Wieviel Reform braucht die Schule von morgen? Bote vom Untersee, 11.11.
Nur wenige Kantonsräte unterstützen die
Initiative «Ja zu einer guten Thurgauer Volksschule – ohne Lehrplan 21». Zwei
von ihnen wohnen am Untersee: Die Ermatinger Reto Lagler (CVP) und Peter
Dransfeld (SP) sind zudem Mitverfasser der Interpellation «Lehrerberuf zwischen
Traumberuf und Pflichterfüllung», deren Diskussion der Grosse Rat mit
deutlicher Mehrheit abgelehnt hat.
Werden Kinder sich selbst überlassen?
Wieviel Reform braucht die Schule von morgen? Wer soll dabei mitreden? Im
Gespräch mit dem «Bote vom Untersee und Rhein» antworten Reto Lagler und Peter
Dransfeld zu Fragen, die mit Blick auf die Abstimmung vom 27. November die
Gemüter bewegen.
Wo sehen Sie die Unsicherheiten im Lehrplan
21?
Dransfeld: Der neue Lehrplan enthält viel
Sinnvolles, namentlich das Eingehen auf das moderne Leben. Gleichzeitig ist er
in vielem fern der Realität, so dass eine schlanke, pragmatische,
verständliche und breit akzeptierte Überarbeitung Sinn macht.
Lagler: Ursprünglicher Auftrag war es, Dauer
und Ziele der Bildungsstufen mit einem gemeinsamen Lehrplan für die
Volksschule zu harmonisieren. Abgeliefert wurde eine Schulreform, die völlig
unnötig ein untaugliches pädagogisches Reformprojekt im Lehrplan verankert,
das den Herausforderungen der Schule nicht gerecht wird und vor allem bei
Schülern und Eltern Verlierer produziert. Wegen des unkoordinierten
Sprachenkonzepts und fehlender Jahresziele scheitert dabei nicht zuletzt die
angestrebte sinnvolle Harmonisierung. Mit den drei- bis vierjährigen Zyklen
wird sogar ein Schulwechsel innerhalb des Kantons schwierig.
Wo sehen Sie die grössten Probleme?
Dransfeld: Die Annahmen, die Bildung sei neu
zu erfinden, Kinder seien selbstreflektierend und Lehrer müssten eng geführt
werden, sind ebenso unverständlich wie langfädige Formulierungen mit der Aura
einer Geheimwissenschaft, die keinen Widerspruch duldet.
Lagler: Der Lehrplan schreibt ein
pädagogisches Konzept fest, das Kinder vermehrt selbstorganisiert und
individualisiert lernen lässt. Dabei sind viele Eltern schon heute am Anschlag
mit Stoffnacharbeiten zu Hause. Dieser Lehrplan lehnt sich an gescheiterte
Konzepte aus den USA und Grossbritannien sowie Standards der OECD an. Ob solche
Rezepte unserem einzigartigen dualen Bildungssystem gerecht werden, bleibt zu
bezweifeln. Zudem wird unsere politische Tradition verletzt, wichtige
gesellschaftliche Entscheide breit zu diskutieren und abzustützen.
Statt in Lehrplänen wird der Schulstoff neu
in Kompetenzen gebündelt. Wird die Lehrkraft so zum Lerncoach?
Dransfeld: Dass nur noch begleitet wird, wo
ein Kind selbständig ist, das macht Sinn. Dieser Lehrplan verkennt aber die
zentrale Bedeutung der Lehrperson, die das Kind achtet, fördert und fordert,
sondern hier funktioniert die Lehrperson dann nur noch als Lernbegleiter, als
Lerncoach. Aus meiner Sicht eine totale Überforderung der meisten Schüler und
Lehrpersonen.
Lagler: Der Kompetenzbegriff im LP21
entspringt einem pädagogischen Modekonzept, das unterstellt, wir hätten
bisher nur Wissen gebüffelt. Es geht davon aus, dass es keine Wahrheit gibt
und Schülerinnen und Schüler sich in eigener Verantwortung ihre eigene
Wahrheit, ihre Lerninhalte, ihr Lerntempo konstruieren sollen. Die Lehrperson
schafft Lernumgebungen und begleitet. Ein Ansatz, der für Hochbegabte
vielleicht interessant ist, alle anderen aber überfordert. Deshalb lehnen
viele Kinderärzte den Lehrplan ab. Hinzu kommt eine Tendenz für den Test zu
lernen. Trotz vieler Daten wissen Eltern und Lehrbetriebe immer weniger
verlässlich, was ein Schüler wirklich kann.
Was erwarten Sie durch die Volksinitiative
«für eine gute Volksschule» für den Kanton Thurgau und speziell für den
Untersee?
