13. November 2016

Ziele und Inhalte klar formulieren

Zwei Thurgauer Kantonsräte, Reto Lagler (CVP) und Peter Dransfeld (SP), im Gespräch über den Lehrplan 21.
Wieviel Reform braucht die Schule von morgen? Bote vom Untersee, 11.11.


Nur wenige Kantonsräte unterstützen die Initiative «Ja zu einer guten Thurgauer Volksschule – ohne Lehrplan 21». Zwei von ihnen wohnen am Untersee: Die Ermatinger Reto Lagler (CVP) und Peter Dransfeld (SP) sind zudem Mitverfasser der Interpellation «Lehrerberuf zwischen Traumberuf und Pflichterfüllung», deren Diskussion der Grosse Rat mit deutlicher Mehrheit abgelehnt hat.

Werden Kinder sich selbst überlassen? Wieviel Reform braucht die Schule von morgen? Wer soll dabei mitreden? Im Gespräch mit dem «Bote vom Untersee und Rhein» antworten Reto Lagler und Peter Dransfeld zu Fragen, die mit Blick auf die Abstimmung vom 27. November die Gemüter bewegen.

Wo sehen Sie die Unsicherheiten im Lehrplan 21?
Dransfeld: Der neue Lehrplan enthält viel Sinnvolles, namentlich das Eingehen auf das moderne Leben. Gleichzeitig ist er in vielem fern der Realität, so dass eine schlanke, pragmatische, verständliche und breit akzeptierte Überarbeitung Sinn macht.
Lagler: Ursprünglicher Auftrag war es, Dauer und Ziele der Bildungsstufen mit einem gemeinsamen Lehrplan für die Volksschule zu harmonisieren. Abgeliefert wurde eine Schulreform, die völlig unnötig ein untaugliches pädagogisches Reformprojekt im Lehrplan verankert, das den Herausforderungen der Schule nicht gerecht wird und vor allem bei Schülern und Eltern Verlierer produziert. Wegen des unkoordinierten Sprachenkonzepts und fehlender Jahresziele scheitert dabei nicht zuletzt die angestrebte sinnvolle Harmonisierung. Mit den drei- bis vierjährigen Zyklen wird sogar ein Schulwechsel innerhalb des Kantons schwierig.

Wo sehen Sie die grössten Probleme?
Dransfeld: Die Annahmen, die Bildung sei neu zu erfinden, Kinder seien selbstreflektierend und Lehrer müssten eng geführt werden, sind ebenso unverständlich wie langfädige Formulierungen mit der Aura einer Geheimwissenschaft, die keinen Widerspruch duldet.

Lagler: Der Lehrplan schreibt ein pädagogisches Konzept fest, das Kinder vermehrt selbstorganisiert und individualisiert lernen lässt. Dabei sind viele Eltern schon heute am Anschlag mit Stoffnacharbeiten zu Hause. Dieser Lehrplan lehnt sich an gescheiterte Konzepte aus den USA und Grossbritannien sowie Standards der OECD an. Ob solche Rezepte unserem einzigartigen dualen Bildungssystem gerecht werden, bleibt zu bezweifeln. Zudem wird unsere politische Tradition verletzt, wichtige gesellschaftliche Entscheide breit zu diskutieren und abzustützen.

Statt in Lehrplänen wird der Schulstoff neu in Kompetenzen gebündelt. Wird die Lehrkraft so zum Lerncoach?
Dransfeld: Dass nur noch begleitet wird, wo ein Kind selbständig ist, das macht Sinn. Dieser Lehrplan verkennt aber die zentrale Bedeutung der Lehrperson, die das Kind achtet, fördert und fordert, sondern hier funktioniert die Lehrperson dann nur noch als Lernbegleiter, als Lerncoach. Aus meiner Sicht eine totale Überforderung der meisten Schüler und Lehrpersonen.

Lagler: Der Kompetenzbegriff im LP21 entspringt einem pädagogischen Modekonzept, das unterstellt, wir hätten bisher nur Wissen gebüffelt. Es geht davon aus, dass es keine Wahrheit gibt und Schülerinnen und Schüler sich in eigener Verantwortung ihre eigene Wahrheit, ihre Lerninhalte, ihr Lerntempo konstruieren sollen. Die Lehrperson schafft Lernumgebungen und begleitet. Ein Ansatz, der für Hochbegabte vielleicht interessant ist, alle anderen aber überfordert. Deshalb lehnen viele Kinderärzte den Lehrplan ab. Hinzu kommt eine Tendenz für den Test zu lernen. Trotz vieler Daten wissen Eltern und Lehrbetriebe immer weniger verlässlich, was ein Schüler wirklich kann.

