Der letzte Elternabend in der Klasse meines Sohnes wird vermutlich
in die Annalen eingehen. Ich habe selten so viele aufgebrachte und ratlose
Eltern in einem Raum gesehen. Und die Lehrer taten mir fast ein bisschen
Leid, da sie sich und ihr System (das ja nicht ihre Idee war) gegen
so viel Widerstand verteidigen mussten. Der Grund für all dieses böse Blut
nennt sich ADL, altersdurchmischtes Lernen. Seit dem Sommer
besuchen meine Kinder altersdurchmischte Klassen, in denen
Viert-, Fünft- und Sechstklässler parallel unterrichtet werden.
Null Plan dank Wochenplan, Der ganz normale Wahnsinn, Schweizer Illustrierte, 24.11. von Sandra C.
Gearbeitet wird mit einem Wochenplan, der in den Grundzügen für
alle gleich aussieht. Abweichungen gibts natürlich bei den Lernzielen, die
für Sechstklässler anders sein müssen als für Viertklässler, und je
nachdem auch beim Stundenplan. So haben die Viertklässler noch
kein Französisch, dafür eine Stunde mehr Englisch als die beiden
anderen Klassen. Die Viertklässler sind also in zwei Englischklassen
eingeteilt, eine in ihrer Altersklasse und in einer Altersdurchmischten,
gemäss ihrem Können. Hausaufgaben sollen von den Zehn- bis
Zwölfjährigen selbstständig in den Wochenplan eingetragen werden,
sie sollen selbst entscheiden, was sie wann lernen - und
das entsprechende Material jeweils mit nach Hause nehmen - und am
Freitag alles abgeben. Grundsätzlich sollten Vierklässler 40 Minuten
Hausaufgaben machen pro Tag, Fünftklässler 50, Sechstklässler 60.
So weit, so gut, und ich sehe je länger je mehr einige Vorteile in
diesem System. Meine Kinder sind zwar nicht in der gleichen Klasse, haben
aber öfter am gleichen Tag Prüfungen zum gleichen Thema, die Grosse hat
einfach ein paar Lernziele mehr. Ich kann also mit beiden
zusammen lernen, oder sie üben gemeinsam, wovon beide profitieren.
Für meine Tochter funktioniert das ganz gut. Sie weiss, was sie
wann können und abgeben muss, bittet um Hilfe, wenn sie welche braucht,
und wenn sie - was oft passiert - mit ihrem Passwort nicht auf die
Online-Plattform kommt, auf der sie Franz- und Englisch-Voci üben soll,
ruft sie eine Freundin an, die ihr das Ganze kopiert und zuschickt.
Aber dann gibts ja auch noch Kinder wie meinen Sohn. Der ist total
verloren. Und mir gehts ehrlich gesagt manchmal nicht viel anders. Ich
sehe mir diesen Wochenplan an und diese Arbeitsblätter, sehe Zahlen und
Abkürzungen und verstehe nur Bahnhof. Am Schlimmsten ists mit
Englisch. Da er in zwei verschiedenen Klassen ist, kann er
mir meistens nicht mal sagen, welche Lehrerin für welche Prüfung
zuständig ist, geschweige denn, wo man den Stoff findet, den er können
müsste. Natürlich darf man in der Schule davon ausgehen, dass die Kinder
halbwegs mitbekommen, was gesagt wird, und sich auch mal das eine
oder andere aufschreiben. Aber das Hirn meines Sohnes - und ich gehe davon
aus, dass er da bei weitem nicht der einzige ist - funktioniert sehr
selektiv. Er merkt sich nur wichtige Dinge. Zum Beispiel, wann es Pizza
zum Mittagessen gibt. Englisch wird erst wichtig, wenn die Prüfung
kurz bevorsteht. Und da kramt er dann irgendwas aus seinem Rucksack und
vermutet, das sei wohl das, was er können müsse. Meistens handelt es sich
dabei um ungefähr vier Vokabeln.
Ich versuche dann also, die Lehrerin ausfindig zu machen, die für
die Prüfung zuständig ist, und an Informationen über den Stoff zu kommen,
und hoffe, das klappt in halbwegs nützlicher Zeit. Wenn er nämlich den richtigen
Stoff übt, ist er meist relativ rasch durch und hat eine gute Note.
Leider kommts immer wieder vor, dass wir das Falsche üben, und die
Note ist dann entsprechend frustrierend. Bei den Hausaufgaben ists oft
ähnlich. Ich verbringe meine Nachmittage nicht damit, meinem Sohn den
Stoff zu erklären - das kapiert er selbst - sondern
herauszufinden, was er überhaupt machen und können muss und wo
ich diesen Stoff finde. Und mir ists langsam peinlich, immer und
immer wieder die Lehrer zu fragen - die ja grundsätzlich nichts für die
selektive Wahrnehmung meines Juniors können.
Ich weiss, man will mit diesem System die Selbstständigkeit der
Kinder fördern und versucht, mehr auf ihre individuellen Bedürfnisse
einzugehen. Aber gerade Letzteres funktioniert halt bei Klassen mit 24
Kindern nur sehr bedingt. Und wenn man ein Kind wie meinen Sohn hat, hat
man genau zwei Möglichkeiten: Entweder man überlässt ihn sich selbst
und den Lehrern, die vermutlich angesichts seines demonstrativen
Desinteresses irgendwann aufgeben, auch wenn sie wissen, dass die
regelmässigen schlechten Noten nichts mit dem zu tun haben, was er
tatsächlich weiss und kann. Oder man investiert täglich sehr viel Zeit und
Energie darin, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ich habe mich für
Letzteres entschieden. Was bedeutet, dass all das, was ich in der Zeit
machen müsste, in der ich versuche, mit den Hausaufgaben meines Kindes
klarzukommen - Haushalt, Job, Freizeit (hahaha!) - auf spätabends
oder aufs Wochenende verschoben werden muss.
Früher haben die Lehrer heute die Hausaufgaben für morgen an die
Tafel geschrieben und man hat sie abgeschrieben. Für Prüfungen gabs
Übungsblätter und Bücher mit Seitenzahl-Angaben, und wer das im Griff
hatte, hats gekonnt. Ob das besser wäre? Vielleicht nicht. Aber momentan
würde es mein Leben um einiges einfacher machen.
PS: Das ist im Fall ein reiner Tatsachenbericht, kein Gejammmer -
oder nur ein ganz kleines bisschen ...
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