17. Dezember 2016

Fachwissen ist Schnee von gestern

Oft könne man bei den Abituraufgaben „zwischen Realität und Realsatire kaum unterscheiden“: Hans Peter Klein erforscht die Inflation der Bestnoten. Lehrer würden „massiv unter Druck gesetzt“, sagt er.
Didaktikprofessor Hans Peter Klein: "Niemand will gegensteuern". Bild: zvg
"Abiaufgaben in Biologie können Neuntklässler lösen", Die Welt, 17.12. von Thomas Vitzthum 

Die Welt: Herr Klein, ist das Abitur heute wirklich leichter als früher?

Hans Peter Kein: Eindeutig ja. Machten 1970 noch keine zehn Prozent eines Jahrgangs Abitur – in der DDR waren es bis 1989 ungefähr 13 Prozent – haben derzeit mehrere Bundesländer die 60 Prozent längst ins Visier genommen. Das geht nur mit einer deutlichen Absenkung der Anforderungen im fachlichen Bereich. Es ist nicht davon auszugehen, dass es in den letzten Jahren zu einer Art Evolutionssprung in der Verbreitung der Intelligenz in der Bevölkerung gekommen ist.

In Berlin haben sich die 1,0-Schnitte in kurzer Zeit vervierzehnfacht. Kann es nicht sein, dass das neue Bildungsbürgertum dafür verantwortlich zeichnet?

Das kann diese Explosion nicht erklären. Wir sind gerade dabei, die Zentralabituraufgaben mehrerer Bundesländer in den Fächern Biologie und Mathematik auf ihr fachliches Niveau hin zu analysieren. Das Ergebnis entspricht dem gesunden Menschenverstand: Je fachlich anspruchsloser die Zentralabiturarbeiten sind, desto höher die Abiturientenquote. Lesekompetenz reicht hier weitgehend aus, um selbst Bestnoten zu erreichen. Und dies trifft auf nahezu alle Fächer zu.

Wieso untersuchen Sie die Arbeiten nicht in allen Ländern?

Weil trotz mehrfacher schriftlicher Aufforderung und Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz die Bildungsministerien in neun Bundesländern mit fadenscheinigen Ausreden nicht dazu bereit waren, uns ihre Zentralabituraufgaben und Lehrerhandreichungen zu Forschungszwecken zu überlassen.

Gehört Berlin dazu?

Berlin gehört leider auch dazu. Die eigenen Abiturarbeiten genau kennend befürchtet man anscheinend eine kritische Berichterstattung. Oft kann man zwischen Realität und Realsatire kaum noch unterscheiden. Die wenigen uns zugespielten Zentralabituraufgaben aus Berlin im Fach Biologie können auch aufgeweckte Neuntklässler mit Lesekompetenz in weiten Teilen lösen.

Inwiefern trägt die Kompetenzorientierung zum Niveauverlust bei?

Kompetenzen sind definiert als Fähigkeiten, mit denen sich Probleme lösen lassen, also ausschließlich über ihren Nutzen. Es geht also nicht mehr um die Sache selbst, ob sie interessant ist oder einen Wert in sich hat, sondern nur noch darum, wozu sie uns nützen soll. Das Absinken des Niveaus ist lediglich eine Folge dieses utilitaristischen Denkens. Wenn also das fachliche Niveau so weit abgesunken ist, dass man selbst grundlegende Wissensbestände im Abitur nicht mehr voraussetzen kann, kommt es halt zu derartigen Lesekompetenzaufgaben im Zentralabitur mit bis zu fünf Seiten Text- und Grafikmaterial, in dem weitgehend die Antworten enthalten sind. Der neue Abiturient begibt sich in den von ihm zu bearbeitenden Aufgabenstellungen auf eine Art Ostereiersuche. Fachwissen ist Schnee von gestern. Damit belastet man sich heute nicht mehr, das googelt man.

Ist das Ende dieser Entwicklung abzusehen?

Eindeutig nein. Schuld daran ist die Politik, die nichts anderes im Sinn hat, als die völlig unsinnigen Forderungen der OECD nach hohen Abiturienten- und Akademikerquoten entsprechend den Vorbildern Frankreich, Italien, Griechenland und Spanien umzusetzen. Diese Quoten lassen sich nur durch ein gezieltes Notendumping erreichen. So erreicht man Quantität auf Kosten der Qualität. Die Bundesländer scheinen gerade darum zu wetteifern, wer möglichst schnell die möglichst höchsten Abiturientenquoten generiert, damit sie nicht ins Hintertreffen gelangen. Die inflationäre Notengebung führt zu inflationären Bildungsabschlüssen und entwertet diese zunehmend, auch an den Hochschulen. Schulen und Hochschulen werden auf Druck der Politik zum Zertifizierungsdiscounter umfunktioniert. Wie sagte dazu ein bekannter Psychologe: Aus Sicht der Psychologie ist die wundersame Vermehrung der Abiturientenquote auf das oben bezifferte Niveau bei gleichzeitiger Erhöhung des Resultats die kognitive Form der alchemistischen Goldherstellung.

Wird heute leichter oder leichtfertiger die bessere Note gegeben als die schlechtere?

Die Lehrer werden massiv unter Druck gesetzt. Nur der Lehrer ist ein guter Lehrer, der möglichst Noten ab „befriedigend“ aufwärts generiert, wobei die Note ausreichend hier und da auch noch akzeptiert wird. Infolgedessen erhalten Schüler mit mangelhaften Leistungen ein „ausreichend“, und die Lehrer rücken aus Gerechtigkeitsgründen die Noten der anderen Schüler ebenfalls nach oben. Daher auch die ständige Zunahme der Note 1,0 oder sogar besser.

Trägt die langjährige Debatte über die Aussagekraft von Noten ihren Teil dazu bei, dass Noten, gerade sehr gute, heute inflationär vergeben werden?

Natürlich. Zerreden können sie alles, auch sinnvolle Dinge. Teile der Reformpädagogik wollen die Noten nach dem Vorbild Schweden am besten ganz oder möglichst bis zur 10. Klasse komplett abschaffen oder propagieren aus Liebe zu den Kindern das, was der ehemalige Kultus- und Wissenschaftsminister Mathias Brodkorb (SPD) aus Mecklenburg-Vorpommern als Kommunismus für die Schule bezeichnet hat: den Verzicht auf jedwede Form einer vergleichenden Notengebung zugunsten von individualisierten Lernfortschrittsberichten und damit die Verabschiedung des Leistungsprinzips aus der Schule. Schweden führt anscheinend den fulminanten Absturz im Pisa-Ranking darauf zurück und rudert bereits wieder in die Gegenrichtung. Die Schüler haben dort die Schule und den Unterricht in weiten Teilen nicht mehr ernst genommen.

Was müsste denn geschehen, um die Entwicklung zu stoppen?


Die Fehlentwicklung ist nicht zu stoppen, weil niemand sie wirklich stoppen will. Weder die Eltern noch die Schüler, noch die Öffentlichkeit und schon gar nicht die Politik ist bereit, hier gegenzusteuern. Letztendlich sind alle zufrieden mit der Entwicklung, weil erst einmal jeder von immer mehr und immer besser zertifizierten Bildungsabschlüssen profitiert. Wir befinden uns also im Stadium einer galoppierenden Inflation der Noten und der Bildungsabschlüsse, und wie es galoppierende Inflationen so an sich haben, sind die durch nichts zu stoppen, bis sie gegen die Wand gelaufen sind.

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