Dransfeld: Wir haben die Chance eines
Unterrichts mit Herz und Verstand, der Bewährtes bewahrt, Neues erprobt und
junge Menschen aufs Leben vorbereitet. Dies dank einem entschlackten Lehrplan,
den der Grosse Rat ebenso effizient verabschieden wird, wie er innert weniger
Stunden ein Budget von 2 Milliarden Franken genehmigt. Die Chance für den
Untersee ist, dass man bei uns nicht gleich alles glaubt, was aus Frauenfeld
kommt.
Lagler: An See und Rhein akzeptiert man nicht
unüberlegt alles, was von kantonalen Amtsstuben verordnet wird. Mit einem Ja
zur Initiative geht der Lehrplan zur Überarbeitung an die Experten zurück.
Von seiner unseligen und unnötigen Reform entschlackt, soll er Ziele und
Inhalte der Volksschule klar, verständlich und an die Welt von heute angepasst
formulieren.
«Selbstentdeckend» oder «selbstgesteuert
lernen», was wäre für Sie persönlich aus Erwachsenensicht ideal, wenn Sie
noch zur Schule gingen?
Dransfeld: In sieben Schulen und drei
Ländern habe ich als Kind Lehrer erlebt, die mich nahmen wie ich war,
förderten, wo ich schwach war, begeisterten, wo ich müde war, laufen liessen,
wo ich es konnte und führten, wo ich am schwimmen war, Persönlichkeiten, die
sich nicht an Pläne hielten, für mich aber mit ihrem wachen Geist und inneren
Feuer Vorbilder bleiben.
Lagler: Am wohlsten war mir, wenn klar war,
was zu lernen war. Mit zu vielen «organisatorischen» Freiheiten konnte ich in
der Jugend nicht gut umgehen. Ein Privileg war es, auf dem Schulweg und in der
Freizeit vieles entdeckend lernen zu können. Vielleicht wäre auch heute etwas
weniger Schule etwas mehr: Raum und Zeit, Kind zu sein!
Der Lehrplan enthält keine Aufträge zur
Vermittlung spezifischer Haltungen und Einstellungen. Hingegen gehört die
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Haltungen und Einstellungen zum
Auftrag der Schule. Wie beurteilen Sie dies?
Dransfeld: Die Schule soll unterschiedliche
Haltungen vermitteln und Jugendliche anregen, ihre eigene Meinung zu bilden –
nicht zwingend jene der Eltern oder Lehrer.
Grundhaltungen wie die Achtung der
Würde des Menschen sind dabei unumstösslich.
Lagler: Bei Erziehungs- und Haltungsfragen
ist in erster Linie das Elternhaus gefordert. Für mich ein wichtiger Begriff
ist Lebenstüchtigkeit: Mal eine schlechte Note nach Hause bringen – was
soll’s! Wenn man wieder aufsteht und die Arbeit sieht, dann kommt man durchs
Leben!
Hier am See besuchen vor allem Kinder von
deutschen Zuzügern die Schulen in Konstanz. Fürchten Sie mit der Einführung
des Lehrplans 21 eine weitere Abwanderung oder gibt es gar eine Zuwanderung?
Dransfeld: Auswärts zur Schule zu gehen, ist
eine verpasste Chance für ein stärkendes soziales Umfeld. Gute Schulen und
gute Lehrer – gibt es aber beidseits der Grenze.
Lagler: Wenn Eltern ihre Kinder nach Konstanz
in die Schule schicken und sie damit ungewollt sozial benachteiligen, dann oft
aus Unverständnis für unser duales Bildungssystem, in welchem Berufslehre und
Matura gleichermassen einen hohen Wert darstellen. Rekordtiefe
Jugendarbeitslosigkeit, die meisten Nobelpreisträger und die meisten
Lehrlings-Weltmeister pro Kopf sprechen nicht für noch mehr Umbau unseres
Schulsystems nach untauglichen internationalen Standards.
Wie sehen Sie die schulische Zukunft?
Dransfeld: Wir konnten einen offenen Diskurs
über Schulfragen angeregen und die Meinungsvielfalt fördern. Schütteln wir
das Korsett fragwürdiger Bildungstheorien ab und sagen Ja zur Initiative und
damit Ja zu einer fortschrittlichen Schule, der ein offener Geist mehr bedeutet
als engstirnige Lehrsätze.
Lagler: Regierungsrätin Monika Knill sagt:
«Der Lehrplan ist der Auftrag der Gesellschaft an die Volksschule!» Und genau
dies möchte die Initiative sicherstellen. Ein Ja zur Initiative bietet die
Chance, dass ein verbesserter und von der Gesellschaft gewünschter Lehrplan
die Schule fit für die Zukunft macht.
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