Wenn von «Bildungsoffensiven» an Schulen und Universitäten die Rede ist,
geht es gemeinhin um eine möglichst gut verwertbare Ausbildung. Der
ursprüngliche Bildungsgedanke der Aufklärung verschwindet dabei zusehends aus
der Diskussion.
Ein Potenzial für alle Fälle, Wochenzeitung, 15.9. von Daniel Stern
Kinder aus der Unterschicht werden an den Schulen systematisch
benachteiligt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Verrückt ist aber, dass sich bis
heute daran kaum etwas geändert hat. Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit
Stamm hat kürzlich in einem Papier unter dem Titel «Arbeiterkinder an die
Hochschulen!» dargelegt, wie die typische Schulkarriere eines Arbeiterkinds
nach einer selbsterfüllenden Prophezeiung ablaufe: Viele LehrerInnen gingen
davon aus, dass Kinder aus der Unterschicht einfach schlechter sein müssten.
Demzufolge bekämen sie bei gleicher Leistung tiefere Noten als Kinder aus
Akademikerkreisen. Das sowieso schon meist verminderte Selbstwertgefühl der
Arbeiterkinder werde dadurch weiter geschwächt, was ihre Leistung zusätzlich
beeinträchtige. Sie würden dann sehr schnell eine missratene Prüfung mit
mangelnder Begabung erklären und schulischen Erfolg mit Glück. Akademikerkinder
dagegen würden von ihren Eltern systematisch gefördert und schon früh auf eine
erfolgreiche schulische Karriere vorbereitet.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat bereits in den sechziger
Jahren das Bildungsgefälle mit dem unterschiedlichen Habitus der einzelnen
gesellschaftlichen Klassen erklärt. Jede Klasse habe etwa ihren eigentümlichen
Lebensstil, spezifische kulturelle Gewohnheiten, einen eigenen Sprachgebrauch
und einen speziellen Geschmack. Wer mit dem Habitus der Oberschicht in einer
Bildungseinrichtung aufkreuze, sei von Anfang an im Vorteil. Bourdieu schreibt
von «Sanktionen», die das Bildungssystem über die «unterprivilegierten Klassen»
verhängt, weil sie nicht den passenden Habitus verinnerlicht haben. Dadurch
werde die Struktur der Klassenbeziehungen verfestigt.
Margrit Stamm macht in ihrem Papier Vorschläge, wie das Gefälle
überwunden werden kann. Sie lassen sich auf einen Nenner bringen: «fördern,
fördern, fördern». «Intellektuell begabte und interessierte Arbeiterkinder»
bräuchten «Herausforderungen und Ermutigungen». Es brauche Förderprogramme ab
dem Kindergarten und «Potenzialanalysen».
Der Wettbewerbsstaat
Auch die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern spricht von Potenzial: In
der Wochenzeitung «Zeit» forderte sie kürzlich Intelligenztests für tendenziell
benachteiligte SchülerInnen. So liesse sich feststellen, «was ihr wirkliches,
aber noch ungenutztes Potenzial ist». Das Sprachrohr des Bildungsbürgertums
betitelt seine Story ganz klassenkämpferisch mit «Sprengt die
Akademiker-Elite!» und bezeichnet die Privilegierung von Kindern aus höheren
Schichten als «Skandal» – nicht nur, weil damit junge Menschen aus der
Mittel- und Unterschicht um ihre Aufstiegschancen gebracht würden, sondern
auch, weil die Schweiz damit ihr «intellektuelles Potenzial» nicht ausschöpfe.
Die Zahl der GymnasiastInnen sei nicht zu erhöhen, sondern es müssten endlich
die Richtigen, also die Intelligentesten, dorthin gelangen. Alles andere sei
ein «volkswirtschaftlicher Blödsinn».
An dieser neu entfachten Diskussion fällt auf, dass die Forderung der
Chancengleichheit mit ökonomischen Argumenten vermischt wird. Es geht um das
«Potenzial» des Nachwuchses, das besser ausgereizt, sprich für die Wirtschaft
verwertbar gemacht werden soll. Geht es im Grund gar nicht um die Aufweichung
von Ungerechtigkeiten? Sondern geht es vielmehr um die Volkswirtschaft Schweiz,
die Betriebe in diesem Land, die das ganze «Potenzial» der aufwachsenden
Generation abschöpfen soll?
