Seit
dem «Pisa-Schock» im Jahr 2000 hat der internationale Schülervergleich nicht
mehr so hohe Wellen geschlagen wie diese Woche. In Bern traten
Erziehungsdirektoren, Bildungsexperten und Lehrer mit finsterer Miene vor die
Presse. Mit «grosser Sorge» würden sie die «desolate Situation» beobachten.
Dabei geht es nicht um die Leistung der Schüler, es geht um den Pisa-Test
selbst. Weil die Daten neu mit dem Computer erhoben werden, seien keine
Vergleiche zu früheren Leistungen mehr zulässig. Der oberste Pisa-Verantwortliche,
der Deutsche Andreas Schleicher, weist die Kritik von sich. Ans Rumpelstilzchen
erinnere ihn der eine oder andere in der Schweiz, sagte er der
«Nordwestschweiz». Nun nimmt er erstmals ausführlich Stellung zur Kritik und
erklärt, warum Singapur in allen Rankings führt. Nein, mit Drill habe das
nichts zu tun.
Pisa-Chef kritisiert unsere Schule, Schweiz am Sonntag, 11.12. von Yannick Nock
Herr Schleicher, die Schweizer
Erziehungsdirektoren kritisieren in einem Brief an die OECD die Verlässlichkeit
der neusten Pisa-Daten. Welche Fehler haben Sie begangen?
Andreas
Schleicher: Die Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Die Studie wurde
gemeinsam mit allen OECD-Ländern konzipiert und durchgeführt. Wir haben mit der
jüngsten, computerbasierten Erhebung den digitalen Übergang vollendet. Das war
unerlässlich. Die Welt hat sich dramatisch verändert. Die Schweizer
Erziehungsdirektoren pochen darauf, die Tests identisch zu halten, damit alles
vergleichbar bleibt. Aber wenn wir das tun, werden die Ergebnisse irrelevant.
Die Jugend liest heute auf dem Tablet, nicht mehr in Büchern. Ausserdem haben
wir methodisch dafür gesorgt, dass die Daten vergleichbar bleiben.
Dennoch gibt es Ungereimtheiten. Wie erklären
Sie sich, dass einzelne Länder wie Korea oder die Türkei in Mathematik 30 bis
40 Punkte schlechter sind als vor drei Jahren? Das entspricht einem kompletten
Schuljahr.
Die
Pisa-Studien wechseln alle drei Jahre ihren Schwerpunkt. Dieses Mal standen die
Naturwissenschaften im Fokus, wie zuletzt 2006. Die Unterschiede zu damals sind
gering, die Daten hochkonsistent. Die Erhebungen zum Lesen und zur Mathematik
muss man vorsichtig interpretieren. Ich habe andere Bedenken: Das Problem ist
vielmehr, dass die Daten so konsistent sind. Die Pisa-Studie weist für die
Schweiz fast die gleichen Resultate aus wie 2006. Und das in einer komplett anderen
Welt. Es braucht mehr Dynamik im System.
Der Lehrplan 21 soll nun alle Lernziele
harmonisieren. Welchen Einfluss kann der Wechsel haben?
Potenziell
einen sehr grossen. Es muss jeder Schule, jedem Lehrer, jedem Schüler klar
sein, was eine gute Leistung ist. Da helfen verbindliche Bildungsziele.
Lehrpläne sind aber nur der erste Schritt. Die Frage ist immer: Wie werden die
Vorgaben in den Klassenzimmern umgesetzt?
Das scheint in der Mathematik gut zu
funktionieren. Wir sind europaweit die Besten.
Darin sind
die Schweizer Schüler traditionell sehr gut, das ist erfreulich, weil es ein
bedeutendes Grundlagenfach ist. Sie lernen nicht nur Theorie und Formeln,
sondern können mathematisch denken und komplexe Probleme kreativ lösen.
Beim Lesen sind unsere Schüler biederer
Durchschnitt. Warum gelingt der Schweiz hier kein Sprung nach vorne?
Wenn
man die Unterrichtszeit im Verhältnis zu den Ergebnissen anschaut, sind die
Leistungen ganz gut. Aber mit dieser Frage kommen wir wieder auf die digitalen
Veränderungen und die Kritik zurück. Vor 10 Jahren gab es keine iPhones, kaum
soziale Medien oder Big Data. Damals konnte man von solchen Entwicklungen nur
träumen. Dieser Veränderung tragt ihr zu wenig Rechnung. Da erwarte ich
deutlich mehr vom Schweizer Bildungssystem.
