklich stoppen will.
Weder die Eltern noch die Schüler, noch die Öffentlichkeit und schon gar nicht
die Politik ist bereit, hier gegenzusteuern. Letztendlich sind alle zufrieden
mit der Entwicklung, weil erst einmal jeder von immer mehr und immer besser
zertifizierten Bildungsabschlüssen profitiert. Wir befinden uns also im Stadium
einer galoppierenden Inflation der Noten und der Bildungsabschlüsse, und wie es
galoppierende Inflationen so an sich haben, sind die durch nichts zu stoppen,
bis sie gegen die Wand gelaufen sind.
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