Tatsächlich ist in der Schweiz seit geraumer Zeit von einer
«Bildungsoffensive» die Rede, bei der etwa das «Potenzial» ausgeschöpft und
damit der «Standort Schweiz» gestärkt werden soll. Solchen Argumenten liegt ein
Wettbewerbsdenken zugrunde. Staaten stehen nach dieser Logik immer in
Konkurrenz zueinander, wobei sich der eigene Staat zu behaupten habe. Auch für
Bundespräsident Johann Schneider-Ammann ist Bildung der Schlüssel des
«Werkplatzes Schweiz». Kürzlich verlangte er eine Verschärfung der
Maturaprüfung, was sowohl von der Konferenz Schweizerischer
GymnasialrektorInnen wie von der Rektorenkonferenz der schweizerischen
Hochschulen umgehend begrüsst wurde. Es soll nicht mehr möglich sein, Defizite
in Sprache und Mathematik mit guten Leistungen etwa in Musik und Sport zu
kompensieren – lieber weniger MaturandInnen, dafür «bessere». Die
Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren will denn auch die
Maturitätsprüfungen «harmonisieren» und die Anforderungen an Mathematik und
Erstsprache «präzisieren». Es geht also nicht um ein allgemeines Anheben des
Bildungsniveaus, sondern um eine sehr spezifische Auswahl der «Besten», die
über Qualifikationen verfügen, die sich gut verwerten lassen.
Der ehemalige Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand brachte diese
Tendenz kürzlich am Swiss Economic Forum auf den Punkt, als er behauptete, dass
der derzeitige Lehrplan der Schulen wie aus der Zeit der ersten industriellen
Revolution aussehe. Um für die laufende vierte industrielle Revolution
gewappnet zu sein, brauche es mehr: Jedes Kind müsse programmieren lernen. Es
werde künftig nicht nur Firmen, sondern ganze Länder geben, die technologisch
überholt und abgehängt würden.
Haltungen sind Nebenaspekt
Was Schneider-Ammann durch die Blume sagt, bringt Hildebrand unverhohlen
zum Ausdruck: Es geht hier nicht um Bildung, sondern um Ausbildung und deren
anschliessende ökonomische Verwertung. Bildung wurde im Zeitalter der
Aufklärung als Aufgabe verstanden, ein ganzer Mensch zu werden, einen Charakter
und eine Persönlichkeit auszubilden. Wissen, das man sich aneignete, hatte
nicht primär einen unmittelbaren Zweck zu erfüllen. Der Mensch sollte sich
selber bilden und verändern, damit er als selbstbestimmtes Individuum die
Gesellschaft mitgestalten kann. Bildung war also dazu da, den Menschen zur
Vernunft und Mündigkeit zu führen.
Natürlich ist dieser Bildungsbegriff primär eine schöne
Wunschvorstellung und war schon damals mehr eine Vision als eine im grossen
Stil umgesetzte Realität. Und wenn, dann war diese Form von Bildung immer
primär für die Oberschicht gedacht. Der Bildungsbegriff ist denn auch eng
verknüpft mit dem im 18. und 19. Jahrhundert aufstrebenden
Bildungsbürgertum, das sich primär über seine Bildung – gerade eben auch
im weiter gefassten Sinn – definierte und sich einen entsprechenden
elitären Habitus aneignete. Ein egalitärer Ansatz war das nie. Doch dieser
Bildungsbegriff hat sich zumindest bis heute erhalten und findet sich der Spur
nach immer noch in Lehrplänen und Leitbildern von Schulen und Universitäten.
Auch der viel diskutierte Lehrplan 21, der die Volksschule der
Kantone harmonisieren soll, beinhaltet noch Elemente des ursprünglichen
Bildungsbegriffs. So soll über «Haltungen und Einstellungen» etwa zu Politik,
Lebensstil oder Konsum «nachgedacht und diskutiert» werden. Allerdings ist das
ein Nebenaspekt: Im Kern geht es um «Kompetenzaufbau», «Leistungsorientierung»
und eine einheitlichere Messung dieser Kompetenzen und Leistungen.
Bildung als Zombie
Die Tendenz zu Kompetenzorientierung in der Bildung degradiere
Bildungseinrichtungen zu «marktorientierten Servicezentren», schreibt der
Erziehungwissenschaftler Ludwig Pongratz: Der Begriff «Kompetenz» beinhalte
bereits Konkurrenz und Wettbewerb. Der Publizist und Philosoph Konrad Paul
Liessmann sieht in den aktuellen Bildungsreformen eine Orientierung an
«externen Faktoren wie Markt, Beschäftigungsfähigkeit, Standortqualität und
technologische Entwicklung», wie er in seinem Buch «Theorie der Unbildung»
schreibt. Der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen und klassische
Bildungsgüter sei zu einer Tugend geworden. Der Einzelne soll «rasch, flexibel
und unbelastet von ‹Bildungsballast› auf die sich stets ändernden Anforderungen
der Märkte reagieren» können. So bewege sich die hiesige Gesellschaft nicht auf
eine Wissensgesellschaft zu, sondern auf eine Kontrollgesellschaft. Dabei werde
niemandem etwas befohlen, es sei eine Herrschaft durch Selbststeuerung in Gang.
Der Ökonom Oliver Fohrmann nennt das in seinem eben veröffentlichten
Buch «Im Spiegel des Geldes» eine «zombifizierte Bildung». Bildung, wie sie
ursprünglich verstanden worden sei, habe sich in einen Untoten verwandelt. Als
Bildung verkleidet, wandle tatsächlich ein «Geldgeist» umher; denn die Schulen
und Universitäten seien vom System der Wirtschaft «unterwandert» worden. Es
gehe eben nicht mehr darum, dass die SchülerInnen lernten, zu erkennen und frei
zu bestimmen, wer sie sein möchten, sondern darum, «alles und noch sich selbst
als geldwerte Ressource zu verstehen». Die Schulen hätten also die Aufgabe, die
SchülerInnen auf ihr Leben als ProduzentInnen und KonsumentInnen zu
konditionieren, statt ihnen Wissen und Einsichten darüber hinaus zu
ermöglichen.