Welche Rolle spielt die digitale Revolution
in der Entwicklung?
Darüber
sagt die Pisa-Studie weniger aus. Bleiben wir beim Beispiel des Lesens: Die
Quantität des Lesens nimmt zu, allerdings sind die Strukturen, die wir lesen,
heute anders. 140 Zeichen auf Twitter haben nichts mit einem komplexen Text zu
tun. Wie die sozialen Medien die Leseleistungen beeinflussen, darüber streiten
sich die Experten. Umso wichtiger ist der internationale Vergleich, um zu
sehen, welche Bildungssysteme erfolgreich sind und welche nicht.
Welche Hinweise gibt Pisa 2015 an die
Schweizer Bildungspolitik?
Was in
der Schweiz auffällt, ist der Einfluss des sozialen Hintergrunds auf die
Leistung. Die Schweiz hat ein Problem mit der Chancengleichheit. Kinder aus
ärmeren Verhältnissen haben oft mehr Mühe in den Klassen. Den Schulen gelingt
es nicht, diesen Nachteil auszugleichen.
Wer ist uns da voraus?
Die
nordischen Staaten Europas, die meisten asiatischen Bildungssysteme, aber auch
Grossbritannien schaffen es, leistungsschwache Schüler frühzeitig zu fördern.
Da sind vor allem die Lehrer gefragt, die Leistungsdefizite frühzeitig
diagnostizieren und dann eingreifen müssen.
Welche weiteren Schweizer Eigenheiten sind
Ihnen aufgefallen?
Nur ein
kleiner Teil der Schweizer Schüler sieht seine Zukunft in den
Naturwissenschaften. Das ist überraschend und in der heutigen Zeit ein Problem.
Die Naturwissenschaften gewinnen an Bedeutung, das gilt für den Alltag, aber
auch für die Berufswelt.
Besonders Mädchen zeigen wenig Interesse. Wie
lässt sich das ändern?
Es geht
darum, Begeisterung zu schaffen. Der naturwissenschaftliche Unterricht muss
kein trockenes, theoretisches Fach bleiben. Hier sind nicht nur Lehrer, sondern
auch die Eltern gefragt.
Singapur sticht in der neusten Erhebung
hervor, steht in allen drei Kategorien auf Platz 1. Warum?
Das
Resultat ist umso beeindruckender, weil nicht nur die Leistung top ist, sondern
– anders als in der Schweiz – auch die Begeisterung der Schüler für die
Naturwissenschaften sehr gross ist. In Singapur sind Politik und Praxis stark
verzahnt. Es ist ein professionalisiertes System, in dem Lehrer entscheidend am
Design des Unterrichts beteiligt sind. Sie werden nicht bloss als Personen
gesehen, die den Lehrplan umsetzen müssen. In Singapur hat jeder Lehrer etwa
100 Stunden Weiterbildung pro Jahr. Jede Schule unterhält professionelle
Arbeitsgruppen, in denen sie ihren Unterricht gemeinsam vor- und nachbereiten.
Davon können sich auch Schweizer Lehrkräfte etwas abschauen.
Sind die guten Resultate nicht auch darauf
zurückzuführen, dass im asiatischen Raum die Kinder stark von den Schulen und
ihren Eltern gedrillt werden?
Naja,
das sind stereotype Vorstellungen, mit denen wir vorsichtig umgehen müssen.
Wenn es nur Drill wäre, wären sie zwar im Fachwissen grossartig, aber nicht im
Methodenwissen und im Lösen anspruchsvoller Probleme. Sie können komplexes
Wissen besser auf andere Themen übertragen als Schweizer Schüler. Das ist mit
Drill nicht zu erreichen.
Zum Schluss nochmals zu unseren Lehrern: Sie
sprechen wegen der neuen Pisa-Methode von einer «desolaten Situation» und
stellen die Teilnahme am Test infrage. Wie reagieren Sie darauf?
Das ist
die Entscheidung jedes Landes. Jährlich wird unsere Teilnehmerzahl grösser,
aussteigen will keiner.
Haben sich andere Länder über die Daten 2015
beschwert?
Bis
heute habe ich nur Post aus der Schweiz erhalten.
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