Was erwarten Sie durch die Volksinitiative «für eine gute Volksschule» für den Kanton Thurgau und speziell für den Untersee?
Dransfeld: Wir haben die Chance eines Unterrichts mit Herz und Verstand, der Bewährtes bewahrt, Neues erprobt und junge Menschen aufs Leben vorbereitet. Dies dank einem entschlackten Lehrplan, den der Grosse Rat ebenso effizient verabschieden wird, wie er innert weniger Stunden ein Budget von 2 Milliarden Franken genehmigt. Die Chance für den Untersee ist, dass man bei uns nicht gleich alles glaubt, was aus Frauenfeld kommt.

Lagler: An See und Rhein akzeptiert man nicht unüberlegt alles, was von kantonalen Amtsstuben verordnet wird. Mit einem Ja zur Initiative geht der Lehrplan zur Überarbeitung an die Experten zurück. Von seiner unseligen und unnötigen Reform entschlackt, soll er Ziele und Inhalte der Volksschule klar, verständlich und an die Welt von heute angepasst formulieren.

«Selbstentdeckend» oder «selbstgesteuert lernen», was wäre für Sie persönlich aus Erwachsenensicht ideal, wenn Sie noch zur Schule gingen?
Dransfeld: In sieben Schulen und drei Ländern habe ich als Kind Lehrer erlebt, die mich nahmen wie ich war, förderten, wo ich schwach war, begeisterten, wo ich müde war, laufen liessen, wo ich es konnte und führten, wo ich am schwimmen war, Persönlichkeiten, die sich nicht an Pläne hielten, für mich aber mit ihrem wachen Geist und inneren Feuer Vorbilder bleiben.

Lagler: Am wohlsten war mir, wenn klar war, was zu lernen war. Mit zu vielen «organisatorischen» Freiheiten konnte ich in der Jugend nicht gut umgehen. Ein Privileg war es, auf dem Schulweg und in der Freizeit vieles entdeckend lernen zu können. Vielleicht wäre auch heute etwas weniger Schule etwas mehr: Raum und Zeit, Kind zu sein!

Der Lehrplan enthält keine Aufträge zur Vermittlung spezifischer Haltungen und Einstellungen. Hingegen gehört die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Haltungen und Einstellungen zum Auftrag der Schule. Wie beurteilen Sie dies?
Dransfeld: Die Schule soll unterschiedliche Haltungen vermitteln und Jugendliche anregen, ihre eigene Meinung zu bilden – nicht zwingend jene der Eltern oder Lehrer. 
Grundhaltungen wie die Achtung der Würde des Menschen sind dabei unumstösslich.

Lagler: Bei Erziehungs- und Haltungsfragen ist in erster Linie das Elternhaus gefordert. Für mich ein wichtiger Begriff ist Lebenstüchtigkeit: Mal eine schlechte Note nach Hause bringen – was soll’s! Wenn man wieder aufsteht und die Arbeit sieht, dann kommt man durchs Leben!

Hier am See besuchen vor allem Kinder von deutschen Zuzügern die Schulen in Konstanz. Fürchten Sie mit der Einführung des Lehrplans 21 eine weitere Abwanderung oder gibt es gar eine Zuwanderung?
Dransfeld: Auswärts zur Schule zu gehen, ist eine verpasste Chance für ein stärkendes soziales Umfeld. Gute Schulen und gute Lehrer – gibt es aber beidseits der Grenze.

Lagler: Wenn Eltern ihre Kinder nach Konstanz in die Schule schicken und sie damit ungewollt sozial benachteiligen, dann oft aus Unverständnis für unser duales Bildungssystem, in welchem Berufslehre und Matura gleichermassen einen hohen Wert darstellen. Rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit, die meisten Nobelpreisträger und die meisten Lehrlings-Weltmeister pro Kopf sprechen nicht für noch mehr Umbau unseres Schulsystems nach untauglichen internationalen Standards.

Wie sehen Sie die schulische Zukunft?
Dransfeld: Wir konnten einen offenen Diskurs über Schulfragen angeregen und die Meinungsvielfalt fördern. Schütteln wir das Korsett fragwürdiger Bildungstheorien ab und sagen Ja zur Initiative und damit Ja zu einer fortschrittlichen Schule, der ein offener Geist mehr bedeutet als engstirnige Lehrsätze.


Lagler: Regierungsrätin Monika Knill sagt: «Der Lehrplan ist der Auftrag der Gesellschaft an die Volksschule!» Und genau dies möchte die Initiative sicherstellen. Ein Ja zur Initiative bietet die Chance, dass ein verbesserter und von der Gesellschaft gewünschter Lehrplan die Schule fit für die Zukunft macht. 

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