Für den Erziehungswissenschaftler Fitzgerald Crain müssen Bildung und
Ausbildung Hand in Hand gehen. Der gesamte Stoff, der in Schulen, Berufsschulen
und Unis vermittelt werde, könne zu Bildung werden, schreibt er in der
Zeitschrift «vpod bildungspolitik». Bildung sei ein Verhältnis zwischen
Lernenden, Lehrpersonen und Lerngegenstand, das Neugier und lebendiges
Interesse wecke. Diese Form von Bildung entziehe sich der Messbarkeit. «Wenn
Unterricht einen Bildungsprozess ermöglicht, stärkt dies die persönliche
Autonomie und Freiheit des Menschen», schreibt Crain.
Für Crain ist Bildung eng mit gesellschaftlicher Entwicklung verknüpft.
Die Linke müsse sich fragen, wie sich linke Bildungspolitik in einer Welt
realisieren lasse, die sich um «return of invest» drehe, in der weltweite
Konkurrenz herrsche und die Menschen vorwiegend als Kostenfaktoren betrachtet
würden. Vergleichende und flächendeckende Leistungsmessungen würden
stellvertretend für eine Bildung stehen, die zu reiner Ausbildung verkommen
sei.
Das Potenzial zur Subversion
Wer von Bildungspolitik spricht, muss also auch über gesellschaftliche
Visionen reden. Die Tendenzen der aktuellen Bildungspolitik beinhalten
Zukunftsvorstellungen, die von einer Weiterführung und Zuspitzung des
bestehenden wirtschaftlichen Systems ausgehen. Einzelne müssen sich in dieser
Logik vermehrt behaupten und durchsetzen. Sie sollen mit den nötigen
Kompetenzen ausgestattet werden, um im Wettbewerb zu bestehen, aber auch, um
Unternehmen und den Staat in Konkurrenz zu anderen Unternehmen und Staaten zu
stärken.
Diese Zukunftsvision ist verheerend. Denn das Wettbewerbssystem löst
keine Probleme, sondern schafft immer neue. Es braucht ganz im Gegenteil mehr
Solidarität und Kooperation, um globalen Problemen wie der Erderwärmung
entgegentreten zu können, die im Rahmen des Wettbewerbssystems verursacht
worden sind. Das Bildungssystem müsste sich darauf fokussieren, neben der
Vermittlung von Wissen und Können Raum zu schaffen, damit Schülerinnen und
Studenten ihre Persönlichkeit ausbilden können. Es braucht einen
Bildungsprozess, der «die persönliche Autonomie und Freiheit des Menschen
stärkt», wie Crain schreibt. Die Schüler und Studentinnen sollen also nicht in
ein System gezwängt werden, in dem sie bestens ökonomisch verwertbar
funktionieren, sondern sie sollten dazu befähigt werden, so ein System zu
hinterfragen.
Auch wenn der Trend an den Schulen und Universitäten genau in die andere
Richtung läuft, resignieren sollte man deswegen nicht. Bildungsreformen
umzusetzen, ist kein einfaches Unterfangen. Vieles lässt sich nicht so einfach
von oben herab verordnen. Die in dieser Beilage vorgestellten Projekte an
öffentlichen Schulen zeigen, dass es Spielräume für andere Bildungsprozesse
gibt, die nicht auf reines Leistungsdenken ausgerichtet sind.
Lehrerinnen und Dozenten sind auch nicht einfach blosse
BefehlsempfängerInnen von staatlichen Verordnungen. Wie sie ihr Verhältnis zu
den Lernenden gestalten, liegt immer noch zu einem grossen Teil in ihrer
Verantwortung. Der Staat kann nicht in jedes Schulzimmer und jeden Seminarraum
blicken. Lehrpersonen haben im Unterricht viele Gestaltungsmöglichkeiten und
können Schwerpunkte setzen, die der Persönlichkeitsentwicklung dienen und die
Solidarität und Kooperation zwischen den SchülerInnen fördern.
Nicht unterschätzen sollte man auch die Schülerinnen und Studenten
selber. Sie sind ja nicht einfach zu programmierende Maschinen, sondern
entwickeln auch ausserhalb der Bildungsinstitutionen eine Persönlichkeit und
Autonomie. Das tragen sie wiederum in die Schule und Universität hinein. So
gesehen sind sie nicht einfach nur ein grosses Potenzial, das die «Wirtschaft»
und der Staat für sich vereinnahmen können, sondern, das zeigt die Geschichte,
immer auch ein grosses Potenzial für gelebte Subversion und vielfältigen
Widerstand gegen das von oben verordnete System.
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